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XIII.

Als der Professor in sein Zimmer trat, drang durch die Tür das warme Lachen seines Weibes herein. Da stahl er sich leise hinaus, nahm wieder den Hut und glitt wie ein überraschter Übeltäter die Treppen hinab.

Nur sie jetzt nicht sehen! Nur jetzt nicht in den frohen Kreis eintreten! Nur jetzt keinem seiner Lieben begegnen! Sich erst finden! Sich herausarbeiten aus dieser erstickenden Muräne, nur erst handbreit, um Atem zu schöpfen. Emportauchen aus diesem Grauenvollen, das wie eine Lawine auf ihn niedergebraust war. Nur erst wieder sehen, Augen und Sinne freibekommen! Sich nur erst aufraffen aus dem bedrückenden Wettergeröll, das über ihm aus blauer Höhe lähmend niedergegangen war. Nur erst wieder stehen können und Umschau halten und fühlen, ob die Knochen zerhauen waren. Nur erst wieder stehen!

Er ging durch die engen Straßen dieser alten Stadt und suchte des Wirbels in seinen Gedanken Herr zu werden. Ihm fehlte die Kraft. Hundert Einzelheiten, tausendmal gesehen und kaum beobachtet, packten heute nach seiner erstaunt aufzuckenden Teilnahme. Er kam durch eine enge, kaum zwei Meter breite Gasse. Trödler hauste hier bei Trödler in diesen verwitterten hochgiebeligen Urahnenhäusern. Jede vertragene Hose, jede vergilbte Uniform, jede verklungene alte Pendule riß seine nervös gespannte Aufmerksamkeit an sich. Er gelangte zum Strom und überquerte die Nepomukbrücke, ein keckes Plagiat der berühmten Prager Schöpfung, hundertmal war er über diesen Steindamm geschritten mit halb spöttischem, nachsichtigem Lächeln die barocken heiligen Herrschaften in ihren Nischenwölbungen begrüßend. Lange blieb er heute vor einem grotesk vergliederten Märtyrer stehen. Was grinste der alte Knabe so seligwindelweich, wenn ihm so gerädert zumute war! Lange stand er davor und schüttelte den Kopf über diesen sonderbaren spät-mittelalterlichen Fakir. Und die heilige Veronika, die ihr Schweißtuch wie einen Putzlappen ausstaubte! Aber der Kopf auf dem zeitzerfressenen mottigen Körper war sein. Zumal diese niederschwebende Nackenlinie. Lange genoß das freudige Auge des Professors diese nie geschaute Schönheit. Ein Zug bummelnder Studenten stelzte in seiner putzigen Wichtigkeit vorüber. Die weißen Stürmer sanken in eckig abgezirkelten Winkeln grüßend vor ihm nieder. Er zog den Hut und sah dem Troß aufmerksam nach. Wie komisch diese zeitrecht gehobenen und niedergesetzten Beine sich ausnahmen! Zu komisch!

Er ging weiter. Lugte zum hundertsten Male andächtig empor zu dem rosenumhegten wunderfeinen Erker der uralten Weinschänke »Zur roten Rose«. Wie das aus der Fassade herauswuchs! Zart und dabei wuchtig und so natürlich aus der Mauer herausgegliedert. Eine schöne alte Stadt, nickte Faber ergriffen. Er blickte sich um in der Runde. Reben sah man hier, wo der Strom freien Ausblick gewährte, rings die sanften sonnigen Höhen hinanklimmen. Eine gesegnete freundliche Stadt. Er stieg den Steinweg zum Bischofspalais unter breitschattenden Kastanien hinauf. Dachte an die mittelalterliche festliche Bischofsstadt, die unter ihm zurückblieb, machte alle zehn Schritte halt und ließ seine Forscherfreude um die ragenden schlanken Kirchtürme flattern. Dort stieß sein alter Liebling, die Kathedrale, ihren Viereck trotzig in den blauen Himmel. Wie einen Armstumpf. Er ging, und sein Wissen spann an den seltsamen Bauschicksalen dieses gotischen Wunders.

Und wußte doch während all dieses müßigen Gedankenstiebens, daß es etwas ganz anderes zu bewältigen galt. Und fühlte bei jedem Schritt die raffende Gewalt, die sein Verstand sich antat, mit allen Tastern den schwarzen Klotz zu umspinnen, der sich schwer und schmerzend mitten ins Hirn einkeilte.

»Ich muß Zeuge sein,« sprach er laut vor sich hin, seinen flatternden Gedanken das Fangnetz der Worte überzuwerfen. Aber schon freute sich sein Auge an dem goldenen Glitzern der Sonne da draußen auf dem breiten, doch noch jung und ungestüm strömenden Flusse.

Er durchschritt das Renaissancegitter des Schloßparkes. Die blendende Glut des Julitages sprühte von den glimmernden Kieseln wider. Faber beugte sich zur Erde und beobachtete eine emsig ausgreifende große Spinne. Wie die langen Füße sich streckten, die Steinchen umklammerten, als Prellblöcke benutzten!

