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Die Frauenfrage.

Gesellschaft. Mai 1894.

Ist sie heute wirklich noch eine »Frage«? Insofern sie praktisch noch nicht gelöst – ja; insofern ihre Existenz heute unbestritten – nein. – Die Frauenfrage hat allmählich die bekannten drei Stadien durchgemacht, das des Spottes und der Verachtung, der leidenschaftlich persönlichen Erörterung, endlich der sachlichen Diskussion; damit ist sie aus einer »Frage« zu einer »Sache« geworden, und statt von »Frauenfrage« sollte man heute von »Frauensache« reden.

Ja, wenn man nur einmal so recht gründlich und offen darüber reden könnte, das wäre für beide Teile sehr wünschenswert. Nietzsche fasst das etwa in die Worte zusammen: »Lasset uns nur davon sprechen, oh ihr Weisesten, ob es gleich schlimm ist, Schweigen ist schlimmer, denn alle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig.« Und es giebt viele solcher verschwiegenen Wahrheiten in der Frauensache. Die Frauen selbst, und gerade die weitsichtigsten unter ihnen – sind in dieser Hinsicht sehr zurückhaltend, besonders Männern gegenüber, so dass es garnicht leicht ist, ihre innersten Gedanken wirklich kennen zu lernen. Sie sind sehr zurückhaltend und das aus guten Gründen: erstens, weil sie es durchaus nicht immer mit jenen »Weisesten« zu thun haben, die Nietzsche anruft; zweitens, weil sie sich über die Tragweite, das Dynamit in ihren Ideen, sehr klar sind; drittens, weil sie ihre Ideen erst ausprobieren und nach experimenteller Methode verfahren wollen. –

Und der Schriftsteller, der solche Frauen hat sprechen hören und glaubt, sein volles Herz nicht wahren zu können? Nun, der bekommt meist ein litterarisches Maulkörblein vor, und was er geradezu heraussagen wollte, muss er hinter die spanische Wand des Fremdwortes oder der Gedankenstriche flüchten. – – – Da stehen sie, diese kleinen, schwarzen Ameisen; sie haben manchen Menschen vor dem Verbrannt- oder Gehängtwerden geschützt. – Sie haben aber auch manchem tapferen Gedanken, mancher heilsamen Wahrheit das Leben gekostet und sind immer ein Zeichen dafür, dass an dieser Stelle etwas Totes, etwas Stummes verscharrt liegt, das eigentlich gern hätte leben und reden wollen: »avis au lecteur!« –

Also wir sprachen von der Frauensache, und ich machte Betrachtungen über deren unergründliche Tiefen. Das war vielleicht nicht ganz recht; denn was ist am Ende klarer als die Parteistellung in dieser Sache: hie Welf, hie Waibling; – hier die Männer, da die Frauen, und – rein theoretisch betrachtet – erstere, trotz ihrer vorteilhafteren Stellung, trotzdem sie die Sonne und den Wind nebst Staub im Rücken haben, zur Niederlage vorherbestimmt. Denn mit der Lösung der Frauenfrage verliert der Mann eine Ausnahms-, eine Herrscherstellung, die er in absehbarer Zeit nicht wieder gewinnen wird – wenigstens nicht als Geschlecht; der einzelne mag und wird den Kampf darum wohl auf eigene Hand führen. Theoretisch betrachtet liegt die Sache aber so: Von dem bevorrechtigten Wesen wird der Mann zum gleichberechtigten, von dem übergeordneten zum nebengeordneten; die soziale Syntax löst sich plötzlich in lauter coordinierte Hauptsätze auf, und das »alte Verhältnis« von Haupt- und Nebensatz wird ins Fabelbuch geschrieben. Mit einem Wort, an die Stelle des aufgeklärten Despotismus tritt parlamentarische Regierung; oder, wie Frau von Suttner sagt: die Frau ist grossjährig geworden, und das preussische Landrecht: »In gemeinschaftlichen Angelegenheiten giebt der Wille des Mannes den Ausschlag« – muss umgearbeitet werden.

