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Drittes Kapitel.

Die Sonne neigte sich bereits zum Untergange als die beiden waghalsigen Abenteurer, schlendernd durch mehrere Straßen, in der oberen San-Agostino-Gasse anlangten, um in die Plaza Mayor einzulenken. Ein gewaltiger Lichtstrom, der die ganze schnurgerade, meilenlange Straße plötzlich aufhellte, blendete ihre Augen, indem er die ganze östliche Reihe der Häuser in tausend phantastischen Gestalten vor ihren Blicken schwirren ließ, während die westliche bereits in die Dämmerung hinübergraute. Die grünen, gelben, blaßroten, lichtblauen und wieder al fresco bemalten oder mit Porzellan überkleideten Häuser schienen in den zitternden Strahlen der Abendsonne ebensowohl zu tanzen als die bunten Haufen, die lärmend und tobend aus den unteren Teilen der Stadt herausschwärmten; Ströme von Wohlgerüchen, die aus den tausend Blumenvasen und den Gärten der Dächer sich in der Abendluft entwickelten, steigerten den Sinnenrausch zur Betäubung. Von dem äußersten Ende der Straße her funkelten in der Abendsonne die glänzenden Porphyrmassen der Gebirge Tenochtitlans herüber und schlossen sich gewissermaßen an die Häuserreihen gleich ungeheuern Wällen glühenden Erzes an, das im Gusse fortschwillt. Ferneher glänzte der Itztaccihuatl, mit seinem schneebedeckten Haupte, einen Strom von Licht über die ungeheuern Porphyrmassen gießend, die zu seinen Füßen liegen. Die beiden Wanderer standen in sprachlosem Anblicke verloren.

» Caramba,« rief Pedrillo endlich, und seine Brust schwoll sichtlich von jenem tiefen Entzücken, mit dem der Südländer die herrlichen Naturszenen seines Landes fühlt. »Wie schön, wie herrlich ist unsere Stadt, das Haupt der ganzen Welt! Mexiko für immer!«

»Ach, wie schön und herrlich!« spottete sein Gefährte, indem er auf die zerlumpten Volkshaufen deutete, die, untermengt mit reich gekleideten Männern und Damen, nun stärker und stärker in die Piazza zu strömen anfingen, unter diesen ein zahlreicher Schwarm von Indianern, die vom Veracruztore herabkamen und bei deren Erscheinen unser Pedrillo mit den Zähnen knirschte und dann, gleichsam als wäre er nicht fähig, den ekelhaften Anblick zu ertragen, seinen Gefährten anfaßte und ihn mit sich, der Plaza zu, fortriß.

