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Im Osten der Stadt lag das gewaltige Walzwerk der Familie Kraforst, und im Osten des Werkes auf einem Knapp, der sich wie eine Düne um das Werk gürtete, lag das Familienhaus Kraforst, von dem ersten Kraforst gebaut, sobald er sich durch die unvermeidlichen schrecklichen und nachher so süßen Kampfjahre der Unternehmung durchgebrochen und durchgehauen hatte –, Jahre voll rasenden Aufstieges, Stillstandes, verzweifelten Rückfalles und wieder Anstieges; als Kraforst aus der Betäubung dieses 30jährigen Krieges erwachte, in denen er wie die Kämpfer bei Mutina nicht einmal Gewitterschläge hörte, welche die anderen Lebenden beschäftigten und erschreckten – – als Kraforst erwachte, hatte er weiße Haare. Er war ein Greis.
In diesem ganzen Kampf hatte jemand auf seinem Kriegswagen gestanden, nicht als Mitkämpfer, nicht als Wagenlenker, aber als Waffenträger – das war seine Frau Bathilde. Jeder wußte das, denn die knochige Figur der Frau Bathilde hatte den Mann täglich in die Fabrik und bei Reisen bis vor die Türen der Konferenzsäle begleitet, aber was sie alle nicht wußten und was den alten Kraforst noch wertvoller gedünkt, sie war sein Skalde gewesen; sie hatte den Wert des Mannes erkannt, und alle Feindschaft und aller Haß und Widerstand, die ihm entgegengeworfen wurden, waren aufgewogen durch die anerkennenden abendlichen Loblieder und Bewunderungsgesänge, die sie nach ihrer grobknochigen Art anstimmte; ohne Philosophie und Psychologie tat sie das, was am meisten den Mann an die Frau bindet – selbst den, der es nicht verdient, den dümmsten und faulsten – sie verherrlichte ihren Mann. Er war Sohn eines Bergmannes und selbst Werkmeister gewesen, sie war Tochter eines Bauern, und sie hatte daher nie darüber nachgedacht, daß eine Frau etwas anderes sein könne als die rechte Hand des Mannes; sie wuchs auf in der Selbstverständlichkeit, daß, wenn später ihr Mann auf das Feld ging, sie selbst, ein Kind an der Schürze, eines auf dem Arm und eins im Leib, von morgens fünf bis abends neun Haus, Vieh und Garten zu versorgen habe.
Jetzt saß sie in dem »Blauen Zimmer«, das im oberen Stock des einfachen langgestreckten Hauses einen Blick freigab über das gesamte Werk, auf einem bequemen Sessel; auf dem Tisch vor ihr lag ein altertümliches Fernrohr, und an dem Mahagonitische saßen auf steifen Mahagonistühlen Kraforst II und Kraforst III.
Die Großmutter sah nach der Uhr: »Die zweite Grobblechwalzenstraße steht schon vierzig Minuten«, sagte sie zornig.
»Sie wird in zehn Minuten laufen«, begütigte Kraforst II.
»Nun?«
»Die Schere hat sich verschlagen, und die Platte hat gekippt.«
»Es sind jetzt siebenundzwanzig Jahre her,« überlegte Frau Bathilde, »da brachen uns an einem Tage beide Scheren; wir hatten schon längst Ersatz in Köln bestellt. Es war furchtbarer Frost, die Achsen der Güterwagen waren in der Nacht festgefroren, weil diese Esel von Bahnbeamten das schwere Sommeröl zum Schmieren verwandt hatten; in vierundzwanzig Stunden waren alle Bahnhöfe verstopft und der Verkehr stockte. Da bin ich mit unserm stärksten Bollerwagen nach Köln gefahren und habe die neuen Scheren von Humboldt abgeholt.«
Sie goß mit ihrem Arm, der so lang war wie der Arm ihres langen Enkels, den beiden Männern neuen Kaffee ein und warf einen Blick heraus: »Der Schornstein 21 qualmt wie ein feuerspeiender Berg, du hast ihn zu hoch gebaut, mein Junge, damit er nicht in euer Hauptkontor pustet, jetzt reißt er die Kohle heil durch, dreißig Prozent der Feuerung fliegen in die Luft, das sind sechzig Zentner zu je vier Silbergroschen. Was hilft's da, daß ich im Haushalt täglich zwei Taler spare.«
»Hilft auch nichts, Großmutter«, lachte Kraforst III.
