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An einer Ecke der wirklich königlichen Königsallee zu Düsseldorf stand ein kleines einstöckiges Haus, geputzt, weiß wie ein unbeschriebenes Blatt und auch in dem Baustil unbeschrieben, es hatte außer Türen, Fenstern und Pfannen nichts aufzuweisen, aber dieses kleine Haus war das bedeutsamste Haus für die ganze westdeutsche Industrie, in diesem Hause waren die wichtigsten Entscheidungen der Industrie gefallen. Eröffnet hatte dieses glänzende Häuschen der Meister Türnagel; eine glänzende Kocherfahrung und eine unvergleichliche Weinzunge trat mit Türnagel durch die Türe und machte binnen wenigen Jahren das Haus zum Gast- und Rasthaus für die Industriellen, welche geschäftlich gerne in die damalige Gartenstadt fuhren. Der flinke Türnagel fuhr nach 20 Jahren aus dem Hause mit einem Sack voll Geld, und an seiner Stelle musterte der dicke Meister Adams die Küchentöpfe und roch am Weinpfropfen, es blieb alles musterhaft. Auch Adams fuhr ab mit einer dicken Stange Gold, und Meister Küppers ergriff das Zepter.
Am letzten langsam abbrennenden Ende eines schönen Tages war nicht nur das kleine Haus, das ja immer inwendig kribbelte wie ein Ameisenhaufen, besonders unruhig, selbst über alle Gewohnheit heraus, – die ganze Nachbarschaft war in Bewegung; es standen merkwürdige Haufen von Menschen in der Straße, lösten sich auf und banden sich wieder zusammen, Herren kamen, sprachen mit den Kellnern und gingen, es war, als sei das Haus von Detektivs umstellt.
Das weiße Haus bestand an seiner Langfront aus einem einzigen Saal, der kaum den Namen verdiente, er war schmal und zehn Meter lang.
In diesem Saal saßen fünfzehn führende Männer der Industrie und bauten den Stahlbund.
Man saß ziemlich eng zusammen, und die Türe zu dem noch kleineren Zimmer an der Schmalseite des Hauses brachte kaum genügend Luft herein, um den Dampf der Zigarren etwas zu zerblasen.
Alle tranken Wasser oder Kaffee, nur Kamp, der Generaldirektor des Phoenix, ließ sich seinen Abendschoppen nicht rauben.
Der kleine, sehr ruhige Servaes, der führende Mann der »Rheinischen Stahlwerke«, präsidierte.
Alle Werksleiter waren da außer Krupp, den sein erster Direktor Geheimrat Jencke vertrat, und dem Franzosen de Wendel, der immer durch seine Direktoren sich ersetzen ließ.
Alle fünfzehn Werke waren vertreten, welche Hochöfen oder Stahlwerke hatten.
Servaes klopfte mit dem Bleistift auf und bat, das abgeänderte Statut zu lesen. Es zerfiel in zwei Abschnitte, welche die A-Produkte und die B-Produkte behandelten.
Kamp sprach zunächst; mit einer dröhnenden Stimme wandte er sich dagegen; man kannte seine Stellungnahme; denn er hatte sie in Zeitungsaufsätzen schon festgelegt, in denen er sich von allgemeinen sittlich-politischen Gesichtspunkten gegen jede Syndizierung aussprach – die Versammlung nahm beides nicht allzu tragisch auf; man wußte, daß die entscheidenden Großaktionäre des Phoenix für die Syndizierung gewonnen waren und entschlossen waren, den leicht leidenschaftlichen und selbstherrlichen Generaldirektor durch Aufsichtsratbeschluß zu zwingen.
Emil Kirdorf in der äußeren Erscheinung eines eleganten Reitergenerals und August Thyssen, der außer einer Nase, welche aus drei nebeneinander sitzenden, roten, geschwollenen Knöpfen bestand, nichts Auffallendes an sich hatte und ganz unscheinbar aussah, beantragten, die Beteiligungsziffer nach der Produktionskraft des laufenden Jahres festzulegen, stießen aber sofort auf Widerstand.
Krupp und die Gutehoffnungshütte verlangten als Maßstab den Durchschnitt der letzten drei Jahre, es waren die alten konservativen Werke, welche eine stille, stetige Entwicklung hinter sich hatten.
