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XXVII.

Manja von Ingenheims Bestattung wurde eine markante Kundgebung der ganzen Stadt.

Die feine, gelehrte Frau, die sie jetzt mit solch demonstrativem Gepränge zu Grabe trugen, hatte mit ihrer menschenkundigen Seherweisheit recht behalten. Ja, der Tod macht Heilige aus Sündern. Von Sünde sprach keiner, nicht von einer Sünde der Toten. Die ganze Stadt fabelte nach, was die Zeitungen berichtet hatten: daß Faber die holde Frau einstmals mit Gewalt genommen habe; daß durch einen Sensationsprozeß diese Untat ans Licht gebracht werden sollte; daß die unselige Frau in tötender Scham zu Faber gekommen sei und ihn angefleht habe, es zu verhindern, daß jene Schandtat an die Öffentlichkeit dringe. Und Faber – er hatte sie hinausgejagt, einfach zur Tür hinausgejagt hatte er sie, obwohl sie ihm geschworen hatte, daß ihr nun nichts bliebe als der Tod. Er aber sei steinhart geblieben, er habe seiner Ruchlosigkeit die Krone aufgesetzt – dieses Bild wurde besonders viel und mit Bildnerstolz gebraucht – und habe die liebliche Frau in den Tod gehetzt. Habe sie grausam abgeschüttelt, mundtot gemacht, damit seine Schandtat nicht ans Licht komme. So habe er kalkuliert: Wenn sie tot ist, kann kein Zeuge gegen mich auftreten, dann weiß es kein Lebender mehr. Dann kann ich als Zeuge aussagen, was ich will. So hatte dieser meuchlerische Heuchler gerechnet. Aber er hatte sich verrechnet. Die Sonne hatte es an den Tag gebracht. Die Tote hatte dennoch gesprochen! Wie es ruchbar geworden war, wußte im Grunde keiner. Sagen bildeten sich, Mythen sprangen auf. Aber alle wußten es: die Tote hatte dennoch gesprochen. Eine mystische Erregung durchzitterte die alte Bischofsstadt. Die zarte, feine, blonde Frau wurde zur Märtyrerin, zur andächtig verehrten Heiligen. Die Spekulation griff hinein. Ihr Bild wurde auf allen Gassen verkauft. Ehe Ingenheim gegen den Photographen einschreiten konnte, hielten Hunderte, Tausende ihr Bild in verzückten Händen. Auf rosenroter goldumsäumter Heiligenwolke schwebte die hohe Frau über der Stadt. Ihr Leichenbegängnis wurde ein fanatischer Taumel. Reife Männer, ehrsame Frauen, Backfische mit übersinnlich leuchtenden Augen schlossen sich dem Zuge an. Und die Studenten zogen herbei: Die Korps, die Burschenschaften, die Landsmannschaften, die Verbindungen strömten herbei in Wichs, mit flatternden bunten Fahnen. Sie wollten sühnen an der heiligen Frau, was ihr Lehrer an ihr gesündigt hatte. In unabsehbaren Reihen schritt die akademische Jugend hinter dem schwarzen Wagen her, der zu Grabe trug, was irdisch gewesen an der hohen Verklärten.

Durch die Straße, in der Faber wohnte, ging der Kondukt. Da murrte ein dumpfer Groll durch die Reihen, heiße, haßbrünstige Blicke züngelten hinauf zu den verhangenen Fenstern, junge Fäuste ballten sich in schwärmerischer Frauenanbetung, in Scham und in blindwütender Rachsucht.

In der Höhe hinter dem Vorhang stand ein zerbrochener Mann mit schlaffem weißen Haar. Er sah die trotzig flatternden Fahnen, er sah die haßfunkelnden Blicke, er fühlte den rachgierigen Krampf der jungen Fäuste. Und er brüllte auf wie ein Tier und schlug die Stirn gegen die Wand, daß der Mörtel hinter der Tapete niederrieselte. Und taumelte zu Boden und wiegte auf dem Teppich auf und nieder, wie ein vom Schmerze Trunkener. Und keine milde Frauenhand konnte die peitschenden Wellen seines Titanenleides glätten und keine linde Stimme Trost flüstern in den Orkan seines übermenschlichen Wehs.