Die Männer müssten nun Engel und nicht Menschen sein, sollten sie von dem Sockel, auf den Gewalt sowie wirkliche Leistungen sie gestellt haben, freudejubelnd heruntersteigen oder mit einem »bitte freundlichst« der Frau neben sich Platz machen. Es handelt sich hier um Grösseres, als um einen guten Sitz im Theater oder Tramway, den man wohl einer Dame abtritt; es handelt sich darum, einen Thron aufzugeben, und das haben von hundert europäischen Monarchen meines Wissens kaum zwei vermocht. – Kein Wunder also, dass sehr viele Männer sich jetzt im Gegenteil erst recht gross und breit auf ihrem Thron hinsetzen und bei der geringsten Annäherung sich aufs gröbste und wütendste wehren. Das ist nicht hübsch, aber sehr menschlich – fast hätte ich geschrieben »männlich«, denn, weiss Gott, man hat Entsagung seit zu langer Zeit der Frau allein gepredigt, als dass sie dem Manne geläufig sein könne.

Aber die Frauensache hat unter Männern auch ihre Freunde und Liebhaber; sie sind oft ein wenig Theoretiker dabei, weil eben ihre persönlichen Neigungen sich mehr auf das Weib richten, als auf die Frau; aber sie denken imgrunde zu klar, um einer ernst strebenden Frau ihr »Recht« vorenthalten zu wollen, mit dem kleinen Vorbehalt, dass sie für ihr Haus die »petite femme« vorziehen und bei der neuauftauchenden »grande femme« es nicht unterlassen können, die alten, kleinen Mittel versuchsweise immer wieder anzuwenden.

Es giebt aber auch Männer, die in der Frauensache nicht nur gerecht denken, sondern auch gerecht fühlen. Sie warten nicht, bis man sie bittet, den Platz zu räumen, sondern sie machen es sich zur Ehrensache, das freiwillig abzutreten, was ihnen nicht von rechtswegen zukommt. Mag ein solcher Mann sich den Entschluss dazu in der »Republik« des alten Plato geholt haben, oder aus den Aufsätzen des neuen Carneri, oder endlich aus den eigensten Erfahrungen seines modernen Lebens – gleichviel, er thut es um der Gerechtigkeit willen und um so voller, je sicherer er seiner selbst und seiner Kräfte ist. So etwa denken gerechte Männer über die Frauensache – ob aber nicht auch sie manches verschweigen, manche Besorgnis für sich behalten, das mag dahingestellt bleiben. Denn es giebt thatsächlich, ausser gerechten Männern, auch verschwiegene Männer, und ist in dem letzten Jahrzehnt gleich das männliche Geschlecht oft in etwas düsteren Farben gemalt worden – was wahr ist, muss wahr bleiben, und käme man in den Verdacht pro aris et focis zu kämpfen.

Und das geschieht wirklich. Pro aris et focis – für Haus und Herd kämpfen die Männer wie die Frauen heute in der vielgenannten Frauensache. Erstere, um ihren bevölkerten Herd nicht vereinsamen zu sehen, letztere, weil sie lieber einen einsamen Herd ihr eigen nennen wollen, als die longas catervas wartender Frauen ins Unendliche fortsetzen. Aber ich bin vielleicht nicht verständlich genug: Solon, der alte Grieche, hat es vor grauen Jahren deutlicher gesagt (er sagte es auf Griechisch, und dabei ist ja das Nackte erlaubt), er sagte also: »Wir haben Courtisanen für unser Vergnügen, Konkubinen für unsere Bedienung, Gattinnen, die uns Kinder schenken und unseren Haushalt treulich führen.« – Man halte es ihm zu gute, er war eben ein heidnischer Grieche, der da hinten, weit bei der späteren Türkei und dem üppigen Asien wohnte; auch lebte er in alten Zeiten, wenn ich nicht irre im sechsten Jahrhundert vor Christus, in Zeiten, die vergangen sind; daher bei ihm dies unverblümt naive Geständnis, dass er, der Mann, zum mindesten drei Frauen braucht: die legitime Hausfrau, der er die legitime Rasse verdankt, er achtet sie, schützt sie – und langweilt sich bei ihr; die zweite, seine Sklavin, seine Leibeigene – eine Figur, die schon in der Geschichte des Erzvaters Abraham auftaucht, dort hiess sie Hagar, in Griechenland etwa Briseïs oder Polyxena, eine Figur im eigentlichsten Sinne des Wortes, denn sie sagt an: Schach der Königin; die dritte endlich mit ihrem freien, emanzipierten Verstande, des Mannes Geist verstehend, vielleicht als Person zu achten, aber nicht als Stand, und mochte sie noch so hochbegabt sein, neben dem Mann, der die höchsten Ämter bekleidete, doch nur eine geistreiche Hetäre: er war und blieb dieser drei Frauen offizieller Herr und Meister, sie wurden etwas nur durch ihn.