August Thyssen erhob sich, er legte zum erstenmal seine Ziffern vor und beanspruchte ein Kontingent von 720 000 Tonnen. Die Überraschung war maßlos. Das war eine Ziffer, welche derjenigen Krupps und der Gutehoffnungshütte zusammen fast gleichkam. Man ersah zum ersten Male, welche ungeheure wirtschaftliche Macht dieser unscheinbare kleine Mann zusammengebracht hatte, dessen industrielle Laufbahn mit 600 Talern begann. Es gab einige Jahre, in denen sein Stern so heftig schwankte, daß die Kenner glaubten, er werde explodieren und in ein Nichts zersprengt werden, aber der kleine Mann hatte in diesem Augenblick seinen gesamten Besitz an nördlichen Zechen an den preußischen Bergfiskus verkauft und sich mit einem Schlage aus allen Bankschulden befreit. Man erzählte davon eine komische und bezeichnende Anekdote. Als die Geheimräte, welche den Ankauf abgeschlossen hatten, nach Berlin zurückgekehrt waren, entdeckte das Ministerium, daß der gesamte Grundbesitz, welcher sich um die verkauften Zechen lagerte und für die Zechen eine Notwendigkeit war, nicht in den Verkaufsurkunden genannt und enthalten war – die Geheimräte sausten mit dem nächsten Schnellzuge zurück und legten Herrn Thyssen das »Versehen« dar und erwarteten als selbstverständliche Ausführung und Ergänzung des Vertrages die nachträgliche Einbeziehung der wertvollen Güter und Höfe, doch Thyssen schien über dieses Ansinnen sehr verwundert; man bot ihm alle in Preußen vorhandenen Titel und Orden, doch August Thyssen erklärte, darauf keinen Wert zu legen. Mit Millionen mußten die absolut zur Entwicklung notwendigen Güter noch hinzugekauft werden.
So zog sich die Beratung stundenlang hin. Draußen warteten die geheimnisvollen Männer.
Es waren Agenten, welche ihren Firmen und Banken den Ausgang der wichtigen Versammlung zu melden hatten, Eisenhändler, welche sich Waren für hunderttausende Mark hatten an Hand geben lassen und nun angstvoll warteten, ob sie ablehnen oder nach Sicherung des Stahlbundes noch in der Nacht telegraphisch die Annahme anzeigen sollten, Männer, deren ganzes Vermögen von der richtigen Erfassung dieser beispiellosen Konjunktur abhing. Die Kellner bekamen hundert und dreihundert Mark, nur damit sie von Stunde zu Stunde über die Stimmung in der Sitzung berichteten, sie waren angewiesen, ganz besonders auf die Schlußworte des Vorsitzenden zu achten, ihnen war eingeprägt, auf bestimmte Sätze zu achten, die in nervenanspannender Weise in der Farbe des Satzes und Tones sich erhöhten, z. B.:
»Ich schließe die Sitzung wenigstens mit Genugtuung.«
»Ich glaube, wir sind sozusagen unter Dach.«
»Ich beglückwünsche Sie, meine Herren, zu dem Ergebnis.«
»Der Stahlbund ist also so gut wie perfekt.«
»Ich fordere Sie zu einem stillen Hoch auf.«
Und so immer in Steigerung bis zu dem Gewichtigen:
»Ich erkläre den Stahlbund hiermit als vollzogen.«
Die Reporter der Zeitungen und Korrespondenzen schwirrten herum wie Bienen, bohrten sich in die Händlergruppen, banden ihnen Märchen auf und lockten damit Richtigstellungen heraus.
Den Vogel aber schoß der Journalist Krawitsch ab. Er hatte sich einen Frackanzug angelegt, im Restaurant unten Essen bestellt und bewegte sich im Hause mit seiner eigenen Serviette unterm Arm zwischen den Kellnern; es war ihm einmal gelungen, in den Saal zu dringen und die wichtige Gralsrunde von Angesicht zu Angesicht zu erblicken, doch als er die Treppe mit der Serviette und einem glattrasierten Oberkellner-Hochmut herunterstieg, entdeckte Meister Küppers ein fremdes Gesicht, stieß ihn gehörig zusammen, untersuchte seine Taschen auf Silberzeug und warf ihn dann heraus. Von da ab betrachtete Krawitsch auch nur von draußen die erleuchteten Fenster.
Kirdorf verhandelte in einer Ecke mit Kamp, dem Vertreter des Phoenix; er bot ihm einen Kontingentzuschlag von 6/10 Prozent. Jencke besprach in der anderen Ecke mit August Thyssen dessen unglaubliche Forderung, welche in ihrer fabelhaften Höhe die ganze Versammlung zu sprengen drohte.
