Paul Schreckenbach
Die letzten Rudelsburger
Paul Schreckenbach

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VII.

Am Abend des dritten Tages vor Sankt Augustinus' Feiertag kehrte der Rudelsburger heim. Sein Haupt war etwas weinbeschwert und sein Gemüt sehr froh gestimmt, denn die Kevernburger Gebrüder und Vettern hatten seine Tat gebilligt. Sie fanden es ganz recht, daß er den auf seinem Gebiete als Wilddieb ergriffenen Sohn des Naumburger Ratsherrn in seinem Kerker hielt und nur herausgeben wollte gegen ein gewaltiges Lösegeld. Die Summe erschien ihnen allerdings sehr hoch, aber keiner zweifelte daran, daß sie der Merkwitz aufbringen könne. Denn alle diese schloßgesessenen Herren hatten eine geradezu abenteuerliche Vorstellung von dem Reichtum der großen Kaufleute in den Städten. In den Nürnberger Truhen, so meinten sie, liege soviel Geld, daß man das halbe römische Reich dafür kaufen könne, und selbst hinter Naumburgs Mauern vermuteten sie soviel gemünztes Silber und Gold, daß sie alle wähnten, sie müßten überreich werden, wenn es ihnen gelinge, den Bürgern ihren Besitz in ehrlicher Fehde zu entreißen. Und darnach ging ihr Sehnen und Trachten. Nichts nährte so sehr ihren Haß, nichts stachelte immer ihren Neid so von neuem an, wie der Gedanke, daß die Städter immer reicher, sie selbst immer ärmer wurden. Gerade in den letzten Jahren hatte der Ruin des uralten Geschlechts der Saalecker gezeigt, daß auch die stolzesten Familien vor einem Versinken in klägliche und entwürdigende Armut nicht sicher waren, wenn sie nicht lernten zu erwerben und das Erworbene zusammenzuhalten. Der letzte Saalecker lebte noch als armer Mönch in demselben Kloster Pforte, das seine Ahnen reichlich mit Wald und Ackerhufen ausgestattet hatten, ihre Burg gehörte dem Naumburger Bischof, ihre Felder und Wiesen hatten die städtischen Pfandbesitzer und Gläubiger ein Spottgeld an Fremde verkauft. Jedem Ritter, der dort vorbeizog, erschienen seitdem die beiden hohen Türme der starken Feste wie zwei warnende Riesenfinger, die ihm zudräuten: So kann dir's auch ergehen! Darum hießen sie fast alles gut, was einer gegen die Naumburger tat, und nun besonders diesen Merkwitz zu schröpfen, dünkte sie löblich und rühmlich zu sein. Denn er war der Feldhauptmann der Stadt, auf den Burgen ringsum als der Klügste, Kühnste und Entschlossenste unter dem ganzen Krämervolke anerkannt und hier und da auch gefürchtet. Wer ihn schädigte, tat der Stadt Abbruch und der ganzen Ritterschaft einen Dienst; auch war ja trotz der schwindelnden Höhe der Summe kein Zweifel, daß sie der reiche Obmann der Pfeffersäcke zusammenbringen konnte und auch zahlen würde, um seinen Sohn aus dem Verließe der Rudelsburg zurückzuerhalten.

Auch Kurtefrund selbst zweifelte daran keinen Augenblick. Er hatte von seinem im Jähzorn geleisteten Eide den Kevernburgern nichts erzählt. Warum auch? Morgen oder übermorgen erschienen ohne Frage die Unterhändler der Naumburger de- und wehmütig auf seinem Schlosse und zahlten, wenn auch vielleicht knirschend und rachebrütend, was er gefordert hatte. Denn Merkwitz wußte, daß Werner Kurtefrund seine Eide hielt, starr und zähe, sogar wenn sie ihm Nachteile brachten. Das war sein Ruhm im ganzen Lande, das war sein Ruhm vor ihm selbst. Setzte ihm hin und wieder sein Gewissen zu wegen seiner Sünde und Übeltaten, so warf er ihm dieses entgegen: Ich habe noch nie einen Eid gebrochen, ich habe noch nie einen Freund verlassen. Ich bin wohl gegen viele hart, aber nie gegen einen untreu gewesen. Daran richtete er sein Selbstgefühl auf, und darum hoffte er, daß die Heiligen seine Spenden und Gebete gnädig aufnehmen und ihn trotz bedenklicher Übertretungen der meisten kirchlichen und göttlichen Gebote doch vor der Hölle bewahren und in den Himmel hineinbringen würden. Denn es kamen Tage und Nächte, wo er sich um das Heil seiner Seele ängstigte und wo er von fern den glühenden Höllenrachen geöffnet sah. Dann war er geneigt, gute Werke zu tun, den Heiligen zu opfern und Almosen zu geben, sogar zu fasten, wenn es nicht allzu lange dauerte. Es waren die letzten Reste einer strengkirchlichen Erziehung, die so zutage trat. Der eifrige Mönch, der ihn erzogen hatte, als er ein Knabe war, hatte es nicht vermocht, sein wildes, leidenschaftliches Herz zum Guten zu lenken, aber einige Grundsätze der Kirchenlehre hatte er ihm doch so tief in die Seele hineingehämmert, daß sie darin unaustilgbar hafteten. So kam es, daß Werner Kurtefrund noch ein Gewissen hatte und wohl wußte, was gut und böse war.

