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Kraforst II und Kraforst III waren einmal wieder auf dem Wege zu Grilecher.
»Wir bewegten uns stets zueinander,« sagte Kraforst III, »aber die Richtung der Bewegung ist seit sechs Monaten eine umgekehrte.«
»Was soll ich anders machen?« seufzte der Vater – »Grilecher verspricht am Telephon in blühendsten Formen, aber er kommt nicht; wenn ich ihn haben will, muß ich gehen – und noch froh sein,« – kam es nach einer Pause – »daß er mich empfängt.«
»Die Zeit wird auch noch kommen, wo man ihn überrumpeln muß, um ihn zu sprechen.«
»Schweige,« drohte der Vater, »mit Ironie kommt man nicht weiter.«
»Nein, aber mit Hellsehen.«
Der Streik in der alten Firma, welche mit 50 % selbst aufgezogenen Fachpersonals arbeitete, hatte sofort mit einer Wut eingesetzt, die den alten Kraforst erstaunte und erschreckte – welcher Satan war denn plötzlich in seinen alten Stamm gefahren? Er hatte vierzig Jahre während einer ungeheuren Arbeit das Auge nur auf die Technik seines Werkes gerichtet, schon das Kaufmännische daran lag ihm nicht. An den sozialen und politischen Dingen war er wie die meisten seines Berufes schon aus Mangel an Zeit vollkommen blind, fast teilnahmslos vorübergegangen. Bismarck hatte das Bürgertum gelehrt ihm zu vertrauen, es setzte diese begierig aufgegriffene Bequemlichkeit einfach fort, und wenn deutliche Zeichen herannahender Gewitter kamen, so schimpfte man auf die Regierung, ohne aber selbst Hand an die politische Gestaltung des Reiches und der Staaten zu legen. Kraforst II war immer der Meinung gewesen, daß das alte Vasallen- und Lehnsverhältnis mit den Angestellten aus des Vaters Tagen immer noch fortdaure, und ein Wolkenbruch aus einem wolkenlosen Himmel wäre für ihn kein größeres Wunder gewesen als diese Begeisterung, ja Leidenschaft des Streikens. Kraforst III hatte versucht, ihm und der Großmutter darzulegen, daß die politisch geführten Gewerkschaften das größte Interesse daran hatten, gerade das Bestehen oder das Phantom »dieses guten alten Verhältnisses« auf dem Werk zu zerstören, daß je besser die Zustände einer Firma seien, um so dringender die Politik erfordere, den Gegenbeweis zu führen und die sozialistische Theorie blendend wieder sicherzustellen, während man auf schlampig geführten, sozialistisch völlig durchorganisierten Aktiengesellschaften Streiks nach Schema anfangen und abbrechen könne, wie denn vor allem auch die persönliche Firma so wenig in das marxistische Dogma passe, wie eine Monarchie – alles das hatten die Vertreter der ersten und zweiten Generation Kraforst glatt für theoretischen Unsinn erklärt.
Für diese beiden gab es keine andre Erklärung als – Epidemie. Die Arbeiter mußten »verrückt geworden« sein. In Wirklichkeit saß der 50 %ige Stamm energielos, tatenlos, eingeschüchtert zu Hause, machte sich in den Schrebergärten zu tun, nahm Nebenarbeiten an – und schwieg; die längst organisierten und schlagbereiten Neuen sperrten die Straßen und beherrschten die Versammlungen, welche unerschüttertes Durchhalten beschlossen; die sozialistische Arbeiter-Zeitung schrieb Leitsätze: »Noch niemals eine so einige Belegschaft.« »Niemals ein Streik notwendiger.« »Sympathie bis in die Bürgerkreise.« – tatsächlich buchte sie fast täglich Geldeingänge für den Streik in vierstelligen Ziffern zugunsten der Belegschaft.
Das Haar von Kraforst II war jede Woche weißer geworden, schon fünf Wochen rauchten die Essen nicht mehr, die Einnahmen waren in der fünften Woche fast auf ein Nichts gesunken, das neue Stahlwerk wurde nur mit Bankkredit weiter gebaut.