Am Haupttisch unterbreitete Kraforst jetzt seine Forderung, er verlangte 200 000 Tonnen, doch man war über seine Schwierigkeiten hinlänglich unterrichtet und fürchtete seinen Wettbewerb auch außerhalb des Syndikates nicht; die befragten Werksvertreter sprachen von einer Gleichstellung mit der Georg-Marienhütte, also 75 000 Tonnen, höchstens 100 000 Tonnen, jedoch erst nach erwiesener Leistungsfähigkeit des Werkes; nachträgliche Aufholung des Kontingents wurde verweigert.
Die Kellner brachten wieder Wasser, Kaffee und schwere Zigarren herein und erhielten Befehl vom Vorsitzenden, die Türe von draußen zuzumachen. Vor der Türe draußen stand ein Angestellter der Nordwestlichen Gruppe des Eisen- und Stahlvereins und bellte jeden an, der sich der dünnen Tür auf eine Länge näherte, die einem Mikrophon ermöglicht hätte, etwas aufzufangen.
Es war schon zehn Uhr. Da erst erschien Neveling. Er setzte sich mit dem ewig gleichmütigen Gesicht an den Tisch.
Zur Darlegung aufgerufen, verlangte er für die Lothringisch-Rheinische Gesellschaft 450 000 Tonnen.
Diesmal kam es in der ernsten Versammlung zu etwas, was wie ein Gelächter klang. »Büdingen hat im letzten Jahr nach der Statistik 150 000 Tonnen geleistet,« donnerte der Baß von Kamp, »das andre ist Zukunftsmusik.«
»Blechmusik«, sagte der Geheime Kommerzienrat Haarmann, der meist mit »Korl« angeredet wurde.
So ging es Stunden. Man kam langsam weiter. Die Kontingentierung wurde langsam durchgedrückt. Kamp und Thyssen waren zufriedengestellt, Kraforst gab nach.
Die führenden Werke hatten sich bis zwölf Uhr in dieser Nacht an den Vorvertrag gebunden. Wenn bis dahin der Pakt nicht geschlossen war, mußten wieder zehn Aufsichtsräte zusammengeholt werden und Vollmachten aussprechen.
Der Notar arbeitete mit zwei Gehilfen fieberhaft an dem Protokoll, um es zum Abschluß zu bringen, ehe die Uhr die fatale Stunde schlug.
Um 11 Uhr erklärte Servaes die mühselig durchgekämpfte Einigkeit.
Um 11½ war das Schlußprotokoll des Notars fertig.
Der Notar begann die Verlesung.
Um 11,40 Minuten begann die Unterzeichnung.
Als der Reihe nach die Lothringisch-Rheinische Gesellschaft aufgerufen wurde, ergab sich, daß Neveling verschwunden war.
Die Bestürzung war grenzenlos.
Zwei, drei der Industriellen eilten herunter.
Die Kellner erklärten, daß Herr Neveling bezahlt habe und mit Hut und Überzieher verschwunden sei.
Kraforst setzte ihm nach und traf ihn auf der Straße, wo er von dem Schwärm der lauernden Geschäftsleute sich belagern ließ. Er nahm ihn am Arm fest wie einen Häftling und bugsierte ihn die Treppe herauf in den Saal.
»Wollen Sie unterzeichnen oder nicht«, fragte Servaes; selbst diesen ruhigen Mann packte die Erregung und der Zorn.
Neveling hatte den Hut noch auf dem Kopf: »Nicht unter 300 000 Tonnen Rohstahl, meine Herren«, sagte Neveling ganz gemütlich.
Die Versammlung kochte auf, Kamp schlug mit der Faust auf den Tisch: »Dann mag der ganze Krempel brechen.«
Niemand saß mehr. Die eine Hälfte stand um den Notar, die andre ballte sich um Neveling.
Es war sieben Minuten vor zwölf Uhr.
In sieben Minuten liefen die Vollmachten ab, welche die Gesellschaften ihren Leitern ausgegeben hatten.
Man bot 200 000 Tonnen.
Es war vier Minuten vor zwölf.
Neveling sagte kalt: »Auch ich wünsche eine Verständigung und die Aufrichtung des Stahlbundes. Mein letztes Wort ist 225 000 Tonnen.«
Er wandte sich zum Gehen.
Der Minutenzeiger sprang einen Strich weiter.
Es war zwei Minuten vor Zwölf.
Servaes sagte: »Es ist unberechtigt. Ich empfehle trotzdem Annahme.«
Der Notar verbesserte hastig die Ziffern.
Es war eine Minute vor Zwölf.
Neveling setzte sich gemütlich hin.
Als er seinen Namenszug klar hinsetzte, fing die Standuhr an zu rasseln.
Bumm. Mitternacht!
Neveling legte die Feder langsam nieder.
Er hatte ein Mehr von 75 000 Tonnen herausgeschlagen.
