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Pariser Plauderei.

Illustrierte Frauenzeitung. 15. März 1896.

»La fête bat son plein,« d. h. Paris amüsiert sich, wie sonst, wie seit Jahrhunderten. Daran haben die Zeiten und die Revolutionen nichts geändert. Man köpfte Könige, baute Barrikaden, aber man amüsierte sich, und die blutigen Helden der französischen Revolution haben es ihrer nicht unwert erachtet, jedem Bürger den unentgeltlichen Theaterbesuch zu ermöglichen. – »Brot und Spiele!« rief das Volk schon im alten Rom, »Brot und Spiele!« ruft es im heutigen Paris, und diejenigen, die hier ihr »Brot« von vornherein haben, die rufen bald nur noch »Spiele!«.

Und die so rufen, nennen sich bescheidentlich: le tout Paris, le monde où l'on s'amuse, le beau monde, le grand monde, le monde des fêtards etc. Zu ihnen gehören die Reste des Faubourg Saint-Germain, die sich mit der Lage der Dinge ausgesöhnt haben und finden, dass es sich auf republikanischem Parkett ebenso gut tanzt, wie auf kaiserlichem oder königlichem. Die Haupttruppen aber stellt die reiche Bourgeoisie, die um Saint-Augustin herum, auf den Boulevards Haussmann und Malesherbes ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat und von dort aus in eleganten Zweispännern – der Hausherr zur Börse – die Hausfrau zu Besuchen im Quartier de l'Europe oder des Arc de triomphe – rollt.

Nach Anerkennung hier, in diesen reichen Bankiers- und Fabrikanten-Häusern, nach Zulass zu diesen prunkenden Festen, nach Aufträgen von diesen Geldsäcken, nach Portraits dieser Weltdamen, strebt daher alles, was sich in Paris von geistigen Arbeitern, Künstlern oder Litteraten befindet. Und wem es gelingt, d. h. wer Talent oder, was sicherer ist, dazu noch Charakterlosigkeit genug besitzt, um in langen, mühsamen Jahren, wie ein Hündlein bettelnd, an der Thür dieser Gemächer das Apportieren und le beau-Machen durchzuführen, wer eine weisse Ariadne-Hand findet, die ihm das glückverheissende Knäuel in die Finger legt, oder wer einer frisch-fromm-fröhlichen Versicherungsgesellschaft auf gegenseitige Beweihräucherung beitritt, der wird sein Ziel erreichen, und die goldenen Pforten werden sich vor ihm öffnen.

Auf diese Art kommt in tout Paris denn ein Gemisch grosser, alter Namen, grosser, neuer Vermögen und eine handvoll grosser, geistiger Begabung zusammen, die sich in der Halbwelt – dem anerkannten Appendix der grossen Welt – noch durch grosse Schönheit und grosse Frechheit ergänzt. Und es ist dieses tout Paris, das man zu bestimmten Tagen an ganz bestimmten Orten immer wieder findet: Am Dienstag geben die Damen ihren Putz und die Herren ihre weissen Westen im Théâtre français zum besten; am Freitag geht die gleiche Gesellschaft in die Oper. Allabendlich »lockt« die Scala mit ihrer unsagbaren Revue: »Paris fin de Sexe.« Im Casino de Paris werden dieselben – Feinheiten und Anspielungen vorgetragen, ein Gewimmel von Trikot, Spitzenröcken und Atlasschleifen soll über die Leere wegtäuschen oder die geistreichen Gemeinheiten noch pikanter machen. Die Folies-Bergère wetteifern in ähnlichen Erheiterungen; im Pôle-Nord, im Palais de Glace läuft man Schlittschuh, nicht allein aus Liebe zur Kunst. Und nun erst Montmartre! Die Gasthäuser und Cafés der Place Blanche sind augenblicklich für die »grosse Welt« Mode geworden. Abend für Abend rollen nach Schluss der Theater die Wagen dorthin. Im »Rat Mort« in der »Abbaye de Thélème« hören die Feste nicht auf. In der Weihnachtsnacht floss der Champagner in Strömen, zu Neujahr in Seen, und alles, was Paris von feinen Profilen, begehrlichen Händen und zahlungsfähigen Geldbeuteln besass, konnte man dort oben in Montmartre finden. So geht es hin in Lärmen, Tanz und Treiben: »Erlaubt ist, was gefällt.« Keinem Begehren widerstehen, keine Laune abschütteln, lachen, immer lachen, sich amüsieren: Viveurs, Viveuses! Das ist der Wahlspruch!