So wußte er auch gar wohl, daß er mit seinem Eide gefrevelt hatte, und er verspürte eine Beklemmung bei dem Gedanken, daß er wirklich in die Lage kommen könnte, das Bluturteil an dem Naumburger Jüngling zu vollstrecken. Aber freilich – das war undenkbar. Der Merkwitz konnte es nie darauf ankommen lassen, ob er blutigen Ernst machen würde oder nicht. Er mußte das Lösegeld zahlen, wie hart und bitter es ihn auch ankommen mochte.

Unter solchen Erwägungen ritt Kurtefrund in seine Burg ein. Es war ihm daher eine schwere Enttäuschung, als er schon unter dem Tore erfuhr, aus Naumburg sei niemand dagewesen als ein bischöflicher Gesandter, der sei aber sogleich wieder abgezogen und wolle morgen wiederkommen. In übler Laune und mit gefurchter Stirn betrat er sein Gemach, und dort fand er seine Tochter vor, die stundenlang auf ihn gewartet hatte. Es war etwas in ihrer Haltung und ihrem Blicke, was ihm nicht gefiel, und unbehaglich rückte er auf seinem Sitze hin und her, als sie vor ihn hintrat und die Rede des alten Hogeniste Wort für Wort wiederholte.

Als sie geendet hatte, stützte er sein Haupt in die Hand und blickte starr und finster vor sich hin. Schon dachte Gertrudis frohlockend, sie habe gewonnenes Spiel, da fuhr er mit einem Male auf, warf den Kopf in den Nacken und brach in ein höhnisches Lachen aus.

»Alles Faseleien des Alten, der nun einmal dem Krämer wohl will!« sagte er mit einer wegwerfenden Gebärde. »Zum ersten: Der Merkwitz wird zahlen.«

»Täusche dich nicht, Vater, er wird's nicht tun,« versetzte Gertrudis kurz.

»Ha! Du meinst, er ließe sein Fleisch und Blut in den Tod gehen, wenn er es am Leben erhalten könnte mit seinem Gelde?«

»Sein Geld würde sich gegen seine Stadt kehren, käme es in deine Hand, das weiß er, denn ihm ist bekannt, was du gegen Naumburg sinnst. Darum läßt er eher seinen Sohn in der Todesangst, als daß er dich in den Stand setzt, seiner Stadt zu schaden. Der Mann denkt edel!«

Kurtefrund warf ihr einen finsteren Blick zu. »Schämst du dich nicht, den Krämer zu loben?«

»Lob dem, der Lob verdient, und wenn er ein Krämer wäre! Der Merkwitz ist aber edel wie wir, wenn er auch in der Stadt wohnt, und er zeigt ja hier sein edles Blut.«

»Zum Henker!« rief Kurtefrund jetzt schon gereizt, »willst du ein preisendes Lied singen auf den König der Gewandschneider, so gehe hinüber zu den Mägden und setze dich vor deine Spindel, aber mein Ohr verschone damit!«

»Gern höbe ich mich von dannen, Vater,« sagte die Jungfrau traurig, »aber ich kann es noch nicht. Vergönne mir eine Frage: Willst du, wenn der Merkwitz nicht zahlt, den Knaben wirklich zu Tode bringen?«

»Weib!« schnob Kurtefrund, »weißt du nicht, daß ich's geschworen habe?«

»Einen sündhaften Eid zu brechen, ist keine Sünde!« rief Gertrudis. Sie sank mit einem Male zu Boden und umfaßte seine Knie. »Vater, Vater, höre auf mich!« flehte sie. »Nur dieses eine Mal höre auf mich! Beflecke deine Hände nicht mit diesem Blute! Schicke den Knaben seinem Vater zurück, er hat genug gebüßt im Turm! Ich bitte dich auf den Knien darum, tue das Böse nicht, das du vorhast!«