»Ich muß Zeuge sein,« sprach er wieder laut und faltete gemächlich die Hände hinter dem Rücken.

Dann saß er auf einer Anhöhe und blickte hinaus in das lichtumsponnene deutsche Land. Der Horizont braute in weißem Mittagsdunst. Doch man ahnte das Blau der Berge.

Er warf den Hut neben sich auf die Bank. »Ich soll Zeuge sein –« redete er ohne Bewußtheit vor sich hin.

Da sah er plötzlich das klare Gesicht seines Weibes vor sich. Und Nebel rissen, und Klarheit ward. Ihm war, als öffneten sich weite Tore in seinem Kopfe.

»Fieze,« flüsterte er vor sich hin und reckte die gefalteten Hände. »Was ist da über uns beide gekommen! Mein Gott, Fieze!«

Und da wußte er es. Ja, zu ihr eilen, es ihr beichten und ihren klugen unfehlbaren Rat hören. Er war kein Weiser in Weltdingen. Nie gewesen. Sie hatte oft schon ihre mild ordnende mütterlich-nachsichtige Hand auf manche Wirrnis seiner Künstlertorheit gelegt. Ja, zu ihr! Sie wußte Hilfe. Sie sicher, mit ihrem weitschauenden unbestechlichen Lebenstakte.

Er sprang auf und eilte den Abhang hinab. Doch an der Biegung blieb er zaudernd stehen, »Es gilt Tod und Leben,« zögerte er, »es kommt zum Duell. Soll ich sie mit dieser gefahrdrohenden Zukunft belasten? Und wenn sie dennoch keine Hilfe weiß, was dann? Was soll dann werden? Soll sie dann diese zitternde Sorge um mein Leben durch die Tage schleifen?« Er kehrte um und stieg langsam wieder hinan. Nein, das war Mannessache. Das hier war allein Sache eines Mannes! Er raffte sich auf. Herrgott, er hatte seinen Jungens so oft geraten in ihrer Bedrängnis. Nun sollte er in seiner Not den rechten Weg nicht finden!

Er setzte sich wieder auf die Bank. Da griff ihm der Schreck eisig ans Herz.

Jeden Augenblick konnte Manja das Schreckliche vollbringen! Er mußte sie anrufen, telephonisch, irgendwie – ehe diese rohe Sinnlosigkeit die ruhig-schöne Sommerwelt verdunkelte. Er wußte plötzlich, daß er eilen müsse, rennen, stiegen, diese blutige Tat zu hindern.

Doch er rührte kein Glied. Mit leeren Händen nahen! Was nützte das? Wenn er nicht die Rettung hoch wehend in Händen hielt, was nützte das!

Er riß sich heftig zusammen. Denken, schnell, schnell, denken! Ja, das vielleicht. Wenn er zu Seebeck, dem Direktor lief, ihm alles aufdeckte, wenn er diesen schmachvollen, würdemordenden Gang tat, ihn um Schonung bat, statt ihm an die Gurgel zu fahren, ihm darlegte, daß Manjas Leben an seiner Gnade hing. Ein Unmensch konnte er nicht sein. Er würde die Klage zurücknehmen.

Faber erhob sich. Hm, und wenn er es nicht tat? Was dann? Dann war das Geheimnis preisgegeben. Dann hatte der Mensch seine Gewißheit statt der Vermutung, und er hatte sein Menschentum vor diesem Hunde in den Kot gezerrt. Manja hatte ihn mit der Reitpeitsche traktiert, der Baron hatte ihn hinausgeworfen! Wenn er seine Rache schlürfen wollte um jeden Preis – was dann?

Der Professor lief in kleinem Kreise auf der einsamen Anhöhe rundum. »Sie stirbt – sie stirbt –« ächzte er, und der Schweiß brach ihm aus allen Poren vor Angst und hastigem Grausen. »Ich muß sie anrufen. Ich muß etwas finden. Schnell – schnell!« Sein Hirn raste fiebernd.

Er preßte beide Hände an den Hinterkopf. Was würde Fieze raten, Herr des Himmels, was würde sie raten? Starr blickte er nieder auf einen diamantsprühenden Kiesel. Seine Augen wurden weit und traten schier aus den Höhlen. Die Gedanken überstürzten sich. Grundgütiger – wie – das war doch – aber ja – das war doch ein Weg! Der rettete alle. Manja und sein Weib und die Kinder und ihn. Er nahm auf ein Jahr Urlaub, jetzt, heute, sofort, ehe die Ladung kam, eine Studienreise, nach Italien, Spanien – weitere Einblicke in Grecos Werk – freilich seine »Jungens« würde er vermissen – aber es galt Manjas Leben – heiliger Geist des Lebens, dann war doch alles gut – das konnte keinem auffallen, daß er auf Urlaub ging, wenn er von seiner Vorladung noch nichts wußte! Unterdessen kühlten sich die Gemüter ab – der Haß und Zorn verlohte – er würde umherreisen – durch das Konsulat konnte er dann auch nicht vernommen werden – Zeit war gewonnen, alles war gewonnen.