Wie schön das klingt; man könnte es fast glauben. Wie aber, wenn das alles ein Irrtum wäre? Wenn diese reiche Bourgeoisie, die so gern die Stelle des Adels in der Lebewelt übernommen und so keck den Kotillon bisher geführt hat, schon jetzt, nach kaum einem Jahrhundert, müde, todmüde, abgespannt und angeekelt wäre? Wenn auch sie in ihres Herzens Grunde schon über Langeweile klagte? Über den »fatal ennui«, den wir bei der Lebewelt des achtzehnten Jahrhunderts finden? Wenn ihr schon vor sich selber und ihrer inneren Leere graute? Wie, wenn Herder doch recht hätte mit seinem Wort: Arbeiten ist ein göttliches Gesetz?

Sehen wir einmal zu! Das Vaudeville giebt gerade ein Stück: Viveurs, – und der Verfasser, Henri Lavedan, Ritter der Ehrenlegion, Herausgeber einer Zeitschrift, ist ein bekannter Beobachter und scharfsinniger Schilderer des Pariser Lebens, dem man auf's Wort glauben darf. Was hat der uns nun über die Lebemänner und Lebefrauen der dritten Republik, des dritten Standes zu sagen? Wenig Tröstliches. Der Vorhang hebt sich, und wir sind in dem Probier-Salon eines modernen Damenschneiders, Cassell genannt; thatsächlich ist damit der berühmte Doucet gemeint. Die jungen Damen bei Cassell plaudern über sehr anzügliche Dinge und lassen die Kunden draussen im Vorzimmer warten, bis der Chef mit einem Donnerwetter dreinfährt und die eigentlichen Hauptpersonen auftreten. Es sind Madame Blandain, Madame Salomon und Fräulein Guénosa, die Tochter eines Modedoktors, der sie in Freiheit und nach eigenem Gutdünken aufwachsen lässt. Die Damen bringen ihre Herren mit, einen alten Lebemann, Madame Blandain's Vater – Paul Salomon, der sich für einen Juden ausgiebt, ohne es zu sein, weil man ihn deshalb für gewitzter hält und mehr fürchtet. Ein anderer Bekannter wird noch erwartet; es ist der Künstler, der die Kostüme, welche die Damen jetzt anprobieren kommen, gezeichnet hat. Und man passt auf der Bühne an, ganz ruhig und selbstverständlich; das ist ja solch eine hübsche Gelegenheit, für sich und seine Schönheit, seinen Geschmack, seine Atlasgewänder Reklame zu machen! Endlich ist die Toilette fertig, und die Gesellschaft steigt in das obere Stockwerk; nur Madame Blandain bleibt mit Paul Salomon einen Augenblick zurück, und die grosse Künstlerin Réjane zaubert mit ihrem Rokokokostüm und ihrer Anmut eine Szene vor uns herauf, etwas so Erlebtes, so wahr Gefühltes, dass man nur wünscht, sie hätte ihre Neigung nicht an diesen unsympathischen Paul Salomon verschwendet.