Die Versammlung löste sich auf.
Die Teilnehmer waren selbst »aufgelöst«.
Die Sitzung hatte zwölf Stunden gedauert.
Man begann zu tafeln.
Es drang eine gewisse beherrschte Fröhlichkeit durch.
Man erzählte Anekdoten.
»Herr Generaldirektor Kirdorf,« sagte Haarmann, »ik dank ju ok för den Besök in Ossenbrügge. Worom hebt se nich inkieken?«
Ich bin seit Jahren nicht in Osnabrück gewesen, überlegte Kirdorf.
»Ja in ene Nacht – hin un terugge,« sagte Haarmann; »ik heb't hört.«
»Wahrhaftig«, lachte Kirdorf. »In der vorigen Woche war ich hier im langen Verein, fahre um elf nach Hause mit dem Hamburger Schnellzug und schlafe ein. Wie ich erwache, bin ich in einer ganz unbekannten Gegend mit Wäldern und Heiden, der Zug hält und – ich, statt in Gelsenkirchen steige ich aus – – in Diepholz; zum Glück kommt in einer halben Stunde ein Schnellzug von Hamburg. Erbost auf mich selbst steige ich ein, schlafe wieder fest ein und erwache – in Düsseldorf.«
Es war so etwas wie ein Lachen um den Mund der meisten, und Hoesch sagte: »Ich gäbe jährlich 10 000 Mark um den Schlaf.«
»De Gerechte slöpp un de Terechte söpp«, sagte Haarmann gemütlich und schenkte sich ein.
»Diepholz ist immerhin noch nicht Hamburg«, brummte Generaldirektor Kamp und schielte nach dem Geheimen Finanzrat Jencke.
»Rut met dat Dönken,« schrie fast Haarmann, »ik bün Sammler.«
»Herr Geheimrat, wollen Sie es nicht selbst erzählen«, sagte Kamp zu Jencke.
Jencke strich mit zwei Fingern die langen weißen Kotelettes, lächelte, sagte aber nichts.
»Sie kennen doch Brüggemann von Dahlbusch?« fing Kamp an.
Natürlich, sie kannten ihn alle den Dahlbuscher Zechendirektor und seine mit Temperamenten und Extravaganzen ausgestattete Familie.
»Also Brüggemann, Leiter des Kohlenlagers Sternschanze in Hamburg, ladet die daran beteiligten Zechen und besondere Vertreter der Industrie zur Hauptversammlung nach Hamburg ein, darunter Herrn Jencke. Der Sonderzug liest die Teilnehmer auf den einzelnen Stationen auf. In Wanne liegt der Zug 15 Minuten, Brüggemann läuft auf den Bahnsteig und ärgert sich über den Mann mit der roten Mütze, der herauszuholen sucht, welche Bewandtnis es mit dem rätselhaften Zuge habe. Da erscheint die 1 Meter 95 Zentimeter große Figur des Herrn Jencke am Zugfenster, Brüggemann schießt sofort ein Spaß durch den Kopf und er ruft laut Direktor Kleymanns zu: »Ah, Majestät haben sich bereits erhoben!« Der Beamte drückt sich. Der Zug setzt an. Halt in Recklinghausen, um die letzten Kohlenleute aufzunehmen. Der Stationsleiter steht in militärischer Haltung und fragt nach »Befehlen«. In Haltern, Dülmen stehen Vorsteher und alle Assistenten auf dem Bahnsteig und grüßen mit der Hand an der Mütze den durchsausenden Zug. Von Münster ab haben sich die Stationsbeamten in ihre Galamontur geworfen, von Osnabrück ab tauchen alle Orden und Ehrenzeichen auf. In Bremen ist die Station in Aufruhr und in Hamburg umdrängt eine Menschenmasse die stramm dastehenden Eisenbahner zum Erstaunen der Kohlenleute und zum Ergötzen der zwei Wissenden. Erst am anderen Tage in Petris Austernkeller platzte die geheimnisvolle Blase.«
»Das ist das beste Stück aus vielen, welche Brüggemann verbrochen hat«, lachte Kirdorf.
»Ich muß mich verabschieden, Herr Servaes, ich werde mich jetzt drücken,« wandte sich der Kruppsche Finanzrat Klüpfel an den Vorsitzenden Servaes, »sonst hängt sich Haarmann wieder an meinen Rockschoß, er ist gerade herausgegangen.«
»Wie kam er denn da dran?« fragte der ruhige Servaes.