Grilecher empfing die zwei Herren mit gesicherter Freundlichkeit, fast Herzlichkeit: »Es war mir tatsächlich in den letzten acht Tagen unmöglich, mal eine ruhige Stunde für Sie vorzumerken, eine schlimme Zeit; es ist, als wenn die Erde Geld verschlucken könnte. Kein Geld zu haben. Sie haben sicher dieselbe Feststellung machen müssen.«
Kraforst II war nicht Diplomat genug, um sich erfolgreich zu wehren. Er hatte tatsächlich alle Banken abgeklopft, immer wieder war er höflich abgewiesen worden – diese bitteren Gänge standen klar vor seiner Seele, nicht klar war ihm aber, daß alle diese Banken nach dem bestimmten Wunsche Grilechers gehandelt und über jeden Gang »in kollegialer Weise« Grilecher unterrichtet hatten. Es lagen diesmal keine stark anreizenden Gründe vor, diese Kollegialität zu stören.
»Ich weiß, ich weiß, Herr Grilecher«, sagte Kraforst II. »Wir wären ohne den Streik auch nicht in Verdrückung gekommen, aber er powert uns aus und der Bau darf nicht eingestellt werden. Herr Grilecher, wir brauchen noch 800 000 Mark.«
Grilecher setzte sich ganz erschöpft in den Sessel zurück: »Das ist ganz unmöglich, Herr Kraforst. Ich darf als verantwortlicher Leiter der Bank uns in diesem Tempo nicht weiter belasten. Die Bankschuld beträgt schon 12 Millionen.«
Kraforst ließ den weißen Kopf noch tiefer hängen: »Das weiß ich auch, aber das Gesamtwerk ist 37 Millionen wert.«
»Meine Herren,« sagte Grilecher klagend, »was heißt wert? Für Sie ist es 37 Millionen wert. In meinen Augen auch. Aber, ich sagte Ihnen schon: die Expertise der gutachtenden Ingenieure ist böse ausgefallen. Das Werk ist im einzelnen gut, aber unorganisch aufgebaut, der Transport in der Fabrik frißt den Verdienst auf, die Frachtlage zu den Kohlen und zu den Verbrauchern ist höher als bei allen anderen Werken.«
»Und was rechnen diese Gutachter heraus?« mischte sich Kraforst III herein.
»Es tut mir leid, und es fällt mir schwer, es zu sagen: Es ergibt sich, daß das ganze Werk nicht höher eingesetzt werden darf als 28 Millionen.«
Kraforst III sagte lediglich: »Das heißt, daß wir von dem Buchwert des alten Werkes 9 Millionen abschreiben sollen.«
»Sie sollen nichts, lieber Herr Kraforst, aber ich kann nicht hexen, ich kann niemanden zwingen, mehr zu bezahlen. Sehen Sie mal, was liegt Ihnen auch daran? Wir emittieren die Aktiengesellschaft zu 28 Millionen. Damit decken wir die Bankschuld, es sind schon 12, es werden 13 Millionen. Wir begeben ferner für die Gesellschaft 2 Millionen als Betriebskapital. Es bleiben Ihnen 13 Millionen, wovon Sie die alte Hypothek abzulösen haben mit 3 Millionen, bleibt ein Kapital für Sie von 10 Millionen. Na, das nenne ich ein Vermögen. Ich gratuliere. Ein Riesenvermögen. Und nun merken Sie auf. Sie sagen, es ist damit das alte Werk unterbewertet. Gut, angenommen. Dann steigt aber der Kurs bald um 50 % oder noch mehr, um 100 %. Ihre 10 Millionen sind binnen einem Jahre 15 oder 20 Millionen börsenmäßig wert. Und dieses Kapital ist gesichert, bares Geld, jederzeit mobil zu machen für andere Zwecke.«
Kraforst III lächelte; er sah sehr gut, daß die anderen 18 Millionen, also die große Mehrheit in den Händen der Banken blieb und ebenso an dem Kursgewinn teilnehmen würden.
Er gab aber dem Gespräch eine andere Wendung: »Welche bindenden Vorschläge machen Sie bezüglich unsrer Personen, Herr Grilecher.«
»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«
»Desto mehr,« meinte Kraforst II, »denkt man im Hause Kraforst darüber nach.«
»Und was denkt man denn, lieber Kraforst«, lächelte Grilecher.