Kurtefrund schüttelte sie unwillig ab. Ihre Bitte griff ihm ans Herz, aber er wollte nicht auf sie hören, und um die mahnende Stimme in seiner Brust zu übertäuben, brach er in ein lautes Schelten, Poltern und Zanken aus. »Scher dich fort!« schrie er. »Mische dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen! Das sind keine Weiberfachen! Du hast mir als meine Tochter zu gehorchen und nur zu reden, wenn ich dich frage! Fort! Hinüber zu deinen Dienerinnen!«

Gertrudis erhob sich von ihren Knien. Einen wehen Blick warf sie noch auf ihren Vater, dann schritt sie ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus. Der Ritter aber lehnte sein Haupt an die Mittelsäule des Fensters und blickte düster hinein in das verglimmende Abendrot. Was sollte nun werden, wenn der unglaubliche Fall eintrat, daß der Krämer nicht zahlte, ein Fall, über den er bis jetzt überhaupt gar nicht ernstlich nachgedacht hatte? Das konnte er sich nicht verhehlen: Hielt er dann seinen Eid und wurde der Jüngling also ein Opfer seines wilden Jähzorns, so mußte das Aufsehen machen im ganzen Lande, und die Naumburger würden alles daran setzen, diese Tat zu rächen. Sie selbst freilich fürchtete er nicht, auch ihren Bischof nicht, obwohl ihm gerade jetzt seine Feindschaft nicht gelegen kam. Aber hatten sie sonst Aussicht, einen mächtigen Arm für ihre Rechte zu finden? Kaiser Ludwig saß in seinem München und schlug sich zurzeit mit dem Papste herum. Er hatte nur im Süden des Reiches Macht, nördlich des Mains gehorchte ihm nur, wer wollte, und auf den Straßen erklang das Spottlied: »O armer Lutz von Bayernland, deine Macht ist Sand, dein Krönlein Tand.« Und doch konnte ihm die kaiserliche Acht verderblich werden, wenn es dem Schwiegersohn des Kaisers, dem Landgrafen Friedrich von Thüringen, gefiel, sie zu vollstrecken. Mit diesem Herrn war nicht zu spaßen, seine Tatkraft war ebenso groß wie seine Macht, und er haßte die ritterlichen Gewalttaten und ahndete sie, wo er nur konnte. Überdies war er sein Lehnsherr und konnte ihn vor sein Gericht fordern. Doch war zu hoffen, daß er das gerade jetzt unterlassen und sich gar nicht in den Handel einmischen würde. Denn die Großen des Landes, die Orlamünder, Schwarzburger und Hohensteiner Grafen an der Spitze, rüsteten insgeheim eifrig zu einer neuen Schilderhebung gegen ihn, nachdem er sie zwei Jahre vorher mühsam gebändigt hatte. Das wußte der kluge und wachsame Fürst ohne Zweifel, und deshalb würde er wohl Bedenken tragen, gerade jetzt den Herrn der mächtigen Burg in die Arme seiner Feinde zu treiben.

Nein, von der Wartburg aus drohte schwerlich eine Gefahr. Aber der Gedanke an einen andern fiel ihm mit einem Male schwer auf die Seele, an den Schenken von Tautenburg. Der war zwar der Naumburger Feind und sein Freund, aber diese Tat würde er in seinem hochgespannten Gerechtigkeitsgefühl ganz sicherlich nicht billigen, und es bestand sogar die Gefahr, daß er um ihretwillen von dem Verbündnis zurücktrat. Jedenfalls war es gut, wenn er sie nicht durch einen anderen erfuhr, und deshalb beschloß er, morgen in der Frühe nach dem Schlosse Tümpling zu reiten, wo der Schenk sich zurzeit aufhielt. Eine Freude war ihm diese Fahrt nicht, aber sie mußte sein.

Noch immer umwölkten Antlitzes begab er sich in die große Halle, wo schon die Mannen und Dienstleute harrten, daß er das Zeichen zum Anfange des Mahles gebe. Er schoß einen finsteren Blick nach dem leeren Stuhle seiner Tochter, sprach zunächst wenig, trank aber das Erfurter Bier in ungeheurer Menge und wurde in der Zeit einer halben Stunde wieder frohen Mutes. Mit einem guten Rausche suchte er in der Mitternachtsstunde sein Lager auf. Das hinderte ihn keineswegs, mit dem Frührote wieder wach zu sein, und als die ersten Strahlen der Morgensonne über die Zinnen der Rudelsburg blitzten, ritt er mit fünfzehn reisigen Knechten von dannen. Er hatte nur hinterlassen, daß er am Abend zurück sein werde.

