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XXVI.

Ein einstöckiges ziegelrotes Haus, davor die Geleise. Das war der Bahnhof, an dem Beatrice Herforth den Zug verließ. Ihren Handkoffer – mehr hatte sie nicht an Habseligkeiten – übergab sie dem Portier. Der sah ihr lange nach, blickte dann zu dem Bahnhofsvorsteher hinüber und beide sahen sich an mit bedeutungsvollem Blick. Da war sie ja wieder, diese ... Und der Vorsteher lief hinein in die Dienstwohnung, sein Weib mit dieser welterschütternden Sensationsnachricht brühwarm zu überschütten. Die Korpulenz wälzte sich mit beängstigender Behendigkeit zum Fenster. Wahrhaftig, da lief sie. Jesus, Maria und Josef! Da lief sie und war wieder da! Jesus, Maria und Josef!

Mit tiefgesenkter Stirn eilte Beatrice durch die Straßen. Wie ein Spießrutenlaufen war es. Auf den Gassen blieben die Leute stehen und sahen sie an, mit Blicken wie vergiftete Indianerpfeile. Sie hatte an diese Qual nicht gedacht. Sie hatte nur an ihre Kinder gedacht und an ihren Mann. Sie eilte – eilte. Endlich öffnete sich der Marktplatz. Metallisch glänzte das ovale Porzellanschild von der Mauer. Sie huschte zur Tür hinein, wie in eine bergende Schlucht, und trat mit wankenden Knien in das Bureau. Außer dem Schreiber war niemand zugegen.

Dem Manne glotzte bleiche Geisterfurcht aus den wenig begabten Augen.

»Ich bin es, Herr Klostermeyer,« suchte Beatrice seine Furcht zu bannen. »Ist jemand drinnen bei dem Herrn Rechtsanwalt?«

»Ein Mandant ist drinnen,« blökte Herr Klostermeyer und starrte sich die Augen aus dem Schädel.

Scheu setzte sich Beatrice auf die Bank. Hier wollte sie warten. Sie hörte durch die dünne Decke Irmgards wildtollende Stimme. Da tappte auch Horsts trippelnder Schritt. Das Herz sprang ihr fast. Nein, sie wollte erst ihn sprechen. Nicht hinter seinem Rücken zu den Kindern schleichen. Ihr waches Rechtsgefühl wußte, daß sie das Recht verwirkt hatte. Und wenn sie wieder gehen mußte? Erst den Kindern einen neuen Trennungsschmerz in ihr jugendseliges Vergessen hineindüstern? Nein, nein. Wenn sie wieder gehen mußte –! Sie knickte in den Hüften ein, so zog die Angst schmerzhaft die Eingeweide zusammen.

Da ging die Tür, die aus dem Sprechzimmer in den Hausflur führte. Sie hörte, wie ihr Mann zurück zum Schreibtisch schritt. Da stand sie auf, der Blick des Schreibers bohrte sich wie ein Nadelstich in ihren Rücken. Sie öffnete die Tür.

Der Rechtsanwalt saß am Pult und schrieb. Ohne aufzublicken, fragte er: »Was ist, Klostermeyer?« Da sagte Beatrice: »Ich bin es.« Doch kein Laut drang aus ihrer Kehle.

Herforth hob den Kopf. Schnellte auf, fuhr halb von dem Sessel in die Höhe, fiel wieder zurück und sah aus aufgerissenen Augen auf die Frau an der Tür. Alt, und grau war er geworden.

»Du hast mir nicht geantwortet,« flüsterte sie, »da bin ich gekommen.«

Er sah sie noch immer wortlos an.

Sie hob die gefalteten Hände zu dem tränenbebenden Munde. »Hab' Erbarmen!« flehte sie flüsternd, »hab' Erbarmen! Ich hielt es nicht aus. Ich habe mich krank gesehnt nach dir und den Kindern.«

Er blickte nieder auf die Tischplatte.

Da lag sie zu seinen Füßen. »Hab' Erbarmen! Ich bitte nicht um Vergebung. Ich erhebe keinen Anspruch auf Vergebung. Ich liege hier und flehe um Mitleid.« Sie hob das weiße schöne Gesicht ihm entgegen: »Ich liebe dich doch!« schrie sie in Verzweiflung.

Er sah an ihr vorbei zu Boden. »Du liebst mich?« Er röchelte spöttisch, zweifelnd, zaudernd.

»Ja,« sie umschlang seine Knie, »ich liebe dich.«

»Und du hast das getan!« sagte er anklagend.