»Wir bleiben,« sagte Kraforst III, »der weitaus stärkste Aktionär. Wir beanspruchen daher den Posten des Aufsichtsratsvorsitzenden. Und das ist mein Vater.«
Grilecher versuchte weiter zu lächeln, aber es gelang ihm schlecht: »Ich habe darüber nicht zu entscheiden, sondern der kommende Aufsichtsrat, jedoch werde ich dafür eintreten.«
»Was mich betrifft,« ergänzte Kraforst III, »so beanspruche ich die Stellung als Generaldirektor mit der Überordnung über etwaige andere Direktoren.«
Grilecher hörte jetzt tatsächlich auf zu lächeln:
»Sie müssen bedenken, daß nach außen hin das Werk dann so als privates Werk Kraforst erscheint, daß die anderen Aktionäre das Vertrauen nicht in einer zu wünschenden Stärke haben könnten –«
Kraforst II lachte auf: »Vertrauen? – Ich denke, wenn wir zwei uns in die Sache werfen – so bringt das Vertrauen.«
Es gab einen langen stillen Kampf. Kraforst III schlug ihn endlich nieder: »Wenn diese Bedingungen nicht angenommen werden, so nehmen wir morgen alle Bedingungen der Streikenden an.« –
Niemals!« – Kraforst II stand zornig auf.
»Mein Vater ist dagegen,« sagte Kraforst III kühl, »aber Frau Bathilde Kraforst ist mit mir eines Sinnes.«
»Was gewinnen Sie damit?« forschte Grilecher.
»Wir kommen in Arbeit und damit zu Kredit«, drohte Kraforst III.
Grilecher wurde unruhig. Tatsächlich konnte doch noch ein Kreditloch irgendwo sein.
»Wir erwarten also,« schloß Kraforst III, »einen Brief, in dem Sie persönlich uns diese zwei Posten garantieren.«
Wenn es gelang, vielleicht durch Fusion mit Neveling 15 bis 18 Millionen zu bekommen, so konnte die Bankschuld abgedeckt und das Stahlwerk in Betrieb gesetzt werden. Das dicke goldene Vlies schwamm dann auf Nimmerwiedersehen ab. Man konnte die Kraforst noch nicht ganz entbehren.
Grilecher ging in solchen Rechnungen dreimal durch die Stube.
Dann setzte er sich wortlos hin und schrieb.
Grilecher hatte darin recht, die Kraforst waren vorläufig noch leidlich gut abgekommen mit Banning machte man nicht so viele umständliche Zeremonien: es blieb von Banning in drei Monaten nichts übrig, die Seele war auf und davon, der Körper verweste und seine Güter wurden in drei Monaten auseinandergerissen. Im Schnellzugstempo bildeten sich aus dem Privatmann Katz, seinen und der Bank engsten Freunden zwei neue Aktiengesellschaften; die eine übernahm zu Schundpreisen die Häuserblocks, die andere die Werke und Ziegeleien, knapp bekam der Pfandgläubiger, das Bankhaus Katz sein Geld zurück, ja Katz klagte überall, daß er noch 5000 Mark verloren habe, außer den Gerichtskosten, die anderen Gläubiger fielen ins Leere; besonders die Bauhandwerker, welche auf Kredit Häuser und Werke mit ihrer Hände Arbeit fertiggestellt hatten, bekamen nicht einen Pfennig und folgten Banning in den Zusammenbruch nach.
Bei Uhlenburg konnte man kaum von einem Krach reden, denn Krach gibt es nur da, wo eine schwere Masse zusammenstürzt – bei Uhlenburg sank alles lautlos zusammen wie ein Kartenhaus; er selbst schrieb einen Brief an seine Gläubiger, schob alle Schuld auf andere und schwor mit alter Begeisterung, er habe sich drüben in Texas sofort in die Arbeit gestürzt und werde nicht eher die Hände in den Schoß legen, bis er alles bezahlt habe. ›Vertrauen um Vertrauen‹, so schloß er. Es gab tatsächlich gebrochene Existenzen und hungernde arme Teufel, welche noch zehn Jahre hofften, und in mancher Dachstube schloß das abendliche kummervolle Gespräch: »Ja, warten wir noch, bald muß doch die erste Zahlung von Uhlenburg kommen« – er war und blieb die sagenhafte Figur des reichen Erbonkels aus Amerika, der dereinst eines Winterabends als Weihnachtsmann erscheinen wird und den Sack voll Goldstücke über die armselige Diele jagt.