Und er hockte im Stuhle und starrte vor sich hin. Sie brachte die Kinder. Und Seine Winzigkeit gröhlte und strampelte in Daseinslust, und Seine Niedlichkeit schrie: »Aha – aha!« Der Mann starrte drein mit blutrünstigen, erloschenen, großen Augen und strich mechanisch über die weißgewordenen Schläfen.

Gegen Mittag erhob er sich. In seinen Augen glomm eine unheimliche helle Flamme.

»Wo gehst du hin?« fragte Sophie in Ängsten.

»Fort.« Sein Körper straffte sich.

»Willst du heute nicht lieber zu Hause bleiben?« flehte sie.

»Nein!« sagte er trotzig. »Ich gehe durch alle Straßen. Ich schäme mich nicht. Ich beuge mich nicht. Aufrecht gehe ich durch alle Straßen.«

»Darf ich mit dir gehen?« bat sie.

Er schüttelte den Kopf. Solchen Gang tut ein Mann allein. Und er ging.

Durch die engen mittagsbelebten Straßen ging er zur Nepomukbrücke. Die Leute traten aus den Geschäften und sahen dem schreitenden Manne mit dem weißen Haare nach. Wer ihm entgegenkam, wich vor dem bleichen Manne mit den bebend verbissenen Lippen und dem drohenden Flackerlichte in den großen Augen scheu zur Seite.

»Er ist toll geworden,« flüsterte es hinter ihm her. »Die Tote läßt ihm keine Ruhe,« spukte es hinter ihm drein. Die belebtesten Straßen ging er aufrecht wie ein Bleisoldat. Bekannte sahen fort, wenn sie ihm begegneten. Kollegen eilten auf die andere Seite der Straße, wenn sie ihn von fern gewahrten. Gassenbuben zeigten mit Fingern auf ihn und schrien »Mörder« hinter ihm her. Er ging hoch aufgerichtet durch die Straßen, straff wie ein Bleisoldat.

Der Student Fritz Salomon begegnete ihm. Er wollte flüchtig vorbei, Faber hielt ihn an.

»Wie geht es, mein lieber Fritz Salomon?« fragte er zwischen den Zähnen.

»Danke,« der Student errötete. Die Augen irrten in ängstlicher Pein umher.

»Was machen die Naturwissenschaften?« lächelte der Professor und verzog qualvoll die schmalen herben Lippen.

Da stieß der Student hervor: »Herr Professor, ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Ich glaube, ich werde sie nun nicht mehr brauchen. Den empfangenen Betrag schicke ich Ihnen heute zurück.«

Vom Kopf riß er den Hut und war entsprungen.

Blut rann über Fabers Kinn. Er zermalmte die Unterlippe zwischen den Zähnen. Also auch das! Dieser Bengel verhungerte lieber mit seiner Mutter, ehe er sein Geld nahm! Also auch das! Soweit also! Soweit also war er!

Weiter schritt er, immer weiter. Hoch den Kopf. Aber die Knie bogen sich zur Seite vor Grimm und Schmerz und Elend.

Er kam zur Brücke. Es war die Zeit des Korpsbummels. Da zogen sie heran. Ihre Jugend hatte die Begräbnistrauer abgeschüttelt. Dort marschierte sein Korps. Gerade auf ihn zu. Voran die beiden Chargierten, der blonde Hüne Graßhoff, der kleine behende Kübler. Dahinter Lorenz, der Fuchsmajor und all die anderen.

Fest schritt Faber auf den Troß zu. Seine Hände zitterten. Wie oft war er ihnen hier begegnet! Um ihn hatten sie sich freudig geschart, mitgerissen hatten sie ihn zum Frühschoppen ins Korpshaus. Gerade auf den Troß schritt er zu. Wie würden sie ihm begegnen? Tat ihnen der gestrige Abend leid? Waren sie jetzt zur Einsicht gelangt? Würden sie ihn bitten, mitzukommen und alles aufzuklären? Würde sein Liebling Lorenz ihm die Hand reichen in stummer Versöhnung? Nur die Hand, Junge, dachte er, nur die Hand! Kein Wort brauchtest du zu sagen. Nur die Hand! Und alles ist vergessen. Und alles ist gut – gut!

Hoffen, Zuversicht, Verzweiflung tobten in seiner Brust. Fest schritt er auf die Tete zu.