Aber das sind ja eben alte, verjährte Sitten und Geschichten, die man aus sicherer Entfernung mit Recht als roh und ungerecht brandmarkt. »Man«? ich hätte schreiben sollen »der Mann«, denn, es ist sehr seltsam, und ich fürchte, bald werden die Gedankenstriche kommen müssen: es giebt nämlich eine ganze Anzahl Frauen, die behaupten – nun, dass die Auffassung des Barbaren Solon heute in ganz Europa nicht nur besteht, sondern noch »zu Recht« besteht. »Dies,« sagen die Frauen, ist der punctum puncti; wird hier nicht geändert, so hilft alles »Lösen« der Frauensache nichts: das Haus ist aus dem Lot, man muss abreissen und neue Grundmauern legen.« –

Nun frage ich: wie kommen Frauen auf solche Anschauungen? In der Mädchenschule haben sie die doch nicht gelernt, denn da werden sie unterwiesen von der Blüte akademischer Jugend, der weibliche Einfluss wird in den wichtigsten Entwicklungsjahren sorgfältig von ihnen ferngehalten, und es liegt doch auf der Hand, dass Frauen nur von Frauen solche Anschauungen lernen können, da Männer sie nicht teilen. – Auf Universitäten gehen die Mädchen auch nicht – da soll es ja allenfalls ein wenig bunt hergehen; aus Thekla Gumpert und Frieda Schanz lernen sie gewiss nur das Mannes ideal kennen; die Kreuzersonate bekommen sie nicht zu lesen ... sollten etwa leichtsinnige Ehemänner aus der Schule geplaudert haben? Doch was ist da zu plaudern? Heute fordert der Kampf ums Dasein seinen ganzen Mann, wer hat da noch Zeit, wilden Hafer zu säen; und was Deutschland betrifft, so ist es eben Deutschland, das Germanien des Tacitus, der da sagt: »Etwas Heiliges und Göttliches verehrt der Germane im Weibe« – und »sanctum aliquid et divinum« lesen es seit Generationen die deutschen Primaner ihm nach. – Wenn das kein Beweis dafür ist, dass die Frauen irren, wenn sie die europäischen und besonders die deutschen Männer noch auf dem Standpunkt des Solon wähnen! Denn das kann doch keine Frau wissen, dass derselbe Knabe, der in Prima den Tacitus studiert, in Sekunda den Sallust gelesen hat, und zwar »die Verschwörung des Catilina«, ein Werk feinster Zerlegung, würdig der Feder eines Maupassant, die Schilderung eines Idylls von Mord, Gier, Ausschweifung und Frechheit, voll der herrlichsten indirekten Reden, der köstlichsten Akkusative mit folgenden Infinitiven, ein Meisterwerk lateinischen Stils, in dem die Frau eine der edelsten Rollen spielt. Kurz eine treffliche Schulung für den heranwachsenden Jüngling; – aber wie gesagt: welche Frau kann davon etwas wissen?

Und wenn sie etwas davon weiss? Oh, dann wird die Sache böse; das geht sie wirklich nichts an; sie sollte die Augen schliessen; es ist nicht hübsch, wenn eine Frau die Nachtseiten des Lebens kennt und nun gar davon spricht – – – – nein, hier muss ich Gedankenstriche machen.