Die Indianer, deren Anblick unseren Pedrillo so sehr aus seinen Träumen geschüttelt, mochten einige Tausend sein, meistens alte Männer, Weiber und Kinder. Ihr trostloses Wesen verriet herbe Drangsale, gänzliche Ermattung und eine lange, mühevolle Wanderung. Die Weiber hatten wenig mehr am Leibe als Fetzen von schwarzen, groben Wolldecken, in deren Löcher sie die Köpfe gesteckt hatten, so daß die Reste flatternd um ihre häßlichen, nackten, verdorrten Leiber hingen. Auf ihren Rücken hockten die Säuglinge, während die erwachseneren Kinder ganz nackt neben den Müttern einherliefen und sich an ihren Lumpen festhielten. Die Männer hatten Fetzen von Magueyleinwand um ihre Lenden, sonst aber keine Kleidung, und ihre straff über die Gesichter herabhängenden Haare gaben ihnen einen ungemein verstört widerlichen Ausdruck. Kaum daß sie mehr aufrecht zu stehen vermochten, stolperten sie der Plaza zu, gleich einer Herde Viehes; nur ihre düster und tückisch umherschielenden Blicke verrieten noch jene Ungebeugtheit und jenen tief versteckten indianischen Grimm, den weder körperliche noch geistige Leiden ganz zu überwältigen vermögen. Als sie auf dem Platze angekommen waren, lagerten sie sich – ein elender und beinahe scheußlicher Knäuel. Ein düsteres Gemurmel ausgenommen, war kein Laut von ihnen zu hören, und die prachtvollen Kirchen und Paläste des herrlichen Platzes waren nicht imstande, ihnen auch nur einen Blick abzugewinnen. Die Haufen Leperos, Mestizen, Mulatten und Kreolen, die schwärmend auf- und niederwogten, hatten sich scheu vor dem unsäglichen Elende der Schar zurückgezogen, die, einem Schwarme Heuschrecken nicht unähnlich, ebenso unerwartet eingefallen und gleich diesem bereits Spuren ihres ekelhaften Daseins in vergiftenden Ausdünstungen und Unrat zurückzulassen begannen. Die Glocken von den Türmen der Domkirche hatten sechs geschlagen; beim letzten Schlage fielen die Ave-Maria-Glocken der ganzen Stadt ein. Tausende entblößten ihre Häupter und murmelten ihr Abendgebet, so daß der ungeheure Lärm plötzlich in eine Grabesstille und ebenso schnell wieder in das lauteste Tosen überging. Der letzte Glockenschlag war noch nicht ganz verklungen, als ein Trupp Ulanen aus dem linken Flügel des vizeköniglichen Palastes hervortrabte. Ohne einen Laut von sich zu geben, brachen die Reiter auf den Knäuel ein, Treibern gleich, die ihre gewichtigen Knüttel auf den Rücken der zögernden Tiere spielen lassen. Erst als die Ulanen in die vordersten Reihen eingedrungen waren, fing der Knäuel an sich zu bewegen, doch so langsam, daß bereits mehrere Weiber und Kinder niedergeritten und von den Hufen der Pferde zertreten waren, ehe sich die übrigen zu regen anfingen. Nur zuweilen entfuhren dem Haufen schneidend heulende Töne, dem Pfeifen des Orkans durch die Taue und Segelwerke vergleichbar. Kläglich war es übrigens anzusehen, wie einzelne Weiber die zuckenden Leichname ihrer Kinder unter den Pferdehufen hervorzerrten, sie mit aufgerissenen Augen anstierten, mehr Orang-Utangs in ihrem höchsten Schmerze als Menschen ähnlich, und dann mit Klagelauten, die wenig von denen dieser Tiere verschieden waren, in die Straßen einbrachen.

Das Ganze bot ein seltsames Schauspiel dar. Wie vom Winde hergeblasen, waren die Indianer erschienen, und mit nicht minderer Schnelligkeit hatte die unsichtbare Gewalt ihre Werkzeuge herbeigeführt, sie wieder zu vertreiben. Die übrigen Volkshaufen waren in jener Gefühllosigkeit stehen geblieben, welche Menschen eigentümlich ist, die an derlei Szenen gewohnt sind. Nur wenige hatten sich in die noch immer offene Kathedral- und San-Francisco-Kirche geflüchtet, aus denen sie, nachdem die Ruhe hergestellt, wieder zum Vorschein kamen.

»Was Teufel hat das zu bedeuten?« fragte unser Pedrillo, der, seine Zigarre rauchend, ganz gemütlich der unmenschlichen Treibjagd zugesehen hatte. »Eure Gachupins sind doch sonst, was man sagt, väterlich gesinnt gegen die gente irracionalUnvernünftiges Volk wurden und werden die Indianer noch immer von den weißen Mexikanern geheißen.

»So so«, versetzte Pedro, »doch diese da haben etwas auf der Kreide, wie du soeben hören magst«.

Ein Alguazil schrie eine Art Proklamation der Menge vor, die er zur Ruhe aufforderte.

»Ruhe, Ruhe! Volk von Mexiko!« rief der Beamte, »Ruhe, welche da ist des Mexikaners erste Pflicht und Eure besonders, die Ihr unter dem Schutze des Auges Sr. katholischen Majestät steht, welches da ist unser allergnädigster Herr, der Virey, der beschützt und sieht und bewacht die Ruheliebenden und verdirbt die Gottlosen und Widerspenstigen mit Feuer und Schwert, so wie Ihr an den Cabecillas von Zitacuaro gesehen habt. Die Gerechtigkeit verfolgt die Ruhestörer, wo sie sich zeigen. Es lebe Se. Majestät Ferdinand VII. und Se. Exzellenz unser gnädiger Vizekönig! Er lebe hoch!«

Einige Spanier versuchten das Vivat nachzukreischen, wurden jedoch von einem tobenden »Nieder!« übertäubt, das tausend Kehlen zugleich brüllten. Die öffentliche Stimmung fing an, sich schnell für die unglücklichen Einwohner von Zitacuaro zu erklären.