Jetzt wandte Graßhoff den Kopf und gab einen kurzen scharfen Befehl. Der Zug bog zur Seite, hart blickten sie ihm ins Gesicht – keine Hand rührte sich zum Gruße.

Da wurde die Welt für Faber blutigrot. Er wußte kaum, was der Zorn mit ihm tat. Er sprang vor, packte den Riesen Graßhoff mit der Linken an die Gurgel, schüttelte ihn wie einen Flederwisch und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, immer wieder, immer wieder. Und keuchte: »Du Lümmel – du Lümmel, du! Das mir! Das mir!«

Ein Schrei aus zwanzig jungen Kehlen. Die anderen sprangen zu. Plötzlich stand Faber mit dem Rücken gegen ein Heiligenpostament, schleuderte den um sich schlagenden ersten Chargierten dem Ansturm wie einen Sturmbock entgegen – und schrie wie ein rauftoller Landsknecht: »Heran – nur heran – alle miteinander! Nur heran – ihr Lümmel!«

Ein Auflauf rottete sich zusammen. Das Korps ballte sich um seinen blutenden ersten Chargierten. Karten blitzten silbrig durch die glitzernde Juliluft. Kübler trat auf Faber zu. »Ich habe die Ehre,« sagte er schneidig, wie immer, »Ihnen eine Chargiertenforderung meines Korps zu überbringen.«

Da wurde der Mann ganz hell und strahlte wieder jung wie in seinen besten Tagen. Nur die Schläfen glänzten weiß.

»Bravo, Jungens,« lachte er in seiner alten blauäugigen Herzhaftigkeit, »bravo! Ich erwarte eure Abordnung heute nachmittag.«

Und vor sich hinsingend ging er nach Hause.

Ha, sie drückten sich nicht. Sie hielten ihn nicht für einen Ehrlosen, gegen den man nicht antritt. Sie traten an. Seine Jungens taten ihm die Ehre an. Es war wieder Tag. Sie taten ihm die letzte Ehre an!

Jetzt mußte der alte Oberst und Schwager Hancke Sekundantendienste tun. Andere hatte er nicht mehr. Der Oberst drückte ihm stumm die Hand. Er wußte, bei diesen Bedingungen war es der Tod oder schwerste Verwundung. Drei solcher Duelle durchfocht keiner heil. Er drückte dem Schwiegersohne stumm die Hand und sah ihm ernst in die verjüngten Augen. Hancke war vernichtet. Das war ja Wahnwitz. Drei gegen einen. Das war Feigheit. Und er hoffte bis zum letzten Augenblick, die Polizei würde einschreiten, die doch, wie jedermann in der Stadt, von dem Hydra-Zweikampf munkeln hörte.

Auch Sophie erfuhr es im Laufe des Nachmittags durch die Köchin. Die brachte die Nachricht kochheiß von der Straße heim.

Da wußte Sophie Faber, weshalb ihr Fritz am Mittag so aufrecht heimgekehrt war. Schon in der Tür hatte er ihr zugerufen: »Fieze-Weib, die Jungens, die glauben doch noch an meine Ehre!«

Und da hatte er sie schon in den Armen und preßte sie in seiner alten jungen Lebensstürmerei an die Brust.

»Was ist? Was ist geschehen?« argwöhnte ihr zweifelndes Glücksbangen.

»Wir haben uns getroffen, Fieze,« lachte er breitschultrig, »mein liebes Korps und ich. Auf der Nepomukbrücke. Und haben uns erst einige Grobheiten gesagt, wie das unter jungen Leuten vorkommt. Dann aber haben sie mir gestanden: ›Professor, wir glauben doch an dich. Du bist ein Ehrenmann.‹ Nicht wörtlich haben sie das gesagt, aber dem Sinne nach. Und morgen früh, Fieze, da wollen wir noch einmal zusammenkommen, die Burschen und ich, und dann wollen wir alles Dunkle, das zwischen uns war, tilgen. Jawohl!«

