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XVII.

Als Manja am Nachmittage heimgekommen war, ging sie sofort in das freundliche Knabenzimmer ihres Jungen. »Du liest schon,« fragte sie, »bist du auch mit den Schularbeiten fertig?«

»Schon lange, Mama,« tat er großmächtig. Und nachdenklich wie ein Erwachsener: »Ein famoser Kerl, dieser Robinson Crusoe, Mama.«

Sie setzte sich dicht neben ihn, schlang liebkosend den Arm um seinen Nacken und zog seinen braunen Kopf an ihre Brust. »Mein Junge,« flüsterte sie, »mein kleiner lieber Bursch.«

Er hielt einige Sekunden still, dann befreite er sich sanft, aber nachdrücklich aus der Umschlingung und forschte: »Mama, glaubst du, daß ich ein Napoleon werden kann?«

»Du – ein Napoleon?!« lachte sie, trotz ihres Kummers.

»Ich denke fortwährend daran, auch wenn ich hier den Robinson Crusoe lese. Ich möchte es sehr gern, aber es wird wohl zu schwer sein. Was glaubst du?«

»Ich glaube auch, Paul, es wird ein bißchen zu schwer sein,« sagte sie mit ernsten grauen Augen, »Es wäre auch kein Glück für dich, ein Napoleon zu werden. Für dich selbst nicht, und für die anderen auch nicht.«

»Aber fein wär's doch,« beharrte der junge Grübler, »denk nur, Mama, Kaiser! Und dir würde ich Briefe schreiben wie Napoleon an seine Mutter Lätitia.«

»Werde lieber ein glücklicher zufriedener Mann,« sagte sie und strich ihm über das weiche Haar, »und ich will auf deine Kaiserbriefe verzichten!«

»Das bin ich doch schon,« trotzte er.

»Was bist du?«

»Ein glücklicher zufriedener Mann!«

Sie lachte. »Ach, wirklich!«

»Natürlich,« erläuterte er sachlich, »ein Mann bin ich noch nicht. Aber glücklich und zufrieden bin ich doch und brauch' mir kein zweites Frühstück in der Schule zu erbetteln wie Arno Müller, und ein Rad hab' ich auch. Wenn ich nun nichts weiter tue als wachse, dann wächst doch der glückliche und zufriedene Junge mit, und dann werde ich ganz von selbst ein glücklicher und zufriedener Mann.«

»Du bist ein Philosoph,« brodelte sie da herzlich auf und vergaß minutenlang ihr Geschick.

»Wenn du meinst, daß ich kein Napoleon werden kann,« überlegte der junge Denker weiter, »dann werde ich ein Robinson Crusoe werden. Das ist natürlich viel leichter. Aber ich wünschte doch, ich hätte den Schiffbruch erst hinter mir!«

Da fragte sie aus ihren schweren Gedanken heraus: »Sag mal, Paul! Wenn ich sehr weit fort ginge, würdest du dich sehr nach mir bangen?«

»Sehr,« versicherte er. »Aber du verreist ja nicht. Ich komme doch mit nach Westerland, wenn unsere Ferien beginnen.«

»Wenn ich fortginge, Paul, würdest du manchmal an mich denken?«

»Oft, Mama, immer, meistens. Manchmal muß man ja auch an etwas anderes denken, nicht wahr?«

Da nahm sie seinen Kopf in die Hände, sah ihm bannend in die Augen und sagte wie ein Beschwörer: »Wenn du an die Mama dann denkst, denke immer daran, daß sie einen klugen, braven, hilfreichen Menschen aus dir machen wollte, hörst du?«

Er nickte gewissenhaft.

»Und daß es sie sehr schmerzt, wenn du nicht brav bist, und daß sie sehr, sehr glücklich ist und es auch ganz in der Ferne weiß, wenn du ein guter, fleißiger, wackerer, kleiner Bursch bist.«

»Aber Mama,« bedachte er und wand den Kopf frei, »ich muß doch gut und brav sein, wenn ich Robinson Crusoe werden will!«

»Dann werde ein Robinson Crusoe!« entschied sie ernst und stand auf. »Und nun, der Nachmittag gehört dir, Paul. Wollen wir ausfahren, oder soll ich dir etwas vorlesen oder – nanu? Ach, du willst wohl schwimmen gehen?«

»Ich wollte eigentlich, Mama,« gestand er kleinlaut.