»Arme Teufel!« schrie einer, »ich glaube, diese Gente irracional wären genug bestraft worden als der Obermetzger ihre Stadt niederbrannte, ihre Felder verwüstete, ihre Bäume umhieb, die Männer alle schlachtete und die Weiber und Kinder mit einem Zettel wegschickte. Mit dem können sie sich wärmen statt der Wolldecke«.

»Man jagt sie von Zitacuaro«, schrie ein zweiter, »nach Guanaruato, von Guanaruato nach Valladolid, von Valladolid nach Puebla, von Puebla nach Sombrerete. Überall dezimiert man sie, und so bekommt man Ruhe; das ist Eure Amnestie!«

»In Guanaxuato«, brüllte ein dritter, »haben sie Ruhe auf einmal gemacht; vierzehntausend Männer, Weiber und Mädchen und Kinder an einem Tage geschlachtet. Das muß ein Fressen für die Geier und Wölfe gewesen sein!«

Doch als wollte die unsichtbare Macht, die soeben diesen gräßlichen Beleg ihrer unbegrenzt schrecklichen Gewalt der Menge geliefert, diese keinen Augenblick zu gefährlichem Nachdenken kommen lassen, eröffnete sich sofort eine neue Szene. Die Ulanen hatten sich nämlich kaum an den verschiedenen Zugängen der Plaza und des vizeköniglichen Palastes aufgestellt, als sich die Tore des letzteren öffneten und ein Zug von Männern herausschritt, der die allgemeine Aufmerksamkeit mit einem Male fesselte.

Es waren ihrer vierundzwanzig; ihrem Äußern nach zu schließen Zwittergeschöpfe, zwischen Leibgardisten und Hausdienern die Mitte haltend. Sie hatten gewaltige, aufgestülpte Hüte, reich mit Goldtressen besetzt und einem silbernen Schilde versehen. Ihre Uniformen bestanden aus einer roten Jacke, mit einer Menge silberner Knöpfe besetzt, ebensolchen Beinkleidern, gleichfalls mit Goldtressen und silbernen Knöpfen längs den Hüften bis zu den Knien verziert; ihre Gamaschen, von braunem Leder, waren hinten offen. Als Waffen hatten sie einen kurzen Degen und einen langen Spieß oder Hellebarde. Die Uniform ihres Anführers unterschied sich bloß durch größere Feinheit und reichere Verzierung. Statt der Hellebarde trug er einen Kommandostab mit goldenem Knopfe, dem eines Regimentstambours nicht unähnlich; auch sein Marsch glich dem eines solchen Würdenträgers, indem er, den rechten Fuß schnell vorwerfend, die Zehe einen Augenblick balancierte und dann ebenso gravitätisch den linken nachsandte. Diese Bewegung, von der größten Hälfte der Truppe nachgeahmt, verursachte unter der gaffenden Menge ein lautes Gelächter.

»Elende Rebellen! Pöbel, den die Hölle bald verschlingen möge!« brummte der Kapitän der vizeköniglichen Leibgarde, der, ohne die Lachenden eines Blickes zu würdigen, so weit vorschritt, bis er sich beinahe der Reiterstatue Karls IV. mitten auf dem Platze genähert hatte. Das Gelächter war immer stärker geworden; vergebens, daß einige Spanier, deren kastilianischer Stolz sich durch den wirklich lächerlichen Aufmarsch gekränkt fühlte, dem einhertrabenden Kapitän zuriefen; er marschierte fort, gefolgt von seinen Truppen, deren eine Hälfte im militärischen Schritte nachkam, während die andern, Truthühnern gleich, die gedrechselten Bewegungen ihres Befehlshabers nachäfften.

»Mutter Gottes!« rief er auf einmal, als er, vor der Statue schwenkend, den Marsch der kleinen Truppe in seiner ganzen lächerlichen Gravität übersah. »Hat jemals ein Kapitän der Hellebardiere Sr. Exzellenz des allergnädigsten Vizekönigs von Neuspanien so etwas gesehen? Meine gnädigen Herren, um der Liebe Gottes willen! Wenn Sie nun Se. Exzellenz unser Allergnädigster oder Se. Exzellenz unser allertapferster – – Alle Teufel! Wer hat Euch geheißen, den Parademarsch Eures Kapitäns nachzuahmen? Heilige Jungfrau! Da habt Ihr es, wenn man mit rohen Dragonern den Besamanos Buchstäblich Handkuß, wurden die Hoftage und Soirées des spanisch königlichen und mexikanisch vizeköniglichen Hofes genannt, weil an diesen der hohe Adel, die Geistlichkeit und Beamten zum Handkusse zugelassen wurden. halten soll. Gestern wurden mir die Ordres übergeben und zehn solcher Schlingel, und jetzt sieht Mexiko die Folgen«.