Und er küßte sein Fieze-Weib zart auf die Stirn. –

Mit ganz kleinen Schritten kam die große schöne Frau aus der Küche. So also hatten seine Jungens ihm seine Ehre zurückgegeben! Das also war die Zusammenkunft morgen früh, die alles Dunkle zwischen ihnen tilgen sollte! Sie blieb mitten im Korridor stehen. Etwas in ihrer Brust wußte es, wußte es ganz gewiß: von der Zusammenkunft kehrte er ihr nicht zurück. Ihre Füße bohrten sich in den Boden, die Arme streckten sich stahlhart in den Ellenbogen, die Fäuste ballten sich. »Nicht schreien, nicht schreien!« flüsterte sie vor sich hin, »nicht schreien!« Und doch taumelte sie gegen die Wand und stand dort mit keuchenden Lungen. »Groß sein, groß sein!« raunten die blauen Lippen. Sie dachte an Manja von Ingenheim und wußte, das war der Weg, der ihm blieb. Sein Leben war verpfuscht. Ohne seine »Jungens« war sein Leben eine unselige Öde. Das wußte sie, tief, tief im Herzen wußte sie es. An einer anderen Hochschule konnte er sein Leben nicht mehr aufbauen. Sie wußte es. Jetzt fehlte ihm die unverwüstliche Kraft und das Selbstbewußtsein, das begeisternde Erzieher der Jugend schafft. Sie raffte sich an der Wand empor und sann mit Anspannung all ihrer klaren Geisteskraft. Er konnte Bücher schreiben, ja, ja. Er konnte in Fachzeitschriften und in Tageszeitungen sein Wissen ergießen. Gewiß. Gewiß. Aber er hatte tausendmal recht. Er war kein Schriftmensch. Mit seinem Leben mußte er wirken, um glücklich zu sein. Mit seinem Leben würde er nun nicht mehr wirken; das wußte sie, die so scharf und klug ins Leben sah. Er hatte sie und die Kinder. Ja – ja. Aber die Familie ersetzt einem Fritz Faber nicht seine Lebensarbeit und seine Welt. Nein, nein. Das wußte sie. Und sie hob in dem dunkeln Korridor die Hände und kämpfte den Verzweiflungskampf ihres Lebens, still, keuchend, ungesehen, wie große Frauen ihre bittersten Kämpfe kämpfen, in dunkeln Stuben, in finsteren Korridoren.

Fahlgelb, die Zähne fest aufeinander, trat sie in sein Zimmer. Er sollte nicht erfahren, daß sie wußte, wohin sein Gang morgen führte. Dann verlöre sie die Herrschaft über sich, dann war Verzweiflung, dann war Irrsinn.

Keine Trauer und kein Klagen sollte seinen letzten Tag und seine Nacht des Scheidens umdüstern. In Licht und in Schönheit sollten seine letzten Stunden strömen, als würdiges Finale seiner reichrauschenden Lebenssymphonie.

Sie holte die Kinder und ließ sie lange um den Vater spielen. Vielleicht, ach vielleicht blieb er den kleinen Köpfen doch eine Erinnerung für das Leben. Ach, vielleicht, vielleicht! Sie verkrampfte die Hand«. Ach, vielleicht! In jedem Worte, in tausend Erzählungen sollte dieser strahlende, zu Tode gehetzte Mann seinen Kindern leben. Sie zerbiß die Schreie der Verzweiflung, Er balgte sich mit Seiner jauchzenden Niedlichkeit auf dem Teppich, er tanzte mit Seiner krähenden Winzigkeit. Sie stand an der Tür und bohrte die Nägel in das schwarze Holz, daß zehn kleine weiße Halbmonde über ihrer blutschwitzenden Not aufgingen. Und wenn seine großen, dunkelleuchtenden Augen segnend auf dem rotblonden und dem schwarzen Köpfchen ruhten, rannte sie hinaus, ein Röckchen oder eine Windel zu holen. Und zerfetzte das Gewebe zwischen den Zähnen und erstickte das Aufbrüllen des gemarterten Tieres. –

Am Abend saßen Faber und Sophie eng beieinander in der Dämmerung. Sie schwiegen. Er preßte sie an sich. Ach, sie wußte, warum er sie so leidenschaftlich an sich preßte! Und sie drängte sich zu ihm mit allen Fasern, mit allen Fibern, mit jeder Pore. Ach, sie wußte, warum sie sich so hingebend lechzend zu ihm drängte!

