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Der Frühling ging diesmal noch vorsichtiger als sonst in die wintergraue Stadt. Er machte allerhand schalkhaften Ulk: an der Wende Januar-Februar hatte er plötzlich fünf merkwürdig schöne und warme Tage gegeben; sie waren wohl nichts, als eine Witzelei, daß jetzt im Lande Eitel, das uns die grämliche Fastenzeit und die gräuliche Faschingszeit beschert hat, es schon Sonne genug gab, um damit ein Straßenfest auszustaffieren, daß die Göttin Ostara, in die dritte Götzenklasse versetzt, sich nach dem Lande Eitel zu richten habe und daß die Germanen mittlerweile mit den Eisthursen Kegel schieben könnten.
Das taten sie auch in der Metallstadt: Kegelschieben war der einzige Sport der Bürger in jener Zeit.
Dann kamen vier Wochen Schneeregen und Regenschnee, und die Straßen waren wieder leer.
Im März fing aber die gute Ostara an, doch einige Oberhand zu kriegen, sie setzte zehn Vorfrühlingstage durch und warf die Eierpreise um fünf Pfennige.
Darauf rückten nochmals die Eisthursen an und donnerten mit der Frostkeule alles nieder; die vorschnellen Triebe an Weinreben, Rosenstöcken in den Gärten mußten ihren Fürwitz mit dem Kopf bezahlen, die Wirte in den Vororten machten lange, die in der Stadt befriedigte Gesichter.
Im April ging eine lange und lächerliche Balgerei los; ein Landfremder hätte nicht gewußt, ob es in den Sommer oder in den Winter gehe.
Es war an einem solchen häßlichen Zwittertage, der eine Stunde lang um den Mittag etwas Sonne auf die Metallstadt goß und sofort nach Tisch mit einem Ruck eine ungeheure Nebelkappe wie eine Kaffeemütze über die ganze Stadt zog, deren Stoff er sich aus dem nördlichen flachen wasserreichen Industriegebiet geholt hatte – da kam Henders, der Kutscher Bannings, zu einem Literaten gelaufen, der ganz in der Nähe wohnte; Henders zitterte, grinste, stotterte » Hilfe, Hilfe, mein Herr hat sich aufgehängt«. Der Literat hörte auf, sich zu rasieren und jagte – Henders immer voran – mit dem Rasiermesser über die Straße, durch das Kellergeschoß, die Treppe herauf in das Klosett.
Dort hing der schwere, schwarze Banning an dem gebogenen Rohre des Wasserbeckens, das Gesicht eisblaß zwischen schwarzen Kopf- und Barthaaren.
Henders stemmte den Hängenden, und der Literat schnitt ihn ab; der fast zwei Zentner schwere Körper plumpste herab, die Schlinge wurde auch zermessert, – aber es war zu spät – Banning blieb tot.
Henders bebte weiter – fast zusammenhangslos – seine Geschichte heraus. Am Abend vorher hatte Banning Frau und Kinder fortgeschickt und sehr lieben Abschied genommen. Am Morgen hatte Banning sich im Keller schon einmal in die Schlinge gelegt, Henders hörte das Zappeln der Beine, war hingesprungen und hatte ihn mit einem Gärtnerfuchschwanz abgesägt, dann war Banning heruntergetaumelt, hatte wirr gesprochen und mittags dem Gärtner und Kutscher aufgetragen, ihm Essen zu holen:
»Ich bin gelaufen wie unser Pferd hin und zurück«, klagte Henders. »Ich bin nicht schuldig. Ich habe doch keine Schuld; ich hab keine Schuld.«
Am Abend trafen die Verwandten ein; spät, fast zur Nacht die Frau. Sie saß tränenlos in der Küche des Kellergeschosses auf einem Stuhl und wollte nicht herauf. »Nie mehr in dies Haus.«
Seit Monaten hatte sich die verschlossene Ruhe des Mannes in eine verstörte, bald fast verrückte Aufgeregtheit, oft Lustigkeit umgesetzt – mehr wußte die Frau nicht. Aber die Brüder der Frau gingen all den Röhren nach, durch die der Tote mühselig gekrochen war; der Buchhalter wußte am meisten.
Die Geldzinsen waren seit einem halben Jahr unbezahlt, und das Bankhaus Katz hatte den Kredit gekündigt. Alle anderen Banken hatten neuen Kredit geweigert. Eine kleine Bank wollte an die Sache herangehen, zog sich aber nach einigen Tagen zurück – der Inhaber hatte einen Wink bekommen, daß ein »Einbruch in ein seit Jahren gesichertes Kundengeschäft nicht straflos ablaufe«.