Es ist also ganz unerfindlich, wie Frauen auf jene solonische Auffassung deutscher Zustände gekommen sind; wäre es aber erfindlich oder, wie manche behaupten wollen, gar berechtigt, so lässt sich da kurzer Prozess machen: es hat die Welt, es hat jeder Mann zehn, ja hundert Mittel, eine solche Frau oder solche Frauen so blosszustellen, mit einem Wort, einem Lächeln, einem Achselzucken sie so herabzusetzen, dass ihnen die Lust zu weiteren Schritten vergeht; nicht wahr, das liegt auf der Hand?

Vielleicht ist es aber nicht klug, die Frau so zum äussersten zu treiben. Sie ist dann im stande, sehr unangenehm zu werden, und bekanntlich ist nichts unklüger, als einem Gegner zum Märtyrertum zu helfen; schon Seneca fand den Satz, dass non frustra nascitur qui bene moritur – und er ist ein glaubwürdiger Mann. – Daher ist es vielleicht besser, ruhig und sachlich das im Punkt der Frauensache zwischen den Geschlechtern bestehende Missverständnis aufzuklären.

Es sind die Frauen, die eine Beschwerde führen. Kurz zusammengefasst lautet die Beschwerde, wie folgt:

Die Frau behauptet, dass der Mann sie sich nur in einer der drei solonischen Kategorien vorstellen kann – seine Mutter und Schwester etwa ausgenommen; dass er sie als sachliche Arbeiterin, als Mensch – sich aber nicht denken kann; dass dies die Wurzel alles Übels ist, hier der Kernpunkt der Frauenfrage liegt und hier geändert werden muss.

Und diese Änderung würde bewirkt werden? Nun, dadurch, dass eine Zahl Frauen auftritt, die als sachliche Arbeiter so allgemein anerkannt werden, die als Menschen, als Kulturmenschen so unbestritten dastehen, dass es von da an in das allgemeine Bewusstsein und in die öffentliche Meinung übergeht: die Frau sei Frau, sei Mensch in erster Linie und Weib nur da, wo Sachen und Gedanken schweigen, und Leidenschaft und Sinn in ihre Rechte treten.

Mit einem Wort: die Frau hört auf, nur Weib zu sein, und in der Gattung Weib, die bisher allgemein die einzig anerkannte war, bildet sich eine neue Art: die »Frau« im eigentlichen Sinne, die »moderne Frau«.

Diese »moderne Frau« ist nicht die Frau der Decadence, der Überreife und Überkultur, nicht die Frau, wie sie Bourget und Maupassant schildern: das Kind flatternder Geselligkeit, des Salons, der Mode, des geschäftigen Müssigganges. – Sie ist in erster Linie eine geistige Arbeiterin. In der Litteratur ist sie bisher fast noch garnicht geschildert, wenigstens noch nicht naturwahr und ganz durchgeführt, und im Leben ist sie auch noch nicht anerkannt, sondern sucht sich erst ihren Platz zu erwerben.

Zu erwerben? Wir wollen es doch gerade heraussagen – zu erkämpfen. Und damit geht die Frauenfrage auf das Gebiet der Naturgeschichte über. Wenn etwas, so ist die moderne Frauenbewegung ein Beweis für den Darwinismus.

Hier ist eine Gattung, »das Weib« – die durch jahrtausendjährige, sich im Grunde gleichbleibende Lebensbedingungen nach einer, sich im Grunde gleichbleibenden Richtung hin gezüchtet worden ist. Kennzeichen der Gattung: das Ewig-Weibliche, Schönheit, Schwäche, Unterordnung und List. –

Nach mehreren Jahrtausenden dieser Züchtung treten nun Umstände ein, welche die bisherigen Lebensbedingungen der Gattung Weib verändern. – Die Angehörigen der Gattung beginnen, sich unbehaglich zu fühlen, ihre Existenz wird bedroht, d. h. diejenige Umgebung, in die sie mit ihrer bisherigen Organisation hineinpassten, wird ihnen entzogen, und eine andere Umgebung tritt langsam an die Stelle: die Familie, das Haus, worin das Weib gedieh, wofür es sich entwickelt hatte, entzieht sich ihm; die Welt ohne den Frieden der Familie und des Hauses tritt an seine Stelle. –