In bunter Folge fluten dann Bilder und Personen über die Bühne, denn eine wirkliche Handlung giebt es nicht. Hier wird mit wunderbarer Lebendigkeit das Treiben in einem Nachtrestaurant dargestellt; die alten Bummler, die Theaterbesucher, die stumpfsinnigen Kellner – nichts ist vergessen; dort sehen wir den Wartesaal des Modedoktors Guénosa, der selbst gesund und behaglich inmitten all dieser Morphiumsüchtigen und Neurasthenischen lebt. Wir sehen, wie gemacht ihre Lustigkeit ist, wie wenig Genuss diese »Galeeren-Sklaven des Vergnügens« von ihrem Vergnügen haben, wie überdrüssig sie ihrer »tollen Streiche« sind; wie echt hingegen ihre Natur noch immer den Schmerz empfindet. Das ganze Stück dreht sich um den Bruch zwischen Madame Blandain und Paul Salomon und um die Heirat von Alice Guénosa mit einem jungen Manne, der das Glück hat, eben erst aus der Provinz zu kommen. Wie ein weisser Rabe wandelt er in dieser Lebewelt; er ist reich, daher hat man ihn mit offenen Armen in Empfang genommen, und er hat sogleich eine Menge »Freunde« gefunden, von denen er selber sagt: »Ce sont tous des amis intimes, mais ... je les connais très peu –«. Er amüsiert sich acht Tage lang mit ihnen; amüsiert er sich wirklich? Nein, er redet es sich ein, wie diese ganze künstliche Welt es sich einredet, und bald kommt er zu der Erkenntnis: all' diese Leute – ja, mein Gott, die sind gut, um die dritte und vierte Seite einer Zeitung zu füllen, mit – Familien-Anzeigen und Skandalgeschichten. Aber es giebt doch noch etwas anderes auf der Welt – il y a la France, il y a le pays et la question sociale ...

Ja, mein guter Junge, il y a la France, il y a le pays et la question sociale; aber daran denkt jene Lebewelt nicht, in die du da geraten bist. Oder wenn sie daran denkt, so sieht sie in la France nur ein Stück Tuch, woraus sie sich einen Mantel schneiden, in le pays nur eine Kuh, die sie melken, nur ein trübes Wasser, worin sie fischen kann. Die soziale Frage aber, die speist sie mit einer Hand voll Gold ab, und wem würde sie glauben, dass die soziale Frage ganz etwas anderes von ihr verlangt – nämlich das Beispiel einer tüchtigen und guten Lebensführung?

Nein, davon will sie nichts wissen: Viveurs, Viveuses – »erlaubt ist, was gefällt.« Und so leben sie dahin; die Männer zum Teil allerdings in anstrengender Tagesarbeit, wofür sie sich aber abends mehr als entschädigen und nicht daran denken, wie viel arme Teufel nur harte Arbeit und gar keine frohen Feste kennen; die Frauen – noch trauriger – in lauter Nichtigkeiten, ohne jede Arbeit, ein Spiel des Zufalls und der Launen; dem Manne das Mittel zum Zweck, um reich zu werden, indem er, als ihr Schneider, sie mit kostbarem Tand behängt, oder als Maler sie malt, als Poet sie besingt, damit sie ihm weiter helfen. In ihres Herzens Grund sind diese Frauen aber unbefriedigt, und wenn die Boudoirs in Westend von Paris sprechen könnten, wir würden tausendfach wiederholt den Schmerzensausbruch Madame Blandain's hören: »Nous des viveurs? Oh, Dieu, est-ce là vivre? Non!«

Nein, Madame Blandain, ce n'est pas vivre, denn leben, heisst kämpfen, leben, heisst arbeiten, leben, heisst Pflichten erfüllen. Davon wissen Sie nichts! Alles, was das Leben schön macht, das Streben nach einem Ziel, das Selbsterwerben und das Selbsterringen, das Selbsterfüllen eines Wunsches, das Entsagen, weil man jemanden liebt, und das Eintreten für eine Sache, die man für recht erkannt hat, das kennen Sie nicht, und Ihre Freundinnen kennen es nicht, und Ihre Bewunderer wissen auch sehr wenig davon, weil sie im Egoismus der persönlichen Interessen untergehen! – »Il y a la France, le pays« – das ist Griechisch für Sie und Ihre Welt – darum sind Sie, die Sie heute die Bühne nicht nur des Vaudeville, sondern auch der wirklichen Pariser Welt so lärmend und glänzend füllen, nicht im geringsten zu beneiden. Denn: Arbeiten ist ein göttliches Gesetz!


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