»So schlag doch zehn Meter von dieser Röhre, die mich täglich ärgert.«
»Dann liegt die Kohle im Fuchs, und die Kessel für die zweite mechanische Werkstatt machen zu wenig Dampf; wir müssen auch hier die Wanderroste einbauen.«
»Habt ihr die Berechnungen für die neuen Wanderroste fertig?«
»Ja, hier.« Kraforst II gab Frau Bathilde eine Statistik, und sie las aufmerksam die Zahlen durch. »Tatsächlich zweiundzwanzig Prozent Ersparnis an Kohle. Diesmal haben die Babkoch-Leute nicht geschwindelt; die ewigen Neuerungen fressen sonst allen Überschuß auf.« –
»Leider wahr,« bemerkte der Konsul ruhig, »aber wenn neue Patente auftreten, und man kauft sie nicht rechtzeitig, so kann man in ein paar Jahren kaltgestellt sein.«
»Neun Zehntel der Patente sind von diesen akademischen Projektmachern nur ausgeheckt, damit sie Geld ernten oder wenigstens mit ihren gelehrten Schnurrpfeifereien Ruhm ernten, du baust in einem Jahr mehr neue Patente ein, mein Jung, als dein Vater in zehn.«
»Das ist schon wahr; immer zermartern sich tausend Gehirne, um einen Betriebsvorsprung zu entdecken; wem's glückt, ist ein gemachter Mann und –«
»Und die Fabriken werden ärmer, denn sie müssen das Geld herausgeben; ohne diese Neuerungen ginge es auch«, grollte die alte Frau.
»Man muß ein Gesetz durchdrücken,« ironisierte Kraforst III, »daß alle Neuerungen zehn Jahre liegen bleiben – dann werden die Werke alle zehn Jahre umgekegelt.«
Frau Bathilde fühlte sofort die Ironie: »Halt du deinen Mund, mein Bub. Arbeite still für das Gesetz; dann ist es fertig, wenn du an die Reihe kommst. In diesen Schriftsachen bist du ja General. Ich glaube, du könntest auch so ein Patentkerl werden. Aber trinkt aus.«
Die Dame goß wieder ein: »Also nun heraus mit dem Stahlwerk.«
Kraforst II nahm einen Zettel: »Das Stahlwerk kostet neun Millionen, ein Bessemerwerk und zwei Martinöfen, alles größter Produktionsmöglichkeit. Zwei Millionen Mark beträgt unser Guthaben, die Hypothek liefert drei Millionen, zu tilgen in dreiunddreißig Jahren, es bleiben vier Millionen Bankkredit, sie sind zugesagt.«
»Gegen Verpfändung des Stahlwerkes!«
»Nein, Mutter, als Sicherheit wird das ganze Werk gestellt.«
»Das Werk steht mit einundzwanzigeinhalb Millionen zu Buch. Wir sind damit zum Drittel verschuldet. Und auf meine Hälfte am Werk schulde ich also dreieinhalb Millionen.«
»Nicht doch – wenn das Stahlwerk steht, ist unser Kapital dreißig Millionen.«
»Welcher Patentfex hat denn diese Idee von der ›einen Hitze‹ ausgeheckt?«
»Die Hilgenstocks in Hörde. Die Betriebe selber haben ohne Mühe herausgefunden, daß, wenn der glühende Stahl aus den Öfen sofort verwalzt wird, man natürlich die Kohlen für die zweite Verflüssigung sparen muß. Das ist ein einfaches Rechenexempel.«
»Oder vielmehr gar keines,« warf Fritz Kraforst dazwischen, »sondern eine Tatsache. Aber sie ist trotzdem falsch.«
Die Großmutter sah ihre beiden Nachkommen nach der Reihe an. Alle drei Personen sahen sich verblüffend ähnlich, nur daß die Frau Röcke trug. – »Ei, sieh da, das Kücken will ein Ei legen«, sagte sie spöttisch.
»Schlage das Ei ruhig auf«, ermunterte der Vater.