»Denken Sie,« klagt Klüpfel, »nach der letzten Versammlung nehme ich einen Wagen, um die mir befreundete Familie des belgischen Konsuls am Königsplatz zu besuchen; als ich einsteige, hängt ein Kloben an meinem Rockschoß – Korl. Ich muß ihn mitnehmen und er schläft sofort ein. Ich steige am Königsplatz aus, gehe herauf, unterhalte mich mit den Damen eine Weile: plötzlich schlägt im Nebenzimmer einer wütend auf die Tasten und brüllt ein Lied; entsetzt fährt alles auf und ich zittere in Ahnung. Richtig, Korl ist wach geworden, hatte meinen Weg erschnuppert, war in den Musiksalon geraten und hatte sich eingeladen gefühlt, seinen musikalischen Gefühlen ungehindert Leine zu geben.«
»Um Gottes willen, was machten Sie mit ihm?«
»Ich habe ihn herunterkomplimentiert und ihn mit einer Flasche Sekt in den Wagen verstaut; als ich nach einer Stunde kam, schlief er wieder den Kinderschlaf.«
Klüpfel ging und gleich dahinter erschien wieder Korl im Zimmer.
»Korl,« sprach Konsul Hoesch, »wir hören mit Befriedigung, daß Sie neulich in Düsseldorf ein Konzert gegeben haben.«
»Wat? Een Konzert?«
»Ja, im Salon des belgischen Konsuls.«
»Meine Herren,« sprach Haarmann laut und bedächtig, »Korl kann alles. Datt will ik ju verteilen. Da waren in Witten vor 30 Jahren mal zugleich drei tüchtige Kerls: der eine war Schreiber auf dem Büro des Güterbahnhofs, der zweite war Anschläger auf dem Rangierbahnhof, der dritte Kohlenhauer auf Zeche Franziska; der erste wurde der Geheime Kommerzienrat Baare – Fritz Baare, der Sohn nickt – der zweite wurde S. Eminenz Kardinalerzbischof Kopp, und der dritte, der Allerbeste unter ihnen, wurde Geheimer Kommerzienrat und Generaldirektor der Georgs-Marienhütte. Un dat was ju allerwertester Diener un Fründ Korl. Nu Adjüs. Ik drink noch een Beer und düssen Awend giw ik keen Konzert.«
Damit ging er.
»Er ist beleidigt«, meinte Kraforst.
»Gott bewahre,« sagte Kamp, »aber wissen Sie: Tate ist tot.«
Ja, sie hatten es alle gelesen; der Bergwerksdirektor Täte, der einzige vom Bergbau, der einen Buckel trug, war abmarschiert.
»Gott nehme ihn in seinen Himmel«, meinte Kirdorf. »Ich werde seinen schlimmsten Streich nie vergessen: Wir waren im Kohlenklub nach Kettwig gefahren in den Jägerhof zur Jahresversammlung, es war glaube ich i885, und es ging den Zechen recht schlecht. Aber nach und nach stieg die Stimmung bei der guten Bowle, welche unser Wirt, Herr vom Berg, gebraut, hier und da knallte schon ein Pfropfen. Da kam an mich als Vorsitzenden eine Depesche aus Essen, und ich las sie den 5o anwesenden kaufmännischen Zechendirektoren vor; sie lautete: ›Soeben ist der letzte Gewerke Hungers gestorben.‹ Sie können sich unsre Entrüstung vorstellen. Wir rieten auf Albert v. Waldthausen oder v. Galen oder andre Großgewerken, welche durch ihre Sparsamkeit bekannt waren. 30 Jahre später, sozusagen auf dem Sterbebett des Attentäters, kam es heraus: der bucklige Täte, der am feuchtfröhlichsten zwischen uns saß, hatte die Depesche aufgeben lassen. Aber der Tag zerlief in Empörung und Bestürzung.«
»Ach ja,« seufzte Kamp, »Korl ist ja noch da, aber sonst sterben die Originale aus, Brüggemann, Tate, Schrader von Zeche Ewald sind in den Himmel, in eine andere Gegend verzogen.«
»In Dortmund,« sagte Konsul Hoesch, »ist Schrader schon ein Teil der Fredenbaum-Sage wie der Verne-Richter oder der Graf von Dortmund; Sie kennen doch alle die Geschichte? Nein! Nu, es war glaub ich Anno 1894. Das Dortmunder Oberbergamt feierte sein 100jähriges Jubiläum und alles, was mit dem Arsch-Leder zu tun hatte, war da: Hauer, Delegierte bis zum Berghauptmann, Oberberghauptmann und deren oberster Chef der Handelsminister von Berlepsch samt den Präsidenten und Oberpräsidenten der vom Bergbau angeritzten Gebiete. Schluß der Feiern ein Riesenfestmahl auf dem Fredenbaum. Tausend Personen, Musik und Trinksprüche nach genauem Ritus: auf den Kaiser und König, das Oberbergamt, den Bergbau überhaupt, und dann ging es wie eine Flut weiter: auf den schwarzen Diamanten, die Fett-, Flamm- und Magerkohle, die deutsche Frau usw. Man tafelte und die Gespräche der 1000 Menschen überbrüllten die Toaste und sogar die Musik, von der nur noch Hörner und Becken zu hören waren. Auf einmal stand freundlich lächelnd mit roten Backen der Direktor von Zeche Ewald auf dem Podium. Das Festkomitee steckte die weinroten Köpfe zusammen: auf dem Festprogramm stand kein Schrader-Ewald. Nun hatte ja Schrader die dichterische Gabe, beliebig Pentameter und Hexameter auszuspucken und so fing er etwa an:
Gebe die Muse mir Kraft, hier Euch zu sagen,
Was mir im Busen dränget, laut zu verkünden –
Und du, Minister, erhabene Exzellenz
Ihr hohen Präsidenten von der Regierung und Bergamt
Gönnet das Wort zur Tafel auch einem Dichter.