»Das war Wahnwitz,« schluchzte sie. »Das war das letzte Aufflackern meiner Jugend. Das war eine wahnsinnige Angst, das Leben könne vorübergehen, ehe ich es recht gelebt hatte. Ich war irr. Ich lief umher und glaubte, das Leben hier bei dir, bei den Kindern, im Hause, die kleine Stadt – das wäre nicht das Leben. Das läge irgendwo dort draußen. Ich wollte es noch erraffen, ehe das Alter kommt. Jetzt bin ich nicht mehr jung. Die Jugend mit ihren törichten Phantastereien ist tot. Jetzt weiß ich, was das Leben ist. Jetzt weiß ich, daß bei dir und den Kindern das Leben ist. Jetzt weiß ich, daß das Leben in Enge und Güte und Treue ist. Ich schwöre dir, Heinrich, daß ich es jetzt weiß. Ich schwöre es dir – ich schwöre es dir!«

Ihre Stirn schlug hart nieder auf seine Knie. Der Rücken zuckte.

Der Mann schwieg. Hub die Hand und ließ sie wieder sinken. Sie bog den Kopf zurück. Das schwarze Haar wallte in den Nacken.

»Denk', es sei eine Krankheit gewesen,« flehte sie wieder, »eine Verirrung meines Geistes! Wir sind Eheleute. Verstehe es. Nichts Unverständliches kann sich zwischen uns drängen. Du kennst mich seit Jahren. Du hast mich in Leidenschaft und Kindesnot gesehen. Du kennst mich doch. Laß nichts Unverständliches zwischen uns sein! Laß mich meine Brust fest an dich pressen, daß nichts zwischen unsere Herzen kommen kann! Daß du mich fühlst – mich – wie ich atme und bebe und bin. Laß mich wieder ein in dein Fühlen und Denken! – Laß mich bei euch bleiben – prüfe mich – probe mich! – Ich will nichts mehr vom Leben, als für euch arbeiten und sorgen. Alle Phantasien sind tot. Ich hatte noch so viel jugendblaue Dämmerung in mir. Das Leben hat jetzt in mir getagt. Hab' Erbarmen! Hab' doch mit mir Erbarmen! Denk' doch, wie ich dort oben lag, bei Irmgards Geburt, zerfetzt, zerrissen, verblutet –«

Wie ein Wirbelwind tobten die Worte hervor.

Da hatte er die Hände unter ihren Achseln, zog sie zu sich hinauf und flüsterte: »Ich hatte dich doch immer so lieb!«

Sie schlang die Arme um seinen Körper.

»Du – du!« stammelte sie.

»Ich habe dir geschrieben,« gestand er mit tränenunsicherer Stimme. »Jede Nacht habe ich dir geschrieben und die Briefe vernichtet, weil ich mich schämte.«

»Nicht schämen,« sie preßte sich heißer an ihn, »keine Scham soll zwischen uns sein! Nichts, nichts soll zwischen uns sein als begreifende Menschlichkeit.«

Er riß sie an sich, heftig, langentbehrt, sehnsüchtig. Und küßte sie. Und ihre Tränen flossen zusammen, und ihre Seelen, und ihre arme gemarterte todwunde Liebe. –

Als dann der Schmerz und die Freude milder ebbten, oben bei den Kindern, sprachen sie von der Zukunft.

»Hier können wir nicht bleiben,« entschied er. »Wir würden verhungern. Kein Mensch würde mehr zu mir kommen.«

»Glaubst du?« fragte sie bleich.

»Ich weiß es. Kenne die lieben Mitmenschen. Das vergessen sie mir nie, daß ich dich wieder zu mir nehme. In solchen Dingen haben die größten Lumpen eine superkitzliche Moral.«

»Was wollen wir tun?« verzagte sie.

»Fortgehen.«

»Fortgehen? Als Anwalt in einer anderen Stadt dem Brot suchen? Heute, als älterer Mann!«

»Ja,« nickte er, »wir gehen nach München und fangen von vorn an.«

Da tastete sie nach seinen Fingern. »Ich werde dir helfen. Wir brauchen kein Mädchen. Jede Arbeit will ich tun. Und im Bureau will ich dir alles schreiben. Wie eine Magd will ich arbeiten und wie die emsigste Schreiberin.«

Er sah sie lange an. Dann sagte er: »Vielleicht mußten wir uns erst so schmerzlich verlieren, Beatrice, um uns so freudevoll für das Leben zu finden.«


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