Klaus Kyburg erwachte durch den Lärm am Tore und sah ihn abziehen. Darob verwunderte er sich sehr, denn heute mußten doch die Gesandten des Bischofs wiederkommen, die gestern den Burgherrn nicht angetroffen hatten. Es sah ja geradezu aus, als wolle er ihnen aus dem Wege gehen. Sollte er wirklich seinen abscheulichen Eid halten und auf Abmahnungen nicht hören wollen? Zuzutrauen war es ihm. Er dachte an das, was er gestern aus dem Munde seiner Tochter gehört hatte, und es stieg ein Zorn in seiner Seele auf gegen den herrischen Mann, der frech und unbekümmert mit Menschenleben spielte. Zugleich erfaßte ihn tiefe Betrübnis, wenn er an den Schmerz des geliebten Mädchens dachte.

Er kleidete sich an und beschloß, heute die Frühmette zu besuchen. Denn Pater Conrad begann schon, ihn mit feindseligen oder wenigstens argwöhnischen Blicken anzusehen und von Heiden und Ketzern zu murmeln. Das Geläut der kleinen Glocke, das die Burgbewohner alltäglich zum Frühmorgengottesdienst einlud, klang scharf und hell durchs Fenster herein.

Da wurde kräftig an seine Tür gepocht, als schlüge eine schwere Reiterhand dagegen, und ehe er »herein« sagen konnte, erschien auf der Schwelle die große, vierschrötige Gestalt der alten Obermagd Wendelgard. Schön war sie nicht, aber treu, ja, mit geradezu hündischer Treue war sie ihrer jungen Herrin ergeben. »Ihr sollt, wenn die Messe aus ist, vorkommen in des Herrn Gemach. Mein Fräulein will mit Euch reden, niemand soll's wissen,« sagte sie mit ihrer tiefen, knurrenden Stimme. Einen Morgengruß schien sie nicht für nötig zu erachten.

Kyburgs Herz frohlockte. Die er liebte, beschied ihn zu sich, wollte offenbar allein mit ihm reden, vielleicht ihm etwas anvertrauen. Das war mehr, unendlich viel mehr, als er nach seinem kurzen Verweilen auf der Burg hätte hoffen können. Seine Brust hob sich, und seine Augen blitzten.

Die Alte sah das mit ihren scharfen Augen sehr wohl, hob höhnisch die Oberlippe und führte den Zeigefinger der Rechten bedeutungsvoll an die Stirn. »Lasset Euch keine Narrheit in den Sinn kommen,« sagte sie verächtlich. »Die Herrin hat einen Auftrag für Euch, und ich stehe vor der Tür.«

Kyburg mußte unwillkürlich lachen. »Dann ist das Gemach in derselben Weise gehütet, wie die Höhle, in der Held Siegfried den Nibelungenschatz erbeutete,« sagte er in verbindlichem Tone. »Melde deiner Herrin, daß ich zur bestimmten Zeit da sein werde. Ist sie jetzt in der Kirche?«

»Das kann Euch nicht kümmern!« erwiderte die treue Wendelgard erbost, denn sie kannte die alten Sagen und hatte deshalb seine Anzüglichkeit gar wohl verstanden. Ohne ein weiteres Wort stampfte sie die Treppe hinunter, und Kyburg hörte sie noch unten vor sich hinbrummen.

Eine halbe Stunde später stand er vor Gertrudis. Die Jungfrau saß in der Fensternische, in der ihr Vater gewöhnlich zu sitzen pflegte, und heftete den Blick ihrer großen, klaren Augen fest auf sein Gesicht. Ihr Antlitz war zum Erschrecken blaß.

»Ritter Kyburg,« begann sie, »ich möchte einen Dienst, einen großen Dienst von Euch erbitten.«

Seine Augen leuchteten auf. »Was in meiner Macht sieht, das tue ich, wenn Ihr's befehlt!« rief er feurig.

»Und Ihr gelobt mir Verschwiegenheit?«

»Über meine Lippen kommt bei Christi Wunden kein Wort von dem, was Ihr mir sagt!«

Sie neigte das Haupt, und langsam, als suche sie nach Worten, kam es aus ihrem Munde: »Ihr kennt den Eid, den mein Vater geschworen?«

»Gewiß. Es kennt ihn jeder in der Burg.«

»Wie denkt Ihr darüber?«

Er sah verlegen vor sich hin und schwieg. »Er wird ihn sicherlich nicht halten,« entgegnete er endlich. »Ich meine, er wollte damit nur die Städter in Furcht setzen und willig machen, zu zahlen.«

»Da irrt Ihr,« fuhr sie fort. »Mein Vater – doch darüber wollte ich nicht mit Euch reden. Ich frage Euch: Haltet Ihr diesen Eid für eine Sünde?«