Er tadelte dann gleich anfangs verdächtig die anwesenden Eisenleute, daß sie nicht
verständen, das Leder an der richtigen Stelle zu tragen. Das Komitee sandte ein Mitglied ab, um den
Dichter zu stoppen. Aber das war schwierig: gütliches Zureden von hinten verachtete er, Ziehen an der Hose beantwortete Schrader unten mit Ausschlagen der Hacken – während er oben weiter dichtete – es war unmöglich, den begeisterten Rhapsoden zu dämmen. Wenn er mal fest saß, schob er feststehende Verse ein.
Nicht wag ich es länger das Ohr der Exzellenz zu mißbrauchen
Noch deine Augen zu lenken, du Haupt der Provinz.
Keiner an der Tafel hörte zu, das Tosen der Versammlung verschlang alles. Schrader beklagte dann, daß man alle möglichen Dinge betoastet habe, nur den lederumgürteten Körperteil nicht, mit dem der Bergmann acht Stunden täglich arbeite, und er schloß:
Drum holet Genossen nun nach das lang Versäumte!
Erhebet die Gläser zum Mund. Kurz und barsch!
Glückauf das Bergmannsleder. Glückauf der Arsch.
Die junge Bergpartei, welche um das Dichterpult stand, schrie Glückauf; der Kapellmeister, der von der Rede nichts hörte, hatte darauf gewartet und fiel mit Bläsern und Pauken ein und nun stand die ganze 1000-köpfige Versammlung auf. Der Herr Minister stieß mit dem Oberpräsidenten an; er meinte wohl, es gälte den verbündeten Regierungen und alles brüllte dreimal Glückauf. Als nachher der Trinkspruch bekannt wurde, soll sich Herr von Berlepsch mehrmals geschneuzt haben.«
Diesmal kam es wirklich in der Gesellschaft zu einem lauten Lachen, und Kamp sagte: »An diesem Tage hat sich Freund Schrader um alle Orden gedichtet.«
Tatsächlich« – bestätigte Kirdorf, »als er abging, kam weder Orden noch Schreiben vom Oberbergamt.«
»Das hat ihm aber die Laune in Bonn nicht verdorben«, meinte Hoesch. –
»Meine Herren,« sagte Servaes mit der geschäftlichen Kühle eines lange bewährten Vorsitzenden, »ich muß diese interessante Debatte unterbrechen, unser Zug wartet.«
Auf einem Nebengeleise des Hauptbahnhofes wartete seit 6 Uhr nachmittags der Sonderzug mit abgeblendeten Lichtern. Alle Stunden wurde vom Restaurant Türnagel aus gemeldet, und wieder die Abfahrt eine Stunde später angesetzt.
Um 2 Uhr kamen die Wagen sausend angefahren, und der Zug füllte sich.
Die Industriellen hatten alle den Zwang, am andern Tage in ihren Werken zu sein.
Der Zug bestand nur aus Lokomotive, Tender und Speisewagen. Zugführer, Heizer und Kellner waren schon dreimal im Speisewagen eingeschlafen und wieder erwacht. Jetzt wurde es ernst.
Der Zug zog an und flog mit einem Satz in die Nacht.
Rrrrr die erste Weiche.
Gleich dahinter eine zweite.
Der Wagen bog und ratterte durch den breiten Derendorfer Bahnhof, welcher wie festlich illuminiert schien, tausend weiße, gelbe, rote, grüne Lampen erhellten ihn, sie saßen an Wagen, Fenstern, auf Stangen und Masten und gaben stumme Signale nach allen Seiten, und nach ihren Befehlen rollten tausend Wagen vorbei.