Was thun? Entweder Vertilgungskrieg der Spezies Weib unter einander, bis nur noch soviel Individuen übrig sind, wie in dem Überrest der alten Lebensbedingungen eine Existenz finden können – oder: Anpassung an die neuen Lebensverhältnisse. – Zu ersterem lässt es eine vorgeschrittene Kultur nicht kommen; die Gattung Weib betritt also den Weg natürlicher Anpassung. Wenn wir deutlich sprechen wollen: aus dem Zustand des geschützten und zugleich abhängigen Haustier Weib wird das unabhängige, ungeschützte Kampftier, die moderne Frau, oder kurzweg die Frau. – Und die Folgen dieser Anpassung? Nun, das Weib hat eine Reihe neuer Eigenschaften zu erwerben: Kraft, Mut, selbständigen Willen, drei Kampfmittel der Welt, drei neue Artzeichen, über welchen wahrscheinlich Schwäche und Unterordnung sich zurückbilden und verkümmern werden, List vielleicht bleibt, und bei der Schönheit die Sache noch unentschieden ist. Denn Schönheit kann dem Weibe, das sich zur modernen Frau entwickeln will, je nach Umständen verderblich oder dienlich sein. – Es eignen sich nun natürlich gerade solche Individuen zur Anpassung an die neuen Lebensverhältnisse, die jene neuen Eigenschaften, Kraft und Mut, Willen, in der Anlage schon besitzen; sie sind die Stärkeren und Bevorzugten im Kampf ums Dasein und werden, falls die neuen Lebensbedingungen dauern, einmal die Überlebenden, die Anerkannten sein. – Nicht heute und nicht morgen, denn die Zahl ihrer Gegner ist sehr gross. Gegner sind von vorneherein alle, mit denen die neue Art als Arbeiter in Konkurrenz tritt, in erster Linie also die Gattung Mann; in zweiter Linie ist es die Gattung Weib selbst. Eigentlich sollten die Vertreter der Gattung Weib der Entwicklung der »Frau« allen Vorschub leisten, denn diese Entwicklung befreit sie anscheinend von ebensovielen Konkurrenten. Nun spielt hier aber ein seelisches Motiv herein: die Entwicklung zur Frau wird instinktiv als eine »höhere Entwicklung« empfunden, als etwas neues, das immerhin reizvoll wirken könnte, und zwar reizvoll auf die Gattung Mann. Da diese Gattung Mann aber die eigentliche Existenzbedingung der bisherigen Gattung Weib ausmachte, darf das Weib ihr Ein und Alles nicht unter einen neuen Zauber fallen lassen, und daher ist, im Prinzip, das richtige Weib auch eine Gegnerin der Frau. So etwa verfolgten in schlammigen Urwäldern die ungeschwänzten Weibchen einer Art die geschwänzten Schwestern, und was ausschliesslich im Wasser lebte, verachtete die neu entstehende Art der Amphibien als eine rohe und freche Neuerung. Es ist eben schon alles einmal dagewesen.

Das Entstehen der Spezies »Frau« ist auch nichts neues, oder besser: das Streben nach ihrem Entstehen ist nichts neues. Im allgemeinen allerdings und in der grossen, überwiegenden Mehrzahl ist das Weib, seit es existiert, Weib gewesen; so weit aber die Geschichte reicht, hat die Gattung Weib immer und immer wieder Individuen hervorgebracht, die über das Weib hinaus, die Entwicklung der Frau einschlugen. Der Umstand ist recht wichtig; er beweist, dass die Entwicklung des Weibes zur Frau nicht nur ein Produkt der Not ist, sondern ein der Gattung Weib natürliches, innewohnendes Streben, das sich immer wieder Bahn gebrochen, wo die Gelegenheit dazu gegeben wurde. Es bedeutet zugleich, dass die Gattung Weib ihre natürliche Entwicklung noch nicht vollendet hat, dass gewisse natürliche Anlagen dieser Gattung sich noch nicht ausgebildet haben, gewisse Organe noch nicht genügend benützt, ja infolge jahrtausendelangen, mangelhaften Gebrauchs geradezu verkümmert sind, während die anerkannten und gesuchten Eigenschaften des Weibes sich auf Kosten der nicht gewünschten ausbildeten. Auch hier wieder das Gesetz von Nachfrage und Angebot, ganz instinktiv befolgt.