Und dann begann er zu sprechen, grübelnd, suchend, hinein in das wachsende Dunkel. »Ich glaube, Fieze, ich bin ein rechtes Kind gewesen, all mein Lebtag. Ich bin ins Leben hinausgelaufen, meinen Kinderglauben in der Hand. An alles Gute und Edle habe ich geglaubt. Und die Menschen glauben nur an das Schlechte.«

Sie nickte. Sprechen konnte sie nicht. Die Tränen sammelten sich irgendwo in der Brust zu einem tiefen dunkeln See. Nach langem Schweigen sprach er wieder. Von seinen Knabentagen daheim im Elternhause sprach er, von dem Vater, der Landwirt gewesen, von der schönen strahlenden Mutter mit ihrer lachenden Lebenslust. Von seiner Studentenzeit sprach er, mit singender, wehmütig erinnernder Stimme. Er lachte auf. Damals wollte ich ein großer Dichter werden. Schrieb auch vier Einakter. »An der Schwelle« hießen sie. Wollte die letzte Nacht vor dem Tode schildern.« Er lächelte vor sich hin. Sophie durchbiß die Zunge im Dunkel.

»Christen aus vier Zeitaltern wollte ich in Todesangst und Todesmut schildern. Altertum: Christliche Gefangene in dem Gewölbe des Circus Maximus zu Rom in der Nacht vor dem großen Feste, an dem sie den Löwen vorgeworfen werden. Mittelalter: Drei Hexen, eine junge, gereifte und alte, in der Nacht vor ihrer Verbrennung. Anbruch der Neuzeit: Französischer Adel im Temple. Und zum Schluß einen Studenten des zwanzigsten Jahrhunderts, der aus Eifersucht seine Geliebte ermordet hat, in der Mörderzelle.«

Er sann. Dann sprach er weiter. »Jahrelang habe ich an dieses Opus, das mir damals so welterschütternd erschien, nicht wieder gedacht. Bald nach seiner Vollendung fand ich meinen Weg. Weißt du, Fieze, schon als junger Student sah ich, wo mein Lebensweg hinführte. Eine Prometheusverachtung der Dichter kam über mich, dieser Menschlein, die Tintenschicksale strömen. Ah, mit den Händen gestalten, lebendig eingreifen in das Leben und seine bittersten Erfordernisse, statt in psychologischen Abgründen zu wühlen und einige nichtige Beiträge zur Psyche der Menschheit zutage zu fördern! Jugend wollte ich bilden. Wie der große Ahnherr alles Schaffens wollte ich ›Menschen formen nach meinem Bilde‹.«

Er schwieg und sagte dann bitter: »Mein Bild hat bald Risse bekommen. Nach dem zersprungenen Bilde sind ganze Menschen nicht mehr zu formen.«

Sie streichelte wortlos seine Hände

»Es ist hirnverbrannt, dies alles,« sann er dann. »So hirnverbrannt, daß es so enden muß.« Er sprang empor und erstickte die aufgurgelnde Raserei. »So ist das Leben, Fieze! Mit diesem banalen Troste muß man die Zähne zusammenbeißen. Es rüttelt in seinem Mörser die Menschen umher und stampft die dümmsten Tragödien zusammen. Man muß es mit dem Verstande nicht ergründen wollen. Sonst reißt da etwas im Kopfe. Da hat man die Frau in den Tod laufen lassen, um sich seiner Familie zu erhalten! Die Frau stirbt. Und der Tragödie zweiter Akt beginnt.«

Sie sagte nichts, ihre Finger tasteten irr auf ihrem Schoße. Da setzte er sich wieder zu ihr und legte die Schläfe an ihren Kopf.

Nach einer Weile sprach er wieder: »Entsinnst du dich des Parzenliedes in der Iphigenie?«

Sie nickte. Es war jetzt Nacht im Zimmer.

»Das ist es wohl,« grübelte er. »Man muß an Götterübermut glauben, um vieles im Leben zu begreifen. Auch im aufgeklärtesten zwanzigsten Jahrhundert.«

Und leise sprach er vor sich hin:

»Es fürchte die Götter
Das Menschengeschlecht!
Sie halten die Herrschaft
In ewigen Händen
Und können sie brauchen,
Wie's ihnen gefällt.
Der fürchte sie doppelt.
Den je sie erheben!«

Er brach jäh ab und sprang auf in alter Heftigkeit. –

»Da liegt es, Fieze! Der fürchte sie doppelt, den je sie erheben! Ach, sie hatten mich erhoben. Ich habe es stolzbewußt gefühlt. Ich habe nicht darüber gesprochen. Aber hundertmal, wenn ich durch den sonnenfrohen Morgen ins Kolleg ging, wo sie meiner harrten, habe ich mich aufgereckt und gejubelt: ›Dir, gerade dir, ist dieses große Glück des Menschenbildes verliehen. Gerade dir unter den Tausenden!‹ – Und ich war stolz wie Prometheus, mein Ahnherr.«

Mit schnellem Griff entzündete er das elektrische Licht.