Fritz Kraforst schlug die Beine übereinander: »Darf ich zuerst eine Zigarre anzünden, Großmutter?«
»Wenn du das brauchst, um deine Zähne auseinander zu kriegen, so rauche. Dein Großvater rauchte übrigens nur Pfeife und nur auf seinem Büro.«
Kraforst III überhörte diesen Hieb und rauchte, indem er in Absätzen sprach: »Hier ist es eng und bleibt es eng.«
»Ach ja, der Jugend ist es immer zu eng. Und die Alten sind verengte Dummköpfe, dein Großvater war auch wohl zu eng, als er hier 120 preußische Morgen kaufte – he?«
» Mir ist es nicht zu eng, Großmama, aber dem Werk ist es zu eng: das Stahlwerk kann hier noch stehen, und dann ist Schluß. Nicht eine Werkstatt hat noch Platz, von Hochöfen nicht zu reden. In zehn Jahren vollends haben die neuen Betriebe Dimensionen, von denen man heute höchstens nachts träumt. Wir müssen dann hier verkümmern, wie ein Wald, der mit den Wurzeln in den Ohr gerät. Drittens: wir haben von den Zechen bis hier eine Fracht von vier Mark, wir haben für Eisen und Erze vom Rhein sieben Mark Fracht. Wir haben für die Rückfracht zum Oberrhein, zur Saar und zum Ausland neun Mark Rückstand gegen die rheinische Frachtbasis – das macht 30 000 Doppelwagen mal durchschnittlich 7 Mark gleich 210 000 Mark Frachtverlust jährlich oder zu drei Prozent Zinsen gerechnet ein Kapital von sieben Millionen. Um dieses Kapital belasten wir unser Werk und wir sparen sie, wenn wir uns an den Rhein in nächste Nähe von Zechen legen. Wird unsere Erzeugung mal später langsam auf das Doppelte gesteigert, so macht das einen Gewinn von 14 Millionen.«
»Und was sagt mein Jung dazu«, sprach die Großmutter langsam.
»Ich sage, daß diese Rechnung richtig ist, wir müßten uns an den Rhein legen, vielleicht auch an den Ostrand der Metallindustrie, und dann den Absatz nach Osten pflegen – aber ich sage, daß dann das ganze Werk samt Stahlwerk in einem Zuge verlegt und neugebaut werden muß, und das kostet mindestens 30 bis 33 Millionen. Woher sie nehmen?«
»Wir müssen diese Klempnerei verkaufen als Siedelungsland für die Stadt.«
Die Großmutter schlug mit dem Fernrohr stark auf den Tisch: »Klempnerei nennt dieser Träume-Spinner unser Werk«, schrie sie erregt. »Übrigens« – sie hob das Fernrohr an das eine Auge – »die zweite Reparaturwerkstätte steht auch schon wieder. Fritz, frag doch mal telephonisch an.«
Fritz ging langbeinig und ohne Hast heraus.
»Der Junge leidet an Theorien«, sagte der Konsul. »Eine Theorie ist oft richtig an sich, aber nicht immer durchführbar, wir haben den Vorteil der Mittellage und können nach Ost und nach West; zudem hoffe ich auf den Kanal; der bringt uns von selbst an den Rhein und auch an die Elbe.«
Der Enkel kam gleichmütig zurück: »Läuft schon wieder, kurze Störung am elektrischen Hauptkran.« –
»Inzwischen haben dein Vater und ich die Sache erledigt«, erklärte die Großmutter. »Das Werk bleibt, wo mein Mann es hinstellte. Und ich steige nicht auf irgendeinen Turm, den du im Traum gebaut hast. Ich bleibe hier. Und ich sterbe hier.«
Kraforst III hörte einen Augenblick auf zu rauchen: »Ich betrachte täglich den Aufstieg dieser neuen Leute, den Ommekamp und vor allem den Neveling. Sie legen Werk auf Werk zusammen. Es bilden sich große zusammenhängende Konzerne, die alles in sich haben: Kohlen, Koks, Eisen, Stahl, Walzeisen, Stabeisen, Maschinenbau, Apparate, Röhren – sie haben die Zukunft. Eines Tages werden die Kleinen erdrückt.«
»Dann lebe ich nicht mehr«, sagte die Großmutter.
»Aber ich«, sagte Kraforst III.