Aber gleich mit Uhlenburg fiel auch sein Bankhaus Hofschulte & Co. um, und diesmal krachte es. Die anderen Banken stürzten sich auf das ehemals angesehene Privathaus, der wertvolle Besitz des Hauses an Aktien, Kuxen und anderen Papieren wurde verschleudert, der Rest in einer langjährigen Konkursverwaltung aufgefressen, Bankhaus und Privathaus versteigert, alle Schulden wurden trotzdem mit 100 % voll bezahlt – Hofschulte marschierte arm aus der Metallstadt heraus und legte sich irgendwo zum Sterben.
Auch die Firma Dieckmann & Sprenger wankte. Auch sie wurde in eine Gesellschaft umgegründet und Dieckmann nach Brüssel als Vertreter der Firma abgeschoben, wo er nichts mehr war als ein besserer Agent.
Die größten Wellen der Erregung aber warf das jämmerliche Ende des großen Bankhauses Ommekamp. Hier ging es nicht um Hunderte Gläubiger, es ging um Zehntausende, welche dem Bankhause ihr Geld anvertraut hatten, Ommekamp saß zwei Jahre in Untersuchungshaft, bis drei nur für diesen Fall bestimmte Staatsanwälte sich in diesem Irrgang von Gründungen zurechtgefunden hatten, darinnen der Minotaurus Ommekamp saß; der Prozeß dauerte drei Monate. Ommekamp behielt dabei die Hoheit des verlästerten und unschuldig verfolgten Propheten, und da er selbst den Glauben an sich nicht verlor, so behielt er auch Jünger, trotzdem das Gericht ihn auf fünf Jahre ins Gefängnis schickte. Bedeutend zahlreicher als die Jünger waren allerdings die Verdammer, und wenn jemand an Flüchen und Verwünschungen sterben könnte, so hätte Ommekamp schwerlich seine fünf Jahre so erfolgreich als Sündenbock und Märtyrer so gut durchgehalten, daß er getrosten Mutes wieder in die nächste Schwindelepoche einspringen konnte.
Hunderten anderen Männern, die einen trotzigen Versuch gemacht hatten, sich selbständig zu machen, ging es nicht besser; der Krach machte keinen Unterschied zwischen ehrlich und unehrlich, sondern nur zwischen Bargeld und Kredit. Die Anfänger, die nur Geld hatten bis zur Vollendung der technischen Werkstätte, die Kleinfabrikanten, die Unternehmer, deren Mut größer war als das Kapital – sie alle mußten auf das Schafott; das mobile Kapital hängte sie alle ebenmäßig auf. Dies mobile Kapital kann nie verlieren; wenn die Geschäftslage schlecht wird, schränkt es sich ein, es hat nicht Hunderte und Tausende von Angestellten durchzuschleppen, es hat nur eine Klugheit zu beachten: es muß warten können. Warten, immer zehn Jahre warten, bis der neue Krach kommt. Dann ist alles für einen Groschen zu kaufen, was die Arbeit zu einem Taler schuf.
Die Krachs hatten allmählich die Erde gereinigt. Der große Trümmerhaufen der Industrie war ziemlich abgeräumt.
Da vollzog sich die erste Generalversammlung der » Aktien-Gesellschaft vormals F. Kraforst«.
Grilecher präsidierte zunächst, jedoch, wie er sagte, nur als Alterspräsident und für wenige Stunden, bis die Versammlung zur Wahl geschritten sei und den Mann ihres Vertrauens bezeichne, wie sie auch den ganzen Aufsichtsrat am Schluß der Tagung zu ernennen habe. Er dankte dem alten Kraforst, seinem alten Freunde und dem bewährten erprobten Lenker des Werkes, für die unermeßlichen Dienste, welche er bei der Überführung des Werkes in die neue Form dem Werke selbstlos darbrachte. Er bat ihn um eine Gesamtdarstellung der technischen und kaufmännischen Lage des Werkes, das, ein Bollwerk der Industrie, ruhmvoll noch viele Jahrzehnte dastehen würde.
Kraforst II erhob sich etwas schwerfälliger, als man früher an ihm gewohnt war.