»Jetzt ist es genug der schwarzen Verzagtheit, Fieze. Donnerdoria, es war doch reich und gut! Und keiner kann es uns nehmen. Man muß fröhlich vom Tisch aufstehen.« Er sah Sophies verzweifelte ausgedörrte Augen und fügte leise hinzu: »Es ist nur so furchtbar schmerzlich, daß da am Tisch noch eine sitzt, die noch solchen Hunger nach des Lebens Brot hat.«

Da stand Sophie Faber. »Fritz, wir sind immer ehrlich voreinander gewesen. Wir wollen es auch in dieser letzten Nacht sein. Ich weiß, was morgen kommt.«

Er rührte sich nicht.

»Ja, ich weiß es. Ich weiß auch, was du erhoffst. Ja – ja – ich wünsche dir, was du erhoffst, Fritz, ich will nicht größer scheinen, als ich bin. Da ist etwas in mir, das schreit nach einem Wunder, das dich rettet. Etwas, das betet, du möchtest gleich zu Anfang verwundet werden so, daß du nicht mehr mit den übrigen kämpfen kannst. Ja – ja,« schrie sie mit stürzenden Tränen, »danach ringe ich die Hände. Obwohl ich weiß, daß dein Leben martervoll wäre. Wie ein Adler mit zerschossenen Schwingen würdest du hinsiechen. Aber es betet doch in mir! Ich wäre doch da, und die Kinder. Wir würden dich pflegen, so pflegen und umhegen und dir das Leben erträglich machen. Aber dann – dann ist da in mir noch etwas, das wünscht dir morgen das Erhabene, das du erhoffst.« Sie hob die Arme. »Ich sage es. Es ist Wahnwitz, daß dein Weib es dir sagt. Aber du sollst wissen, ich habe nicht mit dir gelebt, ohne daß du mich nach deinem Bilde geformt hast. Ich will so groß sein wie du.«

Dumpf schlug sie zu seinen Füßen nieder.

Bald zwang sie ihre Festigkeit zurück. Er tröstete. Er würde wohl verwundet werden. Nun, das sei nicht schlimm. Ans Leben würden ihm die Jungens nicht gehen. Er selbst würde nur in die Luft schießen. Und dann würde er fortgehen mit ihr, nach Amerika, an eine Hochschule der Vereinigten Staaten und dort ein neues Leben bauen.

Sie klammerte sich an seinen Trost und wußte doch, daß es nur ein leerer Trost war.

Lange lag sie an seinem Herzen, schon graute der frühe Sommertag. Da bat sie ihn, zu schlafen. Er wehrte, er wollte keine Sekunde dieser Nacht verlieren. Sie stellte ihm vor, daß er seine Kräfte brauchen würde, daß er sie brauchen würde für sie und die Kinder.

Da gab er nach und schlief bald wie ein Bub.

Sie stützte sich neben ihm auf die Ellenbogen, bohrte die Augen in das stille geliebte Gesicht und zerbiß das Laken.

Zur rechten Zeit erwachte er, frühstückte ruhig und gefaßt, sprach ihr wieder Trost zu, ging noch einmal zu den Kindern hinein. Und dann nahm er sein Weib noch einmal in die Arme und bebte ihr seinen Dank zu für ihre Liebe und Güte und Größe. Dann eilte er die Treppen hinab.

Sophie fanden sie später ohnmächtig auf dem Stiegenabsatz.

Am bestimmten Orte traf Faber den Oberst und Hancke. Sie begrüßten sich stumm. Die beiden Männer waren kalkig weiß.

Hanckes Hoffnung auf das Einschreiten der Polizei erfüllte sich nicht. Auf dem Paukplatz des Korps traten sie an.