Nur bei Frauen, die es nicht nötig hatten, oder es nicht für nötig hielten, sich marktfähig zu machen, werden sich also die ersten Ansätze des eigentlichen Frauentypus finden, und solche Frauen waren in erster Linie die Fürstinnen, in zweiter die Priesterinnen. In diesem Sinne sind die Königin von Saba, sind eine Reihe ägyptischer Prinzessinnen, die Seherin Kassandra und die Brukterin Veleda Vorläuferinnen der modernen Frauenbewegung: sie haben amtliche, vom Manne unabhängige Stellungen gehabt, und man hat sie unter einem Gesichtspunkt auffassen müssen, der nicht mit den drei solonischen Kategorien stimmt. – Neben ihnen stehen die kriegerischen Frauen, die ihr Leben für eine »Sache« in die Schanze schlugen, von Judith bis zu Jeanne d'Arc und Charlotte Corday; endlich die hochbegabten Frauen, wie Sappho, die sich Künsten oder Studien widmen, und zu denen heute im Prinzip alle gehören, die sich durch geistige Arbeit unabhängig machen, also die grosse Zahl der lehrenden, der schreibenden Frauen und der Künstlerinnen. – Aber auch weniger glänzende Vorläuferinnen der Frauenbewegung sind zu nennen: manche von den »Hexen« des Mittelalters ist nur eine wissensdurstige Frau gewesen und gleich den alten Kräuterfrauen und den Hebeammen eine Vorläuferin der modernen Ärztin.

Auch darüber braucht man sich nicht im Unklaren zu bleiben, dass die griechischen und römischen Hetären gleichfalls Ahnen der modernen Frau sind: die geistige Kraft einer Aspasia ist ein Teil der Geschichte geworden, und damit bricht sich eine geistige Wertschätzung der Frau Bahn, die besonders in Frankreich heimisch ward. Allerdings, es ist diese Scheidung zwischen dem geistigen und dem sittlichen Wert, wie er bei der Hetäre meist eintrat, nicht ganz ohne Folgen gewesen; sie ist vielleicht heute noch nicht vergessen, und vielleicht merkt die moderne Frau auch heute noch etwas davon, dass lange Zeit hindurch ein kluger Frauenkopf von leichten Sitten als untrennbar galt. –

Fürstinnen, Priesterinnen, Gelehrte, Künstlerinnen und Hetären wären also die Ahnen der modernen Frau; zu ihnen gehören noch alle, die, unbekannt und ungenannt, mit Kraft und Mut sich über den Rahmen des Weibes hinaus entwickelt haben und sich, auch wenn sie einer der drei solonischen Kategorien angehörten, die Stellung der gleichberechtigten Frau erwarben. Jede von ihnen war ein Experiment der Natur, ein Schritt, mit dem sie versuchte, sich dem neuen Typus, dem Frauentypus zu nähern. Die Bildung dieses neuen Typus hat jahrtausendelang gedauert und dauert noch heute; sie hat zahllose Versuche erfordert und zahllose Opfer. Hunderttausendmal ist das neue, sich entwickeln wollende Wesen von der alten, schon fertigen Spezies besiegt und getötet worden: es waren eben Übergangstypen vom Weib zur Frau, und Übergangstypen sind, weil sie über ihre gegebenen Daseinsbedingungen herauswachsen, meist nicht lebensfähig.

Wir wollen uns deshalb darüber keine Illusion machen, dass es eins der schwersten Geschicke ist, von der Natur zum Übergangstypus bestimmt zu sein; auch darüber nicht, dass die Reihe der Übergangstypen vom Weib zur Frau heute noch lange nicht abgeschlossen ist, sondern im Gegenteil sich ungemein bereichert hat: jedes Weib, das heute durch Vererbung ausschliesslich weiblicher Anlagen sich ausschliesslich zum engsten Beruf des Weibes bestimmt fühlt, das garkeine Neigung und garkeine Kraft hat, sich zur Frau weiterzubilden und doch durch die Verhältnisse dazu gezwungen wird – ein jedes solches Weib ist ein Übergangstypus und kein beneidenswerter, denn es trägt auf unwilligen oder unfähigen Schultern eine schwere Last. –