Nun rannte Banning los und suchte von seinen Häusern und Ziegeleien zu verkaufen, um die schwebende Bankschuld zu bezahlen – aber es fand sich, daß er seinen Gesamtbesitz auf einer Urkunde an Katz verpfändet hatte, Teilstücke ließ Katz nicht aus der Pfandschaft, sondern verlangte sofortige Deckung der ganzen Leihsumme von 300 000 Mark, für den Gesamtbesitz fand sich in der geldknappen Zeit kein Käufer. Vor einigen Tagen mußte eine letzte Unterredung Bannings mit Katz stattgefunden haben. Es gab keinen Ausstand mehr, der Zahltag war schon abgelaufen.
Die Schlinge hatte Banning schon um den Hals. So zog er sie selbst zu.
Das Begräbnis war anständig, ja feierlich, denn die Bannings waren altangesehene Bürger. Vereine traten an mit Fahnen, und die Bürgerschaft folgte, darunter Braß, Duwenspeck, Dieckmann und auch der Chef des Bankhauses Katz, welcher einen kostbaren Kranz gestiftet hatte mit der Aufschrift: »Dem langjährigen Geschäftsfreunde«.
Nach dem Begräbnis zog Braß seinen Bratenrock aus und ging in die Eintracht an den sechseckigen Tisch. Kirking, Grilecher, Dumpé, Dieckmann kamen zur feststehenden Minute, und man unterhielt sich ruhig über die Tagesereignisse. An einigen Nebentischen war etwas Lustigkeit, es schien, daß der Fasching, der draußen herumsprang, hie und da ein Loch durch die dicken Mauern dieser Bürgerfestung gestoßen hatte; es war so etwas wie Narrengeklingel in der Luft, und die aufsteigenden Wolken der Zigarren bildeten ab und zu Kringel, welche aussahen wie eine Narrenmütze.
Um 7,30 Uhr erschien der Oberbürgermeister, jemand schob ihm einen Stuhl unter, aber der Leiter der Stadt blieb stehen, rieb sich nach seiner Angewohnheit bei guter Laune die inneren Handflächen und sagte so laut: »Ich bringe eine interessante Nachricht, unser tüchtiger Mitbürger, Herr Uhlenburg, ist – geflüchtet.«
Der sechseckige Tisch rutschte – jemand mußte stark mit dem Fuß dagegen getreten sein, aber man konnte nicht feststellen, wer so gröblich gegen die guten Sitten verstoßen hatte – denn über der Tischkante bewahrte jeder Haltung.
Der lebhafte Anwalt Duwenspeck kam angelaufen: »Bei mir liegt ein halbes Dutzend Wechsel unter Protest«, schrie er. »Ist alles verloren?«
»Heizen Sie ruhig damit morgen den Büroofen an«, triumphierte Braß.
Der Oberbürgermeister hatte noch viele Wichtigkeiten in seinen zehn Taschen: auf eine Anzeige des Zement-Syndikates hatte der Staatsanwalt die Werke Uhlenburgs untersuchen lassen, sie erwiesen sich zum Teil als Schwindelbauten, die Maschinen oft ganz unfachmännisch, in einem Zementwerk stak eine alte Papiermaschine. Im Geldschrank stak dagegen wieder nichts, die Bücher waren verbrannt, die Spur des Uhlenburg führte nach Bordeaux, er schwamm wahrscheinlich auf einem französischen Dampfer nach Südamerika.
Dieckmann war merkwürdig beklommen. Braß sagte laut: »Heute nacht möchte ich nicht in der Haut Hofschultes stecken.« Jeder wußte, daß der Bankier Hofschulte blind dem Uhlenburg vertraut und ihm einen gewaltigen Kredit eröffnet hatte.
Dumpé« erklärte, alles seit Monaten gewußt zu haben, und trieb dafür im Saale einen Zeugen auf. »Dann sage ich Ihnen als Vorsitzender unserer Gesellschaft,« erklärte Duwenspeck, »Sie hatten die Pflicht zu warnen.«
Braß lachte höhnisch: »Wir haben seit Jahr und Tag gewarnt – aber kann diese verrückt gewordene Stadt noch Werte unterscheiden?«
»Stellen Sie mal fest, wie oft Uhlenburg hier verkehrt hat«, befahl der Oberbürgermeister dem Kastellan.
Der Kastellan nahm das Gästebuch und zählte umständlich: »Elfmal«, sagte er dann.
»Schade,« bemerkte der Oberbürgermeister ironisch, »sonst könnten wir heute über den ehrenwerten Herrn ballotieren« – – zwölfmal mußte jeder Gast sich in der Eintracht vorstellen, dann fiel die Entscheidung über Aufnahme oder Ablehnung.
Braß wurde an den Fernsprecher gerufen. Er blieb sehr lange.