Er schilderte die Entstehung des Werkes aus einer mechanischen Werkstelle, welche erst Aufmerksamkeit erregte, als sie sich ein Blechwalzwerk angliederte, und so hielt er, indem er das mühsame Aufkämpfen des Werkes schilderte, unbewußt dem toten Vater eine Grab- und Gedächtnisrede, daß die alte Frau Bathilde, welche unter den Aktionären saß, schwankte zwischen dem Stolz auf den Gatten und der Dankbarkeit gegen ihren Sohn, der alles, was auch er schon mitschuf, auf den Toten lenkte und häufte, daß er selbst unter dem Berge des väterlichen Ruhmes verschwand. Kraforst II sprang dann über seine höchsteigene Zeit fast hinweg, obwohl unter ihm die Belegschaft genau so weiter gewachsen war wie unter dem Begründer. Dann begründete er umständlich den Bau des Stahlwerkes. In jedem Satz fühlten Frau Bathilde und der Enkel die Selbstanklage; was der alte Konsul unter dem leisen Beifall der Aktionäre als Zwang hinstellte, hörten die zwei deutlich als Entschuldigung, die Gehirne und die Herzen von allen dreien erlebten noch einmal alle jene ermüdenden Vorbesprechungen, technischen und finanziellen Planungen, jenen Abend des mutigen Durchhauens, den Beschluß: »Es werde!«, diese Freude des Entstehens, die langsam anschlängelnden Besorgnisse, die kummervolle, in jedem aufsteigende und in jedem tapfer niedergeschlagene Pein, bis zum gedämpften Eingeständnis: wir sind mit der eigenen Kraft zu Ende.
Während der Konsul klar und sieghaft sprach, wußten die zwei Zuhörer, daß er innerlich blutete und daß er sich übermenschlich überwand.
Dann berührte der Konsul den Streik. Sein Mund blieb ruhig, aber die Stimme war mit Bitterkeit getränkt, er legte die Streikbedingungen und die Gegengründe ganz objektiv dar, und Grilecher gab durch Kopfnicken und Handbewegung seine volle Zustimmung zu erkennen. Das erstere wurde schematisch von den Aktionären wiederholt, aber als er dann schloß: »So blieb den Leitern des Werkes nichts übrig, als den Kampf durchzuführen, um die Ordnung des Betriebes zu sichern, und wir haben ihn durchgeführt, wie ich erkläre, mit großen und schmerzlichen Opfern«, da wußten nur zwei unter den Zuhörern, daß in diesen drei Worten die ganze Qual eines Menschen vergraben lag, der sich selbst beschuldigte, der Ruin der Familie zu sein, und die Bitterkeit eines von seinem Lebensberuf vereinsamten Mannes, der von jetzt ab in der innersten Kammer seines Herzens seinen eigenen Mitarbeitern, die ihn täglich umgeben, still zuschreit: »Ihr habt uns in den Abgrund gestoßen.«
Befreiter atmete Kraforst II auf, er übersprang hundert schlaflose Nächte und die Kämpfe mit den Geldgebern, indem er bedächtig sagte: »Alle diese Erfahrungen legten uns nahe, das Werk auf eine breitere Grundlage zu stellen. Die Aktiengesellschaft trat in Erscheinung, und heute soll sie getauft werden.« Die Buchungen wurden einzeln durchgegangen und mit größter Fachkenntnis gezeigt, daß alle so vorsichtig (Kraforst III sagte halblaut: »erbärmlich«) angesetzt sind, daß der Redner zum Schluß seine Hand ins Feuer dafür legte, daß eine befriedigende Verzinsung des Kapitals sicher sei. »Ich selbst und mein Sohn,« schloß der Konsul, »gedenken auch in der Zukunft unsere ganze Erfahrung und unsre ganze Kraft dem Werke zu widmen, welches wir als ein Erbe betrachten, dem wir zu dienen haben.«
Die vornehme und gefaßte Versammlung war jetzt etwas lauter mit der Zustimmung, begeistert geradezu war Grilecher, der Kraforst des Dankes und des Vertrauens jedes Aktionärs versicherte.
Sodann folgten endlose Aufnahme-Feststellungen und Reden des Notars, so daß einige einschliefen, andere sich für eine Viertelstunde an das Büfett schlichen.
Grilecher klopfte mit seinem fußlangen Bleistift auf: Punkt 3 der Tagesordnung: Wahl eines ersten und zweiten Vorsitzenden.
Braß hebt die Hand.
»Herr Braß hat das Wort.«
Braß steht umständlich auf, steht da mit der kurzen Gestalt und der breiten, nicht zu erschütternden Stirne: »Ich glaube, meine Herren, der Posten eines ersten Vorsitzenden ist schon in guten Händen. Für den zweiten Posten schlage ich Herrn Bankier Katz vor.«
Es kam eine Stille, daß man hätte einen Regentropfen fallen hören, wie ein Eisenstück.