»Gut,« sagte sie und schob die Krawatte unter dem breiten, weißen, steifen Umlegekragen zurecht, »geh' baden! Aber nicht länger als zehn Minuten im Wasser bleiben! Hörst du, Paul?«

»Ja, Mama.« Und fort war er.

Manja räumte still in dem Zimmer umher. Ach, dem Kinde starb sie nicht. Er würde sie ein wenig vermissen zuerst, ja. Aber sie dann bald über seinen Büchern und Zerstreuungen verschmerzen. Vielleicht wurde sie ihm dann in der Erinnerung eine Art guter, zum Edeln weisender Geist. Ja, für den Jungen war ihr Tod eine Güte. Dann konnte sie ihm in der Erinnerung wie ein leuchtender Stern am Lebenshimmel stehen. Tat sie aber feig den Schritt nicht und wurde mit Schimpf und Schande aus dem Hause gejagt; zuckte im Hause ein jeder verächtlich und verschämt zusammen, wenn das Wort »Mutter« fiel, dann war sie ihm erst ganz gestorben und verloren.

Nein, nein! Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte: wenn sie ehrlich und tapfer den Dingen entgegensah, schadete sie mit ihrem Tode keinem – keinem. Auch nicht sich selbst. Das Leben der verlassenen geschiedenen Frau war keine Lebenslockung. Nein – nein. –

Sie ging in ihr Zimmer und vergrub sich in ihren weichen Lieblingssessel. Ihre Füße wühlten sich wohlig ein in das seidige Eisbärfell am Boden. So saß sie unbeweglich, dachte an alles, was ihr im Leben liebgeworden, tausend längst vergessene Nichtigkeiten fluteten wehmutverklärt vorüber. So sah sie und löste sich leise und zag von dem, was ihr lieb war auf dieser Welt. Und dann starrte sie mit weit aufgerissenen Augen hinüber in jene andere, von der ihr gelehrter, feiner Kopf wußte, daß sie das tiefe, hohle, schwarze, unausdenkliche Nichts ist. Und sie stieß ihr Grübeln wie einen Eisenbohrer hinein in diese dunkle Undurchdringlichkeit, die wir Tod nennen, und wühlte und tastete hinein in das kaltwehende Dunkel und fand nichts, nichts, als das große fragende Nichts. –

Sehr aufgeräumt kam der Präsident abends heim. Schon als sie zu Tisch gingen, brachte er seine große Neuigkeit an.

»Manja, Faber war heute bei mir.«

Sie fiel in den Stuhl, auf den sie sich gerade setzen wollte.

»Hallo,« sprang er ihr munter bei, »eine Überraschung, wie?«

»Was wollte er?« fingerte sie irr auf dem Tischtuch einher.

»Na – na – na – Manja – er wollte mich nicht umbringen. – Was ist das nur mit dir in dieser letzten Zeit?!«

»Ich bin so sehr nervös,« log sie scheu.

»Sehr. Na, wir reisen ja bald. Da wird es besser.«

»Ja. – Sag nur, was wollte er – bei dir?«

Der Präsident war schon wieder tief in seinem Erfolge. Behaglich berichtete er: »Er hat heute eine Berufung nach München erhalten –«

»Heute?«

»Ja, heute. Wir erfuhren es sofort. Nun lag die Sache für mich sehr unbehaglich. Alles hat mir immer geklappt. Jedes Ressort steht mustergültig da. Das darf ich ohne Überhebung sagen. Nur mit der Universität hat es immer gehapert. Es ist zu schwer bei unseren beschränkteren Mitteln, mit den großen Universitäten zu konkurrieren. Besonders in der medizinischen Fakultät – diese – Forderungen, die die Kliniker heutzutage an die Kliniken stellen – na, also kurz und gut, wenn Faber mir wieder davongelaufen wäre – die Sache wäre im höchsten Grade peinlich für mich gewesen. Ich war also Nachmittag bei ihm. Er war nicht zu Hause. Abends kam er. Und was soll ich dir sagen: Dieser berühmte kluge Herr Faber – ohne Schwertstreich hat er sich ergeben!«