Er rannte wie ein Junge den Abhang hinab. Rettung – Rettung. Er trug das Ölblatt in seinen Händen! Daß sie nicht gleich darauf gekommen waren! Natürlich, das Nächstliegende. Darauf stieß man immer erst, wenn man sich auf martervollen Irrwegen die Füße blutig gerissen hatte. Jetzt nur fort, ehe die Ladung kam! Die Berufung ablehnen, in München konnte er nicht gleich mit einem Urlaubsgesuch beginnen. Aber natürlich doch. Hier würden sie ihm mit Freuden das Jahr bewilligen, zum Dank, daß er blieb. Ende des Monats begannen die Ferien – er konnte auch früher sein Kolleg schließen – Unwohlsein vorschützen – und fort – Fieze kam mit den Kindern nach – –

Er lief noch immer durch den Park. Jetzt kam die Allee zur Brücke hinunter, hinüber – langsam, langsam, die Leute guckten schon – drüben war ein Zigarrenladen –

Er klingelte Manja an. Am Hörer erschien der Diener. »Frau Baronin zu sprechen?«

»Ich weiß nicht. Gnädige Frau ist nicht ganz wohl. – Bitte, wer ist dort?«

Er zauderte einen Augenblick. Es half nichts. Er mußte seinen Namen nennen. Sie kam sofort.

»Rettung!« rief er nur. »Ich weiß etwas.«

Er hörte deutlich, wie ihr Atem aufjubelte. »Was ist es?«

»Wir wollen uns sprechen,« riet er vorsichtig und sprach französisch. »Nicht durch das Telephon. Komm nachmittag zu mir!« »Ich möchte nicht wieder in deine Wohnung kommen,« bedachte sie, »man könnte mich sehen.«

»Komm in den Bischofspark! Dort ist es einsam.«

»Wann?«

»Nachmittag um vier.«

»Gut. Und Dank – Dank!«

Rettungsberauscht, wie ein Kolumbus, der das Land im Westen als Nebelstreif am Himmel auftauchen sieht, schlenderte Faber nach Hause. Gottlob, das war ein befreiender Gedanke zur rechten Zeit. Und alle seine plötzlich entspannten Empfindungen strömten seinem Weibe zu, das er liebte mit starker leidenschaftlicher Innigkeit.

Er sann.

Wie war das anders gewesen, was ihn einst mit Manja verbunden hatte! Soviel jünger war er damals gewesen, sechs Jahre. Eine lange Zeit der Reife, wenn es die Jahre von fünfundzwanzig bis einunddreißig sind. Er hatte im Grunde immer verehrend zu der gelehrten feinen Frau aufgesehen, bis endlich seine kraftvolle Urnatur ihn hingerissen hatte. Doch seine herrlich-irdische, mütterlich-frohe Fieze, die ihm seine beiden Buben heldenhaft lächelnd geboren hatte, sie liebte er warm und ebenbürtig, treu und wetterhart, wie er die sommerwarme Scholle liebte, die ihm Gott-Natur und alle Heiligkeit der Welt war.

Er trat in einen Blumenladen und kaufte rote schwellende Hochsommerrosen.

Frohgemut pfeifend öffnete er die Haustür und trat in sein Zimmer. Nebenan war es still. Er öffnete. Sie waren fort. Alle. Er lief in die hinteren Räume und rief nach seinem Fieze-Weib, die Rosen wie rote Freudenfeuer schwenkend.

Da öffnete die Köchin die Küchentür. »Frau Professor ist mit den Kindern in den Stadtpark gegangen. Sie ist pünktlich um zwei zu Tisch zurück.«

Ein wenig enttäuscht zog er mit seiner Festflammengarbe in sein Zimmer zurück. »Wollen wir mal gleich nach München schreiben,« murmelte er vor sich hm, »und an die Fakultät hier wegen des Urlaubs!«

Er trat an den Schreibtisch. – Die Rosen fielen aufklatschend zu Boden, der Professor schwankte sacht hin und her. Auf dem Tische lag ein geschlossenes Schriftstück mit einem Dienstsiegel. Schwer sank er nieder in den Sessel. Das war die Ladung. Er wußte es. Er brauchte die Umhüllung nicht zu lösen. Er wußte es. Nun war alles vorbei. Wenn er jetzt um Urlaub einkam, durchschaute ihn jedes Kind. Das war elende Flucht. Dann war Manja genau so verloren, wie wenn er zu Gericht ging und sein Zeugnis verweigerte.

Dem Professor fielen beide Arme hilflos über die Seitenlehnen des Sessels herab. So saß er, bis die Klingel frohlockend Sophies Heimkehr durch das Haus kündete.


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