»Ja, Herrin,« sagte er fest und bestimmt, »für eine große, schwere Sünde.«

Sie atmete tief auf. »So müssen wir ihm unmöglich machen, seinen Eid zu halten. Das geht nicht anders, als wenn wir den Gefangenen befreien. Wir müssen den Wächter zur Nacht trunken machen oder in Schlaf versetzen. Wir müssen den Knaben an einer Strickleiter über die Mauer lassen. Ist er erst unten, so ist er auch so gut wie gerettet, denn er braucht nur hinüber zu laufen zur Saaleck. Ich allein aber kann es nicht vollbringen. Ihr seid klug und gewandt, Ihr sollt mir dazu helfen in der nächsten Nacht.«

Aus Kyburgs Antlitz war, während sie sprach, jeder Blutstropfen gewichen, und als sie nun ihm die Hand hinstreckte und fragte: »Wollt Ihr?« da faßte er sie nicht mit festem Druck, wie sie gehofft hatte, sondern trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Wie?« rief sie erschrocken und zugleich verächtlich, »Ihr fürchtet Euch?«

»Fürchten?« fuhr er auf. »Nein wahrlich, Jungfrau, da habe ich andere Gefahren bestanden in meinem Leben. Aber was Ihr von mir fordert, ist unmöglich, denn ich habe Eurem Vater Treue gelobt, ich bin sein geschworener Mann! Was Ihr verlangt, ist für mich Treubruch und Verrat!«

»Nein!« rief Gertrudis mit blitzenden Augen. »Bewahre ich einen vor der schweren Sünde, so erweise ich ihm höchste Treue!«

»Für Euch als Weib, als Tochter mag das gelten. Ich aber darf gegen seinen Willen nicht handeln, so lange mein Schwur mich an ihn bindet. Sagt selbst: Forderte er mich auf, für ihn zu kämpfen wider seine Feinde – dürft' ich da fragen, wer recht hat, wer unrecht? Was er seine Mannen tun läßt, das muß er vor Gott vertreten, als hätte er's selbst getan. Sie aber werden nur nach einem gefragt: ob sie treu gewesen sind.«

Gertrudis erhob sich ungestüm, und ihre Wangen flammten. »Anderes hätte ich von Euch erwartet, als daß Ihr kalt und klug reden würdet, wenn ich Euch um Hilfe bitte. Denkt Ihr auch daran, daß ich es war, die Euch vom Tode errettete?«

Kyburg stürzte zu ihren Füßen, und suchte ihre Hand zu ergreifen, die sie ihm unwillig entzog. »Herrin!« flehte er, »ich denke Tag und Nacht an das, was ich Euch danke, und gäbe mein Blut hin, wenn ich Euch damit nützen könnte. Aber ein ehrloses Leben vermag ich nicht zu führen, und ehrlos ist der ritterliche Mann, der seinem geschworenen Herrn die Treue bricht.«

Gertrudis sah schweigend auf den Knienden hernieder. Als Tochter eines ritterlichen Geschlechtes mußte sie sich, wenn auch widerwillig, sagen, daß er recht hatte und daß in dem armen fahrenden Gesellen ein wahrer ritterlicher Stolz lebendig war. Aber daß er auch ihrer Bitte gegenüber festhalten wollte an diesem Stolze, das verwundete und enttäuschte sie zu gleicher Zeit. Denn sie hatte als Weib natürlich längst bemerkt, welchen Eindruck sie auf ihn hervorbrachte, und hatte gemeint, jeder ihrer Wünsche würde für ihn ein Befehl sein. Daß es nicht der Fall war, verwundete sie tiefer, als sie gedacht hatte, es schmerzte sie fast. Und was sollte nun werden, wenn er sich ihrem Willen versagte? Sollte sie sich an einen anderen wenden?

»Geht!« sagte sie endlich kurz und trat von ihm zurück.

»Herrin!« bat er von neuem mit weicher Stimme, »zürnet mir nicht!«

»Geht!« wiederholte sie schroff. »Und da Ihr Eure Eide so herrlich zu halten wißt, so darf ich wohl Eures Schweigens sicher sein.«

Kyburg stand auf und schritt langsam zur Tür. Dort wandte er noch einmal sein Haupt mit schmerzlicher Gebärde zu ihr zurück, und da traf ihn ein seltsamer Blick aus ihren Augen. Enttäuschung lag darin und Zorn, aber auch Achtung. Da erhob er stolz das tiefgesenkte Haupt und schritt, ohne sich umzusehen, hinüber in die Vorburg nach seiner Behausung.


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