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XXIV.

Des Professor Fabers Sprechstunde war heute verödet. Ganz verwaist war sie. Nicht einer ließ sich blicken. Es wurde ein viertel, es wurde halb neun. Nicht einer zog die Klingel. »Wie,« dachte Faber, »sollten am Ende die Jungens –?« Ungläubig wanderte er zwischen seinem Zimmer und dem Warteraum auf und nieder.

Draußen in der Küche sagte das Hausmädchen zur Köchin: »Sehen Sie, Aujuste, heute kommt nu keiner. Gleich neun is es. Das is von wegen dem Selbstmord von der Ingenheimschen, den der Herr auf'm Gewissen hat.«

Sophie kam just vorüber. Sie hörte es. Rasch ging sie in sein Zimmer. Er kam gerade von einer Wanderung aus dem Warteraum.

»Es ist heute ein wenig still,« lächelte er verlegen.

»Das machen die herannahenden Ferien,« tröstete sie. »Es sind doch schon viele abgereist.«

Er antwortete nicht. Er hatte seine dunkeln Ahnungen, die er nicht aufkommen lassen wollte.

Da klingelte es. Erlöst atmeten sie beide auf.

»Der erste Patient,« lächelte er fröhlich und ging hinüber.

Nein, es war kein Student. Es war der Redakteur einer freisinnigen Zeitung, der dem Herrn Hofrat in dieser Hetze gegen ihn sein Blatt zur Verfügung stellen wollte. Faber dankte vielmals. Welche Hetze übrigens? Ja, hatte er denn die Morgenblätter nicht gelesen? Nein, noch nicht. Nun, dann werde er sich gestatten, später noch einmal vorzusprechen. Dann werde der Herr Hofrat wohl geneigter sein. Nein, er könne sich die Mühe ersparen. Er gedenke nicht, sich in der Presse zu verteidigen.

»Ist es denn wahr?« fragte da der Redakteur rund heraus. Und berichtete die Erzählungen der Blätter.

»Ja,« nickte Faber, »in der Hauptsache ist es wahr.«

»Ach so,« zog der Zeitungsmann sich steif zurück. »Dann natürlich!«

Faber griff das Blatt vom Tische. Suchte. Da stand die Bescherung unter fettgedruckter Lockschrift:

» Der Selbstmord der Baronin Manja von Ingenheim

Er schleuderte die Zeitung auf den Tisch. Also deshalb! Deshalb kam heute keiner. Weil sie fürchteten, den unter seinen eigenen Lasten Gebeugten mit ihren Sorgen zu beschweren. Die dummen lieben Jungens! Deshalb also! Er stand still. Oder – ? Unsinn. Jugend hetzt einen ragenden Mann nicht hämisch nieder. Die Jugend, der er so viele Semester hindurch sein Heiligstes, sein Wissen, seine spornenden Lebenskräfte verschwenderisch dargebracht hatte, die ließ ihn nicht fallen, ohne ihn zu hören. O, er würde heute zu ihnen sprechen. Wie ein Prediger sich mit einem aktuellen Tagesereignis vor seiner Gemeinde auseinandersetzt, so wollte er heute predigen. Grell wollte er den jungen Menschen in seiner Vorlesung über attische Kunst die Augen öffnen für das unsterbliche Athen. Für diese perfide ruchlose Stadt, die Größe nicht ertragen konnte. Die immer ihre Besten niederriß. Die ihren Sieger von Marathon und Salamis, ihren Aristides, ihren Cimon herauszerrte aus ihrem segensreichen Wirken und in die Verbannung stieß, aus Haß, aus Neid, aus elender menschlich kleiner Mißgunst. Ihnen Ehre und Betätigung raubte. Ja, er würde ihnen heute zeigen, daß Athen unvergänglich war. Daß es neidete und haßte und niederriß, heute wie vor zweitausend Jahren. Er würde ihnen die Augen öffnen, daß sie das athenische Gesindel in seiner ganzen brutalen Niedertracht erkannten. Ja, bei Gott, er wollte dafür sorgen, daß seine Schüler dereinst keine athenische Marktplebs wurden. Das wollte er. Und nach der Vorlesung, wenn sie von junger Begeisterung brodelten, wollte er mit ihnen durch die Straßen ziehen, demonstrativ, ja doch, demonstrativ, wie mit einer Leibkohorte, und wollte diesen rufschänderischen Philistern zeigen, wo seine Ehre unverletzlich, hoch erhaben über ihrer Jämmerlichkeit thronte. Bei Gott, das wollte er!