»Mexiko kümmert sich einen Teufel um Euch und Eure Trabanten, sehr ehrenfester Herr!« rief eine Stimme aus dem Haufen. »Wünscht Euren Dragonern Glück zu ihrem friedlichen Feldzuge; ihre Kameraden würden viel darum geben, wären sie hier«.

Der Kapitän der Leibtrabanten warf einen stolzen, finstern Blick auf den Sprecher, schüttelte das Haupt und marschierte in einem weniger gezierten Schritte dem Portale des Palastes zu, vor welchem er seine Leute zwei Mann hoch aufmarschieren ließ und dann, seinen Kommandostab schwenkend, folgenden Tagesbefehl von sich gab:

»Habt acht, Freunde, das ist nun der fünfzehnte Besamanostag, den unser allergnädigster Herr und Gebieter seit achtzehn Monaten hält, und es ist Eure verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, Vigilancia an den Tag zulegen. Vigilancia sage ich! Hört Ihr? Vigilancia! Denn das Volk ist heute toll. Vigilancia denn! Wenn der Erzbischof kommt, so wißt Ihr, was zu tun; wenn Se. Exzellenz, der Allertapferste, der Sieger von Alculco, von Marfil, von Calderon kommt, wird ihm kein rechtgläubiger Spanier die Ehre versagen. Mit einem Worte, Hochdieselben werden empfangen wie Höchstdieselben der Virey selbst, Paukenschlag und Präsentation. Ist es ein Oidor, Mitglied des höchsten Gerichtshofes von Mexiko. verstehen Sie, meine Herren, so wird präsentiert. Kommt ein Rat der Finanzkammer, so wird gleichfalls präsentiert. Ist es ein Ratsherr oder ein Domkapitular, und ist er ein Spanier, so wird gleichfalls präsentiert. Was nun die adeligen Kreolen betrifft, so will es sich zwar nicht geziemen, daß geborene Spanier derlei Menschen Ehrenbezeugungen offerieren; allein wir haben Winke erhalten, versteht Ihr, Winke, und man hat Ursache sie zu schonen, obwohl sie im Grunde nicht mehr Schonung verdienen als –«

Die letzten Worte verschluckte der Capitano auf seiner eilfertigen Retirade in das Palasttor; denn wohl fünfzehn Stilette waren, von unsichtbaren Händen geschleudert, ihm in der einbrechenden Finsternis auf das Haupt, Brust und Schenkel geflogen, und bloß die weite Entfernung selbst hatte sein Leben gerettet.

In seiner wütenden Promenade innerhalb des Torweges wurde er plötzlich durch ein lautes Lachen unterbrochen.

»Hört, Ihr Männer und Weiber von Mexiko!« schrie eine Stimme, die wieder unserem Pedrillo angehörte. »Hört, vorzüglich Ihr Kreolen, was dieser Kriegsheld in Friedenszeiten für eine Vorschrift gibt. Die Kreolen, sagt er, müsse man noch einstweilen schonen, obwohl –«

»Tod den Spaniern!« brüllten zwanzig, hundert und dann tausend Stimmen in furchtbarem Chorus.

»Teufelsmenschen!« schrie der Kapitän, dessen panischer Schrecken sich mittlerweile gelegt hatte. »Aufruhr, Rebellion!« schrie er, aus dem Tore springend. »Bei der heiligen Jungfrau, Aufruhr!« –

Der grimmige Kapitän, weit entfernt, das Toben durch sein Geschrei zu beschwichtigen, veranlaßte ein um so lauteres Gebrülle von Tod den Spaniern! das häufig von einem schallenden Gelächter begleitet war, in welch letzteres auch der Offizier der vor dem Palasttore stationierten Ulanen einstimmte. Der Zorn unseres Helden wandte sich sofort auf diesen näheren Gegenstand, und mit einer Stimme, halb erstickt vor Wut, sprang er auf ihn los; doch schnell sich wendend stand er stille, und den Offizier vom Kopfe zu den Füßen messend, murmelte er ein »Elender Kreole«, und dann, als halte er es unter seiner Würde, an einen Kreolen ein Wort zu verlieren, zog er sich wieder zurück.


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