Sie lauschte, ohne eine Fiber zu rühren. »Jetzt,« der Baron nahm behaglich das Schnitzel von der Schüssel, »ist mir klar geworden, wie diese Abkühlung in deine Freundschaft gekommen ist. Nein, der Mann ist nichts mehr für deinen Geschmack! Herrgott, hat der sich verändert! Früher dieser lebenstolle, saftige Losgänger. Und heute? Ein tölpischer, ängstlicher Buchgelehrter. So was Geducktes hat er. Ging auch sofort darauf ein hierzubleiben, als ich ihm ein bißchen Honig um den Bart schmierte, ging ohne weiteres darauf ein, ohne Bedingungen zu stellen! Muß doch eine entnervende Sache sein, diese Bücherweisheit.«

Und ihr ritterlich die Hand über den Tisch hinwegreichend, fügte er lächelnd hinzu: »Bei Frauen liegt die Sache natürlich anders, meine liebe gelehrte Hypatia!«

Sie erwiderte sein Lächeln matt. Und grübelnd sagte sie, fast wider Willen: »Warum er bloß nicht nach München geht? Unfaßlich.«

»Erlaube mal,« lachte der Baron, »damit wäre mir –« er steckte einen Bissen in den Mund und kaute hastig, um fortzufahren. Er sprach dann auch weiter, doch Manja hörte nicht mehr auf seine Worte. Ihre Gedanken suchten zu ergründen, weshalb er nicht angenommen hatte. Das war doch ein ungeahnter Glückszufall für ihn. Fortkönnen, heraus aus all den alten Verhältnissen, in eine größere neue Umgebung, all das Gefahrvolle hier hinter sich lassen! Warum bloß hatte er nicht zugegriffen? Sie fand keine Lösung.

Der Präsident war inzwischen heiter weitergeplätschert. Er führte meist das Wort. Manja sprach nie viel, bot aber stets eine aufmerksame Hörerin.

»Übrigens, die Frau!« Über des Barons Augen huschte der feuchtschimmernde Freudenschmelz, den Manja so gut kannte. Er war der untrüglichste Feuermelder eines Brandes in seinem Herzen. Sie horchte auf.

»Ein entzückendes Weib, diese Frau Faber! Man begreift nicht recht, wie sie an diesem Manne, so wie er heute ist, Gefallen haben kann. Eine Schönheit geradezu! Etwas Südländisches.«

»Also dein Typ,« lächelte Manja nachsichtig.

»Und ob! Feuchte schwarze große tiefe Mandelaugen, so wie die Nubierinnen hatten, die damals hier in der Ausstellung waren. Erinnerst du dich? Und eine gelbliche Sammethaut mit einem rührenden Flaum. Und dieses prachtvolle tiefbraune Haar. Und das Merkwürdige ist, an den Stirnseiten lacht es ganz blond hervor und verdunkelt dann in ganz allmählichem Crescendo an den Schläfen hin. Ganz eigenartig!«

»Du scheinst sie ja sehr genau angesehen zu haben,« lächelte Manja.

»Das nicht einmal. Ihre Schönheit überrascht. Aber wenn sie spricht, vergißt man ihr Äußeres. Sie hat etwas so lieb Bestimmtes, so Fürsorgliches, so –«

»Du bist ja ganz verliebt,«

»Nein,« sagte er fast leise, »das ist keine Frau zum Verlieben. Das ist – weißt du, Manja, ich las einmal von einer Frau, sie sei wie ein Lied. So – ist diese Frau. Wie eine glockenklare Altstimme unter ausgestirntem Himmel, so ist sie!«

»Du wirst ja ganz poetisch!«

»Ja,« lächelte er verlegen, »es war wohl ein bißchen extravagant, das Bild.«

Da geschah etwas Seltsames. Manja lehnte sich tief in den Stuhl zurück und lachte, lachte laut und schütternd aus schallender Kehle. Lachte, lachte, daß ihr die Wasser wie Sturzbäche über die Wangen sprangen, lachte, als der Baron schon längst aus seiner Verdutztheit aufgeschreckt bei ihr stand und in staunender Besorgnis ihre Hände umfaßte, lachte krampfhaft mit verzerrtem Munde, daß die Tränen zum schluchzenden Strome wurden, lachte klirrend, bis es ein stoßendes leidenschaftliches Weinen geworden war.