»Vergiß eins nicht,« mahnte der Vater: »Wir liegen zwar hier fest und haben es schwerer uns immer zu modernisieren, aber diese Aktiengesellschaften haben einen Nachteil: Das Blut, das sie sammeln, wird ihnen alljährlich abgezapft. Unser Blut bleibt, was wir verdienen, wächst unserer Bilanz zu. Hier steht Individualität gegen Kapital.«
Kraforst III erwiderte: » Du vergißt auch eins: der Ommekamp mag ein Schwindler sein, wie einige behaupten, die seine Wettbewerber und daher Partei sind, der Neveling mag ein Hasardeur sein – gut – wenn's aber mal faul geht, was verliert er, er selber? Nichts. Die Gesellschaften verlieren dann alles, die Gründer und Leiter aber nichts.«
Das stille Gesicht des Konsuls geriet in Bewegung: »Steckt hinter dir der Lächler Grilecher oder der Mephisto Braß? Das soll wohl heißen: Wir sollen, wir müssen umwandeln, breitere Basis schaffen, gründen!«
»Rege dich nicht auf,« sagte die Großmutter, »noch habe ich die Hälfte des Werkes. Ich habe zu kommandieren und das Kommando wird abgegeben drei Tage vorm Begräbnis. Bis zu diesem Tage wird nicht beschränkt gehaftet und nicht aktiengesellschaftet. Das Werk bleibt unser mit Gedeih oder in Verderb!«
Der Enkel blieb merkwürdig ruhig: »Ich sehe wohl klar die Folgen dieser ewigen Gründungen, dieses Zerfließens des Besitzes. Die Werke werden unpersönlich, unsozial. Es ist der Anfang vom Ende. Aber die Menschen sind unfähig, die Dinge aufzuhalten. Siehst du, Großmutter, die Urstiere haben auch die Lichtung des deutschen Waldes nicht aufhalten können.«
»Mache nur deine Witze«, sagte die alte Frau ganz unbeleidigt. »Ich und dein Vater sind so ein paar Urstiere. Die Kraforst sind immer Stiere gewesen. Und wir bleiben es. Hallo, trinkt erst noch den Rest, und dann los an die Arbeit. Zucker gibt es nicht. Die Alte spart, Kinder. Lacht nur! Wenn ich mal sterbe, so findet ihr den Spartopf irgendwo – für irgendeine Not.«
»Du bist geradezu unheimlich, Großmutter,« lachte der Enkel, »in deinem Spartrieb, die reine Frau Sorge. Ich kriege bald Angst.«
»Was spricht man denn in der Eintracht von Banning, Uhlenburg und Ommekamp?« forschte die Großmutter, »sie haben sich ja unglaublich aufgeführt.«
»Ich glaube kaum, daß diese Stürmer auf ihrer Leiter in den Himmel kommen, sie denken, man kann eine Leiter anlegen ohne den Boden festzumachen.«
»Richtig, Vaterleben,« ergänzte der Sohn, »der kommende Mann ist allein der Neveling; er hat das stille wahnsinnige Feuer des ebenso schwarzen Banning, er hat die ruhige Skrupellosigkeit von Uhlenburg, und er hat den tollen Glauben an sich wie Ommekamp.«
»Hm,« meinte der Konsul, »er ist noch mehr wie diese heilige Dreiheit, er hat technische Kenntnisse – und Verstand.«
Die Großmutter schüttelte den Kopf: »Ich habe fünf Krisen erlebt, fast genau alle zehn Jahre eine wirtschaftliche Krise nach der andern, so wie es feste Kometen- und Hungerjahre gibt. Alle zehn Jahre kamen neue Geschlechter hoch, erfüllten die Stadt und Deutschland mit ihrem Ruhm und alle zehn Jahre wurden sie vom Zorne Gottes weggefegt. Die Leute der ersten drei Krisen sind begraben und vergessen, die Namen selbst vergessen, die der vierten Krise sind verschollen, von der letzten Krise laufen noch ein paar Agenten herum und leben von den Brosamen einstiger Freunde.«
»Aber dein Mann stand doch fest«, machte sich Fritz Kraforst gutes Wetter zum Abschied.
Da leuchtete das Gesicht der alten Frau, und ihre Augen wurden ganz milde: »Ja mein Karlmann, der stand und der wird stehen. – Nun los, ihr lieben Schwätzer.«
Die beiden küßten der alten Frau die Hand und gingen.
Sie gingen den Knapp herab und durch das Werk.
Die alte Frau stand am Fenster und verfolgte sie mit dem Fernrohr; sie kannte deren Weg, stellte sie nach jeder Biegung wieder fest und grüßte sie in ihrem stählernen, zärtlichen Herzen.
»Dieser Blödsack,« knurrte sie, »dieser Werkmeister Röhrig, legt gerade immer einen Zeigefinger an und zieht nicht mal die Mütze vor meinen Jungens.«