Übergangstypen sind aber auch diejenigen Frauen, die sich zwar voll und ganz als »Frauen« fühlen, denen aber entweder die Verhältnisse oder ihre körperliche Anlage das wirkliche Ausbilden zum reinen, neuen Typus nicht gestatten. – Sie schleppen für gewöhnlich an einer erblichen Belastung in physischer oder materieller Hinsicht. Diese Tragödie ist heute auch sehr häufig, und es sind oft herrliche Formen, die die Natur unbekümmert verwirft. Sie verfolgt eben nur die Entwicklung der Spezies, und der einzelne gilt ihr nichts.

Das Ziel dieser Entwicklung ist anscheinend: alle Individuen, die als Weib nicht versorgt werden können, zum Kampf ums Dasein zu befähigen; den Hervorragenden unter ihnen freie Bahn zu schaffen und selbst eine grosse Anzahl derer, die als Weib leben könnten, in die Entwicklung der Frau hinüberzuziehen.

Täuscht nun nicht alles, so ist diese neue Typenbildung langsam im Siegen begriffen: das Weib entwickelt sich zur Frau, die einen passen sich den veränderten Lebensbedingungen an, die anderen suchen dieselben sogar, da sie von vornherein Anlagen dafür haben, Anlagen zu geistiger Arbeit und selbständigem Handeln, die in dem bisherigen Lebenskreis des Weibes verkümmert wären. –

Sollte nun der neue Typus endgiltig siegen, so werden sich an diesen Sieg die folgenschwersten Veränderungen der Gesellschaft knüpfen: die Frau, als geistige Arbeiterin, als denkender Mensch, als Kulturarbeiter anerkannt, wird ihrer Unterdrückung oder Unterordnung entschieden entgegenarbeiten. Besonders wird sich diese Arbeit auf das sittliche Gebiet, auf zwei der solonischen Kategorien erstrecken. Und da sind nun, logisch, zwei Ausgänge möglich: entweder die Frau wird die Sittenfreiheit des Mannes nebst seiner Straflosigkeit auch für sich verlangen; oder sie wird verlangen, dass der Mann sich zu den sittlichen Grundsätzen der Frau bekehre. – Dass ersteres Verlangen gestellt werde, glaube ich nicht; die wirklich moderne Frau ist bei all ihrer Sachlichkeit, oder vielleicht gerade deshalb, keuscher als das Weib. Sollte es aber dazu kommen, und die Frau bei sittlichen Vergehen ebenso straflos sein wie der Mann heute, so würde die heutige Gesellschaft bald dem römischen Kaiserreiche folgen.

Es bliebe also als vorbeugende Massregel, die Übertragung des Masses auf den Mann, womit er seine Mutter, Frau und Schwester misst. Eine Reihe Gedankenstriche würde dem erfahrenen Leser hier genügen; Gedankenstriche sind aber immer eine Feigheit; es ist entschieden tapferer, gerade herauszusagen, nicht dass »die Männer« so nicht gewillt seien, wohl aber, dass heute nur sehr wenige Männer sich hierzu verstehen wollen. Da bleibt nur einerlei zu sagen: Hier, auf diesem Gebiete, werden in den nächsten Jahrhunderten oder vielleicht Jahrtausenden, Mann und Weib, Mann und Frau, und Weib und Frau unablässig und nachsichtslos zusammenstossen, und von dem endlichen Ausgang dieses Ringens wird das Schicksal der Gesellschaft abhängen. Es ist ein punctum puncti, über den die gebildete Gesellschaft sich selbst den Mund verboten hat, das aber deshalb noch nicht aus der Welt geschafft ist, an dessen Folgen die Gesellschaft leidet, »denn alle verschwiegene Wahrheit wird giftig«, sagt Nietzsche, von dem sie aber jeden fern hält, weil sie sich schämt, und gar wohl ruft: »Kreuziget ihn!« – den nämlich, der da wagt, den Mund aufzumachen. – Fragt man nun endlich: welchen Einfluss wird die ganze Frauenbewegung auf das Weib als Mutter und auf die Fortpflanzung der Rasse überhaupt haben, so sind auch da verschiedene Möglichkeiten zu erwägen: Sollte der Fall eintreten, dass es zum völligen Bruch zwischen Weib und Frau kommt, und letztere im ursprünglichen wie übertragenen Sinn »unweiblich« würde – ein medizinisches Handbuch könnte sich hier noch klarer ausdrücken – so wäre der Staat gerechtfertigt, wenn er zur Unterdrückung der Frauenbewegung schritte und zugleich zur Einführung der Zwangsehe. Die Frauen ihrerseits dürften dann als gleiches Recht den Massenselbstmord beanspruchen. Nach den bisherigen Erfahrungen scheint dieser hässliche Ausgang uns erspart bleiben zu sollen. Ist man doch seit einigen Jahren sogar schon von der Ansicht zurückgekommen, dass eine »moderne Frau« notgedrungen hässlich und unsauber sein müsse; und weiter sind auch die schrecksamsten Philister in ihren Mutmassungen kaum je gegangen. –