Wieder Nacht.
In Ratingen stand ein einsamer Mann in roter Mütze auf dem Steig, grüßte den Zug und ging wieder in die nächtliche Vorsteherstube, in welcher Morse-Apparate tickten und Hughes-Apparate geheimnisvoll Rollen ausspuckten.
Kohlenzüge bummelten entgegen.
Der Schrankenwärter bei Großenbaum sah den Zug wie ein langes Gespenst vorbeiheulen und dachte im Halbschlaf zwei Stunden nach, wer wohl in diesem sonderbaren Spuk-Zug gesessen habe. Dann stöberte ihn wieder ein Signal auf, und er schloß die Schranken.
Vor Duisburg sprang der Zug durch ein Dutzend Weichen; eine einzige falsch gestellte brachte den Tod – aber drinnen dachte niemand daran.
Am Geleise links öffnete sich eine halbrunde Halle mit zwölf gewaltigen Türlöchern. In jeder Höhle, halb den Leib drinnen, halb ihn draußen, warteten schnaufend zwölf Lokomotiven. Sie standen da wie riesige schwarze Saurier, von Riesen angeschirrt und angeseilt, sie stießen alle Sekunden in einem gewaltigen Atem weißen Dampf aus, der zu einer Wolke zusammenfloß und zum Himmel wölbte.
Die zwölf Bestien standen gebändigt und gezügelt, die Verkörperung einer fabelhaften verhaltenen Kraft, die auf den Fingerdruck eines Menschen wartet, um gehorsam loszudonnern, Züge zu holen, zu ziehen, zu stoßen und eine furchtbare, aber fruchtbare Industrieschlacht zu schlagen.
Ein ohrenbetäubendes Pfeifen und Brüllen des Dampfrosses, Licht schlägt um den Zug.
Duisburg, der Bahnhof.
Zwei, drei Männer setzen aus dem Zuge.
Ein neuer Führer springt auf die Lokomotive.
Weiter.
Von hier ab ist alles ein einziger ungeheurer Bahnhof.
Stadt reiht an Stadt. Ein Bahnhof krabbelt, schiebt sich mit seinen tausend Geleise-Fingern weiter, bis der andere ihn packt.
Dreißig Wegestunden lang ein einziger Bahnhof.
Aller Sekunden knarrt und klirrt wieder eine Weiche.
Dreihundert Weichen bis Dortmund.
Die Weiche öffnet auf den Druck des ersten Vorderrades, des Spursuchers ihre Lippen, läßt den Zug durch und schnappt schmatzend die Lippen wieder zusammen.
Endlos wie ein Paternosterwerk rammeln Kohlenzüge vorbei.
Die dunkle Halle von Oberhausen mantelt den Zug ein. Wieder springen Menschen heraus. Kein Lebewohl, kein Winken. Zeit ist Geld.
Gleich hinter der Bahnhofshalle spreizt die zusammengefaßte Hand der Geleise hundert Finger nach allen Seiten. Zwischen den Geleisen stehen hohe Masten. Sie stehen da wie steife, lange Polizisten auf Winkposten.
Jeder der Polizisten hält ein putzig kleines, verkrüppeltes Ärmchen in die Höhe.
Durchfahrt sagt der eine Arm – der Kohlenzug rappelt wie eine träge lange Schlange durch.
Da läßt einer der Stangen-Polizisten das rechte Ärmchen fallen und hebt links eins in die Höhe.
Halt! Und weit draußen kuschelt irgend so ein langes Biest; sein Kopf hört auf zu fauchen, und ein langer Schweif legt sich geduldig auf die Schienen.
Auf der Blockstation nördlich Oberhausen hocken drei Menschen; sie sitzen da wie Leuchtturmwächter und signalisieren: »Durchfahrt! Halt! Rangiert!« Sie lenken die Züge nach Berlin, Hamburg und Holland. Sie unterbrechen ihre Unterhaltung und sehen den gleitenden Flederwisch an. Er huscht vorbei in einem Bruchteil der Sekunde.
Einer der Leute, ein Techniker-Lehrling, schaut ihm nach: Sah nicht der Fladen aus wie das Farbenband der Sonne hinterm Prisma, welches die Geheimnisse des Lichtes uns verrät und uns zeigt, welche Tiefen in dem unschuldvollen weißen Lichte stecken. Bunte Lampen und Gläser, rote, gelbe, grüne, blaue, violette. Die Fensterstangen waren wie die dunklen Linien; Bunsen und Frauenhof er wären neidisch. Der Techniker ging sinnend und grübelnd wieder an seinen Sitz.