»Das ist Hysterie,« beklemmte es dem Baron das Herz, »das ist nackte Hysterie.« Und er befeuchtete ihr Taschentuch und legte es ihr ins Genick und streichelte und koste sie, bis das ungezügelte Weinen zum stöhnenden Wimmern und schluchzenden Versiegen wurde.

Dann stand sie ratlos da, zauste das nasse Tuch zwischen hilflosen Fingern und suchte mit tränenmatten Augen zu lächeln.

»Was war das?« bangte der Baron.

»Die Nerven,« tröstete sie, »es ist schon gut. Möchte nur ruhen. Bleib' da!« wehrte sie rasch, als er die Serviette niederlegte, die er noch immer in der Linken hielt, »iß weiter, Lieber! Laß dich nicht stören! Ich möchte mich legen.«

Er stand unschlüssig. Da drückte sie ihn sacht in den Stuhl. »Wirst dir doch durch meine dummen Nerven deinen Erfolgsabend nicht stören lassen! Iß du weiter, bitte! Und denk' an deine schöne Eroberung!« Da lächelte sie schon ganz frei und neckend.

Und dann küßte sie ihn und ging zur Tür.

»Ich sehe nachher noch einmal zu dir herein,« geleitete er sie.

»Lieber nicht, Egon!« bat sie. »Ich will versuchen, gleich zu schlafen. Bin auch todmüde.« Mit einem guten Zunicken schloß sie die Eßstubentür.

In ihrem Zimmer blieb sie sekundenlang unter der Ampel stehen. Dann fiel sie vornüber auf die Chaiselongue und lachte wieder, lachte grell, bitter und überreizt. Diese Komödie! Diese Komödie, die das Leben war. Diese lächerliche, wahnsinnige Farce! Sie hatte Faber geliebt und wollte darum sterben. Und er, ihr Mann, hatte sich in Fabers Frau so vernarrt, daß er poetisch wurde, wie nie zuvor in seiner kräftigen Alltagsvernunft, und in Flammen stand, wie kaum zuvor.

Sie stand plötzlich, ihr Gesicht wurde eisig kalt. Und wegen einer Rolle in dieser Lebensposse wollte sie sterben? Sterben, weil sie eine Rolle in diesem Lebensschwanke gespielt hatte? Lächerlich – lächerlich!

Sterben, dieses einmalige Leben mit all den tausend lieben Dingen wie eine zerborstene Eierschale hinwerfen, um eine Farcenrolle auszuspielen! Nein – nein. Das war Wahnwitz! Das war Schauspielermanie! Das, was in ihr als Seele oder Odem oder Geist des Alls atmete, das Leben in ihrem Körper – das war heilig. Das sollte nicht hingemordet werden wegen grotesker Verrenkungen tanzender Puppen! Nein, nein. Das war das Spiel des Lebens nicht wert. Drüben im Eßzimmer saß der, um dessenwillen sie hatte eintauchen wollen in das schwarze Nichts, in dem kein Gedankenlot Boden fand, und dachte in beherrschter Sinnlichkeit an die »gelbliche Sammethaut mit dem rührenden Flaum« der Frau des anderen. Nein, dazu war das zu kostbar, was in ihrem Hirn die Gedanken der Größten aller Zeiten fortspann. Um in einer Groteske zu verpuffen, war es viel zu kostbar.

Lange ging sie auf dem weichen Teppich umher und sann. Bei Gott, es gab billigere Theatercoups, diese Komödie zu lustigem Ende zu führen, als ihren Tod. Faber hielt solch eine Deus-ex-machina-Überraschung für den letzten Akt in der Hand. Er sollte damit auf die Bühne platzen! Ja, das sollte er. Morgen ging sie zu ihm und lehrte ihn seine Possenrolle mit allen dazugehörigen Lachmuskelerregungskniffen. Ihr reger Geist war neu belebt, sprühend, höhenklimmend wie seit langen Wochen nicht mehr. Ja, das war der Weg. Den sollte er gehen. Besseres verdiente diese Komödie nicht!

Seit dem Winter war dieses die erste Nacht, die Manja von Ingenheim kindlich tief und sorgenfrei schlief.


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