Nein, ich glaube nicht, dass die moderne Frau aufhören wird, Weib zu sein. Sie wird aber nicht immer Weib sein, und das ist der grosse Unterschied: in der Führung ihres Lebens und ihrer Geschäfte, da ist sie Frau, sachlich, ruhig und klar, und Weib nur, wo sie sicher ist, den Kürass mit vollem Vertrauen einmal abnehmen zu können. Und das wird, wenn ich nicht irre, selten sein. Denn die Frau ist bei weitem keine so leichte Eroberung wie das Weib; die Frau hat gelebt, gesehen und gedacht, wie der Mann: die Not der Zeit und der Kampf ums Dasein haben sie kaltblütig und überlegen gemacht; das früher alleinseligmachende Herz mag schlagen – Hand drauf und abgewartet, sie spielt ja viel zu hohes Spiel!

So etwa wird eine moderne Frau überlegen, thatsächlich »überlegen«, wo das Weib nur fühlte, und so wird es kommen, dass sie in vielen Fällen »ein guter Kamerad« bleibt, wo das Weib in schneller Leidenschaft aufgeflammt wäre. – Die moderne Frau wird, bei aller Freiheit der Form, weit unzugänglicher sein als das Weib, weit schwerer zu gewinnen. Einmal gewonnen, ist sie aber ein weit wertvollerer Genosse.

Es fragt sich nur, ob sie überhaupt als »Genosse« gesucht werden wird, und ich glaube fast, dass sie vorläufig bei der geschlechtlichen Zuchtwahl ziemlich ausseracht gelassen werden wird: sie ist noch zu neu, zu unbekannt und zu unbequem zu erreichen, als dass der bestehende Typus ihr nicht noch eine Zeitlang vorgezogen werde. – Es ist auch sehr zweifelhaft, ob sich augenblicklich unter der Gattung Mann die Spezies befindet, die für sie passt. Deswegen ist es garnicht unwahrscheinlich, dass gerade die ausgebildetsten Typen der modernen Frau, die, welche die neue Mischung von Weib und Frau bereits darstellen, unverheiratet bleiben. –

Wie dem nun aber sei, jedenfalls ist die Frauenbewegung im Steigen begriffen; der Idealismus der Zeit geht mit ihr, sie ist eine schaffende Bewegung und nicht mehr aufzuhalten. Wie alles in der Welt wird auch sie ihre Nachteile neben ihren Vorteilen haben. Ob aber letztere erstere überwiegen werden, ob die Frauenfrage eine fördernde Lösung finden wird, statt die Welt nur um einen neuen Widerspruch zu bereichern, das wird in letzter Instanz nicht von den Frauen allein abhängen, sondern davon, ob die »moderne Frau« – ganz allgemein gesprochen – den »modernen Mann« findet, nicht den Mann der Überkultur und nicht den Streber, sondern einen Mann, der, weder brutal noch schwach, seine Vorrechte aufzugeben und seine Rechte zu bewahren weiss.


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