Herr Grilecher hob schnell und erstaunt den Kopf und markierte Überraschung.
»Einverstanden«, sagten zwei oder drei Stimmen aus verschiedenen Ecken.
»Es erhebt sich kein anderer Vorschlag,« stammelte Grilecher in höchster Verwirrung – »die Herren –«
»Doch« – gellte eine Stimme, wie aus einer Knallbüchse – Kraforst III war mit einem Satz in die Höhe und stand, fast zwei Kopflängen über Braß sich reckend. » Ich erhebe Widerspruch.«
Grilecher war geradezu erschrocken, seiner geschmeidigen und weichen Natur war jeder offene Zusammenstoß etwas Schreckliches, schon eine laute Stimme war ihm zuwider, sein ganzes Leben vollzog sich in liebenswürdigen Formen, eine Ablehnung umhüllte er mit Entschuldigungen, eine finanzielle Abschlachtung mit Verbeugungen und Beugung unter die Pflicht – hier drohte aber sogar ein Krach.
Er vergaß das Wort zu erteilen. Fritz Kraforst nahm es sich einfach.
»Ich wollte schweigen als Sohn,« sagte er in Erregung, »aber ich werde gezwungen als Aktionär, und Sie müssen verzeihen, meine Herren, wenn der letztere den ersteren fortreißt und verdrängt. Seit sechzig Jahren besitzen die Kraforst das Werk, ihr Name, ihr Ruf, ihr Vermögen sitzt in jedem Ziegelstein.
»Und es ist klar, daß es den Kraforst nicht möglich ist, dies alles von dem Stein zu lösen, ohne das Empfinden zu haben, daß in ihnen etwas wund wird. (Kraforst III wurde seiner wieder Herr und sprach ruhiger.) Ich begreife, daß die neuen Aktionäre dies Empfinden nicht verstehen, doch ich bin sicher, unser ver–ehr–ter Herr Alterspräsident, der langjährige Freund unseres Hauses, wie er sich bezeichnet, Herr Grilecher wird mich verstehen.«
Grilecher merkte mit Entsetzen, daß Kraforst III seine gefürchtete Waffe, die Ironie wieder gefunden hatte und mit diesem Spieß direkt ihm auf den Leib ging.
»Herr Grilecher selbst hat stets den Gedanken vertreten, daß Herrn Konsul Kraforst der Posten eines Vorsitzenden des Aufsichtsrates zukomme, und zwar nicht nur als bisherigem Träger des Werkes, sondern als größtem Aktionär des Werkes. Er hat in seiner bekannten Bescheidenheit und persönlichen Zurückhaltung sicherlich geglaubt, hier vom Tische des Präsidenten aus vorläufig noch nicht eingreifen zu sollen. Ich bin jedoch seiner innersten Zustimmung gewiß, wenn ich erkläre, daß er die Stimmen, über welche er verfügt, ohne Rückhalt dem Konsul Kraforst geben wird. (Grilecher nickt verlegen und zittert innerlich vor Wut.) Herr Grilecher zollt mir Beifall, den ich so auslege, daß er alle seine Freunde hier im Saale bittet, mit ihm zusammen einmütig die Wahl des Herrn Kraforst zu vollziehen. (Braß begann, seine Zigarre zu fressen.) In seiner Freundschaft für unser Haus und in seiner bekannten Sachlichkeit hat Herr Grilecher dieses Schreiben (Kraforst III hielt einen Brief in die Höhe) aus eigenstem Antriebe an uns gerichtet, in dem er sich dafür einsetzt, daß aus Gründen des Ansehens und des Kredites der neuen Aktiengesellschaft die Männer der Familie Kraforst die Führung des Werkes vorläufig beibehalten, und es ist mir heute ein Herzensbedürfnis, Herrn Grilecher öffentlich hierfür zu danken.«
Grilecher sah keinen anderen Ausweg, als durch eine kleine Erhebung von seinem Präsidentensessel den Dank zu erwidern.
»Ich weiß«, fuhr Kraforst III fort, »keinen anderen Beweis meines Dankes, als daß ich vorschlage, Herrn Grilecher den Posten eines zweiten Vorsitzenden anzuvertrauen.«
Im Saal saß lediglich die Klientel der Bank, ihre Aufsichtsräte, Großkunden und Helfer, die Bank und die mitgehenden Banken hatten die Aktien alle noch in der Hand und noch nichts nach draußen vergeben – aber man merkte sichtlich wie sie anfingen konfus zu werden und auf die Gedankengänge des Redners einzugehen.