Gelsenkirchen!
Wieder springen Menschengestalten ab.
Schalke glüht auf. Die Hochöfen nebst ihren Hilfsarbeitern, den Winderhitzern stehen fast in einer Reihe, Riesengrenadiere. Oben öffnen sich mechanisch Thursen-Deckel, und eine Lohe schlägt zum Himmel, als wenn ein Vesuv anfängt zu arbeiten – selbst die höchsten Wolken erglänzen noch in roten und Rosa-Lichtern.
An zwei Stellen stoßen in dem Dunkel der Nacht und im Schatten der Eisenplatten unsichtbare Menschen oder Maschinen den kraternden Öfen gewaltige Stangen in das Mutterloch, und ein weißheller Strahl stürzt heraus wie ein Bach.
Der Zug und seine Menschen haben keine Augen für das erhabene Spiel der Technik.
Einer sagt: »Es stinkt hier verdammt nach Phosphor.«
Eine andre Stimme: »Wie ein Haldenbrand. Schalke arbeitet nur mit Lothringer Erzen.«
Wanne!
Von allen Seiten marschieren die Güterwagen an in endlosen Reihen. Am Nachmittag um 4 Uhr hat das Essener Wagenamt alle Berechnungen in Händen.
Der Vorsteher schreibt auf: »3000 ungedeckte Güterwagen, 2000 gedeckte Güterwagen, 9000 Wagen für Eisenmaterial, 34 000 Kohlenwagen, Summa 48 000 Waggons. Los!«
Depeschen fliegen nach allen Seiten, und von 6 Uhr marschieren endlose Heeresmassen von allen Seiten an, sie kommen von Hamburg und Thüringen, von Franken und von Lothringen, von Berlin und vom Mittelrhein. Die Lokomotivführer sehen in die Nacht voran, die Bremser hocken verschlafen in ihrem Wachtausguck. 48 000 Waggons rücken an, eine sich bewegende Masse von 400 Kilometern. Aneinandergekuppelt ginge die gesamte Waggonschlange von Wanne über Bremen, Hamburg bis nach Kiel.
Jede Nacht bollert, glitscht und trampelt ein Zug 400 Kilometer lang heran, er kommt an den Kohlendistrikt heran, wird zerrissen, verteilt, geht in immer kleineren Verästelungen, bis er an die Werke herangeschoben wird.
Zuweilen liegen die Züge vor vollgestopften Kreuzpunkten stundenlang still, dann kommt ein Wink und sie klappern los, grummeln und donnern.
Sie donnern alle ein ruhmreiches Lied von der preußischen Organisation.
Rrrrrumm, Knrrrr – hundert Weichen, Taghelle und Nacht, Nacht und Taghelle, Häuser wandeln im Diorama vorbei, Türme, Schornsteine fallen mechanisch nach hinten, Häuserblocks, Bahnhöfe sitzen auf der Kohlenrutsche – da ist nichts, was still hält und Stand hat.
Ein anderer heller Zug mit Nachtgästen fliegt vorbei. Eine Sekunde sehen sich die erleuchteten Züge.
Sie heulen aneinander vorüber wie zwei Meteore, die von einer unsichtbaren Macht geschleudert, brennend und zischend auf wenige Meter aneinander vorbeisausen und dann in die Nacht hineinfliegen, um weit voneinander zur Ruhe zu landen.
Rumbum – Dortmund.
Das Diorama ist zu Ende.
Die letzten Gäste stapeln müde und verschlafen die zwei Tritte des Wagens herunter, Brauns von der Dortmunder Union, Hoesch und die zwei Generaldirektoren von Hörde. Auch der Osnabrücker Haarmann übernachtet hier; er ist allein noch munter und singt sein Lied »vom Hammerschmied«.
Der Speisewagen ist völlig dunkel.
Die Lokomotive atmet erschöpft.
Sie läßt sich langsam abführen wie ein Vollblut aus dem Geläufe, schweißbedeckt, die Flanken und Nüstern noch heiß vom atemlosen Rennen. – –
Am andern Mittage kurz vor 12 Uhr ließ der Bankier Katz den Vorsteher seiner Effekten-Abteilung kommen und sagte: »Da lesen Sie: Bankdiskont sieben Prozent. Die Menschen sind verrückt. Sie meinen, weil der Stahlbund gegründet ist, geht ohne weiteres der Jubel und Trubel weiter. Die Hochbewegung ist zu Ende. Verkaufen Sie alle unsere Effekten. Natürlich ohne Hast. Aber stoßen Sie ab.«