Die Erregung hielt fast alle länger zusammen als sonst; viele erzählten ihre Erlebnisse mit dem gewandten Uhlenburg, einer hatte auf dem berühmten großen Zuge die Argonautenfahrt nach dem Main mitgemacht, welcher nach der langen Friedenszeit anfing die Bedeutung eines Feldzuges anzunehmen; er schmückte ihn aus wie ein Jagderlebnis, die Wunder dieses Zuges wuchsen ins Fabelhafte, und ein Tisch mit jungen Akademikern beschloß, das Erlebnis zu einem Heldenlied zu vertonen und es beim nächsten Faschingsball zur Drehorgel vorzutragen; sie begannen sofort zu reimen, andere Tische beteiligten sich, und es entstand in einer halben Stunde »Das neue Moritat-Lied vom Einfall des Raubritters Uhlenburg in Bayern und seinem kläglichen Ende in Patagonien«.
Mitten in diese fröhliche Reimerei und das Herumwerfen von Knittelversen wälzte sich Braß wieder in den Saal, setzte sich erst neben Grilecher und sagte fast aufgeräumt: »Geben Sie mir erst mal Ihre treue Pfote, Grilecher.«
»Erst mal drücken, Grilecher.« Er drückte sie stark.
Dann nahm er sein Glas: »Ich bitte Sie, meine Herren, mit mir auf die Gesundung und Reinlichkeit unserer Vaterstadt das Glas zu erheben. Unser zweitgrößter Mitbürger Herr Ommekamp ist heute vom Pleitegeier erfaßt und soeben verhaftet. Er verbringt diese Nacht in einer staatlich zur Verfügung gestellten Ehrenzelle!«
Diesmal war jeder Versuch des Saales und der Gesellschaft, die Tradition zu wahren, unmöglich geworden.
Am Nebentisch fiel ein Glas um, und Braß, der grad daneben saß, glaubte zu bemerken, daß Duwenspecks Beine aneinander schlugen. Alle sprangen auf. Nur der sechseckige Tisch blieb sitzen. Die andern fünfzig bis sechzig Gäste standen rufend und armfechtend um ihn herum. Man sah nie so deutlich wie heute abend, daß tatsächlich der sechseckige Tisch, wie Homer es ausgedrückt hätte, der Nabel der Erde war.
Was nicht im Saale war, ballte sich um die zwei Fernsprechzellen der Eintracht, und bald flössen von allen Seiten die Berichte. Aller fünf Minuten kam ein Gast mit einem mündlichen Extrablatt in den Saal: die Kassen Ommekamps im Süden zahlten seit drei Tagen nicht aus; die Hauptkasse am Ort ist »wegen Renovierung« seit gestern nicht geöffnet. Im Münsterland haben die Kassen noch gestern Geld angenommen. Staatsanwalt Dörnfeld bearbeitet den Fall. Ommekamp ist auf dem Bahnhof verhaftet worden, als er von Köln kam.
Die Eintracht hielt noch nie so einträchtig zusammen – bis in die volle Nacht.
In den Kreisen der Kaufmannschaft war der Fasching abgesetzt – die Schläge kamen auch nacheinander, wie Felssprengungen in einem großen Steinbruch. Sieben Fabriken Uhlenburgs stürzten um, vierzig Filialen Ommekamps wurden von schreienden und weinenden Menschen belagert. Bauern, Rentner, Handwerker hatten alles verloren, verarmte Offiziere mußten den Abschied nehmen, Verlöbnisse verarmter Mädchen wurden aufgehoben, Villen einst reicher Besitzer wurden zu Dutzenden zwangsversteigert. Das alte erstklassige Bankhaus Hofschulte mußte den Konkurs anzeigen, es hatte Millionen an Uhlenburg verpumpt. Die schon gereizte Berliner Börse ging täglich mit den Kursen herunter, und in die nächste Woche fiel der berühmte »schwarze Freitag«, der nach einem schrecklichen Tumult und Geschrei der unterlegenen Haussiers mit einem Krach den Tag abschloß. Das Unwetter tobte sich aus in den Provinzen, in denen das Echo des Berliner Donners losbrach – sechs Kuxenfirmen verfielen hilfloser Pleite, darunter das größte und waghalsigste Spekulationshaus Offenbacher, dessen Inhaber zur Wut der Mitspekulanten den »Differenz-Einwand« erhob und dann selbst mit dem Besitz seiner Frau, den er ihr seit Jahren Übermacht hatte, auf glänzendem Fuße weiter lebte; die Börse warf ihn zwar heraus, aber er fuhr nach wie vor auf seinem prachtvollen Schimmelgespann durch die Metallstadt zum Theater und zu den Konzerten der musikalischen Gesellschaft.
Man raunte auch um Neveling herum. Der zuckte hochmütig die Achseln: »Es gibt zwei gute Möglichkeiten,« sagte er: »man muß entweder nichts pumpen, oder so nachdrücklich, daß selbst die Großbanken einen nicht fallen lassen können.«
Der Frühling siegte endlich – aber in den Herzen der Leute, welche die Metallstadt lenkten, kam kein Frühling.
Doch die dreihundert Schlote der Stadt dampften noch.
Noch war Arbeit; rastlose Arbeit kämpfte noch, die Sünden andrer gut zu machen.