Kraforst III fuhr fort: »Ich danke Herrn Grilecher für seine stillschweigende Zustimmung (es schien, als wenn Grilecher reden wollte), ich verstehe es vollkommen, Herr Grilecher, daß Sie, solange Sie die Versammlung leiten, nicht persönlich in die Debatte eingreifen wollen, es bleibt mir nur übrig festzustellen, daß die Versammlung sichtlich meinem Vorschlage zustimmt.«
Kraforst fühlte, daß es genug der Ironie und daß Grilecher kaltgestellt sei, er fühlte aber auch, daß seinen Worten noch etwas mangele, ohne dessen Beachtung eine Rede, selbst bei ganz kleinen Versammlungen, stets verpufft – eine Dosis Sentimentalität, welche auf die Herzen arbeitet.
»Sie, meine Herren Mitaktionäre, aber bitte ich, sicher zu sein, daß ich nicht als der Sohn eines Vaters spreche, welcher ihn bis zum Zusammenbrechen fünfzig Jahre an der Arbeit sah, ich spreche nicht als der Enkel des Gründers, der unsere Stadt um zwanzigtausend Menschen vermehrte und Wohlstand hereinzog, ich spreche als Ihr Mitbesitzer, Mitschaffer und Mithoffer, wir sind nicht oder nicht nur dem Konsul Kraforst und seinen Vorfahren moralisch die Wahl schuldig, sondern wir sind uns klar, daß von der Erfahrung und dem technischen Wissen dieses Mannes die ganze Zukunft des Werkes abhängt. Unser Vermögen können wir nur ihm beruhigt in die Hände legen!«
Frau Bathilde zitterte vor Glück und bat dem langen Enkel manches ab, die Aktionäre wurden eine führerlose Herde, irgendein kleiner Bankangestellter, dem man die Vertretung von 500 Aktien anvertraut hatte, rief sogar »bravo«, wofür er von Braß einen stillen Fußtritt bekam.
Grilecher saß oben vereinsamt und wie festgeblockt.
Man rüstete zur Abstimmung.
Braß allein verlor den Kopf nicht.
Er beantragte »nach diesen schönen und eindringlichen Worten des Redners eine Vertagung von zehn Minuten zur inneren Sammlung«.
Grilecher nickte heftig zu und stand gleich auf.
Braß eilte durch die Reihen wie ein Feldherr, der die Bataillone wanken sieht. Er öffnete immer nur einen Mundwinkel einen Zentimeter: »Nichts ändern.« »Feststehen.« »Die Anweisung bleibt.« »Dem Lümmel Zähne zeigen.«
Die Abstimmung ging vor sich.
Der Notar sammelte selbst alle Zettel.
Er rechnete und addierte eine Viertelstunde.
Dann verkündete er das Ergebnis:
»Es erhielt:
Die Liste Kraforst und Grilecher 10 500 Stimmen.
Die Liste Grilecher und Katz 14 800 Stimmen.
Die letztere Liste ist gewählt.«
Grilecher stand hochrot auf: »Die Tagesordnung ist erschöpft. Ich schließe die Sitzung.«
Kraforsts hatten nur ihre 10 000 Stimmen und 500 fremde dabei erhalten. Die Banken hatten fest zusammengestanden, die an Strohmänner verteilten Aktien hatten bis auf eine Gruppe mit 500 Stimmen geschlossen gestimmt.
Die Kraforst standen, der eine bedrückt, der andere zornig, zusammen, Grilecher ging freundlich und tänzelnd auf sie los: »Es tut mir wirklich leid, Herr Kraforst, aber meine 500 Stimmen hab ich Ihnen freudig gegeben.«
Der Konsul Kraforst sagte harmlos »Danke«.
Kraforst III lachte höhnisch.
Vierzehn Tage später erhielt der Konsul Kraforst einen Brief, unterzeichnet von den Präsidenten Grilecher und Katz, in dem sie ihm unter den wuchtigen Lobeserklärungen den Posten eines einfachen technischen Direktors anboten; für den kaufmännischen Direktorposten sei schon eine erstklassige Kraft gewonnen.
Von Kraforst III stand kein Wort in dem Briefe.