Als Erster stand Graßhoff, der erste Chargierte, dem Professor gegenüber, die Pistole in der Faust.

Sie schossen zu gleicher Zeit. Fabers Pistolenlauf sah nach der Sonne. Des Studenten Kugel surrte an Fabers Ohr.

Da rief Kübler aus der wartenden Rotte: »Er schießt in die Luft!« Alle murrten. Die Pistolen waren wieder geladen. Fertig. Eins – zwei – drei – Feuer!

Faber blutet an der linken Hand, seine Kugel stob in die Wolken.

Sie wüteten auf. »Das ist kein Duell. Er schießt in die Luft!«

Und der Unparteiische, ein Student, trat vor und sagte: »Herr Professor, die Gegenpartei hat ein Recht auf einen ehrenhaften Kampf.«

»Ich kann schießen, wie ich will,« trotzte Faber.

»Nein, nein,« brausten sie auf, wie ein Wildbach am hemmenden Wehr. »Wir haben ein Recht darauf, als vollbürtiger Gegner behandelt zu werden.«

Die Pistolen waren geladen.

»Zielen!« riefen sie. »Wir wollen keine Komödie!«

Faber hob die Pistole. »Ich tue mein Bestes,« lachte er rauh. »Vorwärts!«

Da schäumte das Blut des Hünen Graßhoff auf. »Ich schieße nicht,« senkte er die Pistole. »Sie haben immer von Mannhaftigkeit gesprochen, Herr Professor. Ist das mannhaft, den Gegner zu zwingen, ebenfalls in die Luft zu schießen?«

Alle brodelten Beifall.

»Schön,« ergrimmte Faber – »Vorwärts!«

»Fertig. – Eins – zwei – drei – Feuer!«

Mit zerschmettertem Schultergelenk wurde Graßhoff abgeführt.

»Der Nächste!« rief Faber, das Gesicht hart wie Bronze. Diese Bengel wollten ihn zwingen, sie zusammenzuschießen. Nun gut – sollte das das Ende sein! Sollten sie diese Erinnerung an ihren Lehrer Faber durchs Leben schleppen. Vorwärts! Da stand der zweite Chargierte, der schneidige kleine Kübler. Der Junge zielte ruhig, scharf, mit Bedacht. Faber hielt dicht an seinem Kopf vorbei. Als der Doppelknall verdröhnte, rann Blut von Fabers Ohr. Ein Streifschuß. »Er hat wieder absichtlich vorbeigeschossen,« rief Lorenz. »Ich habe es genau gesehen!«

Sie tobten vor Zorn.

»Ich kann tun, was ich will,« schrie Faber.

»Das kannst du nicht! Feigling! Es paßt zu allem anderen!« schnaubten sie durcheinander.

Da wuchs Faber ganz schmal empor. Jetzt sollten die beiden, die noch vor seine Pistole mußten, den Feigling kennen lernen.

»Vorwärts!« knirschte er bleich. Der Kolben saß in seiner Faust wie in Eisenklammern. Er durchschoß dem Jungen den Oberschenkel. Sie trugen ihn fort. Lorenz, der Fuchsmajor, trat an. Faber sah auf den todesbleichen kleinen Kübler dort drüben. Der Arzt beugte sich über ihn. Ein heldenhaft unterdrücktes Stöhnen drang herüber.

Da war des Mannes Kraft zu Ende. Er – er, Fritz Faber, der Lehrer der Jugend, stand hier und schoß dieses junge Leben zuschanden. Er! Er! Er sollte die Jungens zu Krüppeln schießen, er, der stahlharte Männer aus ihnen hatte schmieden wollen! Er, der sie liebte – liebte – trotz allem – trotz allem! Das sollte er durchs Leben weiter schleppen? War es nicht gerade ihre ehrliche ungestüme Jugend, die ihm die Pistole in die Hand zwängte! War es nicht ihre wundervolle unbedachte hinreißende Jugendverwegenheit!

Lorenz hob die Pistole.

Da schrie der Mann dort drüben in rasendem Schmerze und schlug mit der Linken an seine Stirn:

»Junge, Lorenz – hierher! Mach' ein Ende!«

Die Schüsse knallten. –

Steif wie ein Brett fiel der Professor vornüber auf das Gesicht.

Sein Liebling Lorenz hatte ihn mitten in die Stirn getroffen.


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