In eiferfroher Erregung betrat er den Hörsaal. Weit hinaus auf den Korridor drängten sie sich. Jede Fußbreite des Bodens trug seinen Mann. »Hallo,« jubelte es in ihm, als er sich durch die dichtgerammte Schar hindurcharbeitete, »so zahlreich seid ihr erschienen. Ihr Lieben, um mir eure treue Gefolgschaft zu beweisen!« Er stand auf dem Podium.

Sie pfiffen ihn herunter.

Zwischen den Zähnen pfiffen sie, auf Hausschlüsseln pfiffen sie, auf Trillerpfeifen pfiffen sie. Wie ein singender Sturm war es, zum heulenden Orkan ward es. Es toste, es brandete um den einsamen Mann dort oben wie ein entfesselter Taifun. Es schwoll an, brauste dunkel nieder und stieg in hellem Sausen wieder zur Decke. Er hob die Hand, Ruhe zur Rede, zur Erklärung, zur Verteidigung zu fordern. Es knatterte, es polterte, es wetterte daher, wie die Windsbraut gegen straffgespanntes Segel.

Grimm schüttelte den Mann auf dem Katheder, Zorn sprühte keuchend aus ihm, Wut schrie aus ihm hinein in das schnaubende Chaos. Sie sprangen von den Bänken, hunderte standen ringsum, pfiffen trotzig, grausam, haßtoll, in ihrem heiligsten Vertrauen verraten, in rasender junger Berserkerwut.

Da bohrte er die Hände in die Hosentaschen und wartete. Stand geduldig und ungebeugt, wie ein Fels in der Brandung, und wartete. Wutgereizt raste der Sturm daher, höllisch, markdurchbebend, niederfauchend. Er stand und wartete. Da mischten sich heisere Schreie in den gellenden Schwall. Wie grelle Blitze zuerst, wie dunkle drohende Donnerschläge dann, die herandröhnten, herankollerten, krachend niederschmetterten. »Pereat – Pereat!« brüllten vierhundert widerstandserboste junge Kehlen.

Der Mann stand wie ein Fels.

Da kam ein Schieben und Stoßen und Schwanken und Gleiten in die stehende Mauer, alles drängte zu den Türen. Unter johlenden Pereatrufen zogen sie ab. Mochte er allein hier stehen auf seinem einsamen Katheder.

Da beugte der Mann sich nieder zu dem Troß der Verachtung, der an ihm vorbeischarrte, und packte den Nächsten am Arm.

Bleiche Stille der Empörung atmete ringsum.

Eisigkalt warf der Professor die Worte in das drohende Schweigen: »Warum schreien Sie?«

Alles drängte heran in gefahrvollem Kreise.

»Weil Sie ein Weib in den Tod gehetzt haben,« kam die schneidende Antwort.

Da rief und schrie und tobte es ringsum: »Ist es wahr? Ist es wahr? Rede stehen! Antworten!«

Wieder wurde Stille, die in zorngespannter Erwartung zitterte.

»Gehen Sie auf Ihre Plätze!« gebot Faber. »Ich will es Ihnen erklären.«

»Antworten – antworten!« schrie die trotzige unerbittliche Moral dieser aufgewühlten Jugend. »Antworten!« Der Tumult ebbte wieder nieder, daß man die Sommerwespe am Fenster brummen hörte.

»Es ist wahr,« sagte Faber ehern, »aber –«

Den Rest überflutete die berstende Empörung.

»Pfui – Mörder – Pereat – Pereat –!«

Unaufhaltsam preßte der Strom hinaus, in dichten gleitenden Menschenwogen. Aufrecht stand der Mann auf dem Katheder. Immer siedender staute sich die Flut an den Türen wie an einem Wehr, brandete zurück, wogte vorwärts, schwoll auf, strudelte im Kreise, stampfte weiter, minutenlang, bis die letzten drängenden Tropfen verronnen waren.

Aufrecht stand der Mann auf dem Katheder. Plötzlich schrie er auf. Weh, irre, ein rasender unmenschlicher Laut, wirr verzerrt durch den Widerhall des weiten öden Saales. Und dann schlug er mit beiden Fäusten auf den ratternden Pultdeckel. Und wenn sie tausendmal wie tausend wilde Teufel pfiffen und schrien – er hatte recht – er hatte recht! –

Mit beiden Fäusten trommelte er sein Recht durch den leeren Saal.


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