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II. Litterarische Studien und Kritiken.

Robert Elsmere

von Mrs. Humphrey-Ward. Der Roman, der in England und Nordamerika einen ganz ausserordentlichen Erfolg gehabt hat – in zwei Jahren sind 400 000 Exemplare abgesetzt worden – ist nun auch in deutscher Übersetzung von Therese Leo (bei J. H. Schorer in Berlin) erschienen.

Danziger Zeitung. 9. Februar 1890.

Mrs. Humphrey-Ward stammt aus einer Familie mit ausgeprägten kirchlichen und wissenschaftlichen Traditionen. – Sie ist eine Nichte von Matthew Arnold, den als Schriftsteller hauptsächlich religiöse, moralische und politische Probleme interessieren, die er im liberalen Sinne behandelt. Andererseits ist, wenn ich nicht irre, in der Familie ein Religionswechsel von der protestantischen zur katholischen Kirche vorgekommen – Facta, die erklären, warum auch Robert Elsmere auf ein religiös-wissenschaftliches Problem hinausläuft. Nun denke man sich dazu die gesellschaftliche Stellung der Verfasserin: materielle Unabhängigkeit, englischer Komfort; ihr Mann eine Autorität in Kunstsachen; sie selbst, eine anziehende, äussere Erscheinung, neben ihrer wissenschaftlichen Bildung noch Autorität im Spanischen; ihre halberwachsenen Kinder in geistigen Interessen aufwachsend; der intime Verkehr mit gescheuten Männern und Frauen der Hauptstadt, sowie der Universitäten Oxford und Cambridge; die dort herrschenden, aufgeklärten Ansichten über Frauen und Frauenwert – und man hat die soziale Atmosphäre, in der sich »Robert Elsmere« entwickeln konnte.

Der Grundgedanke des Buches in seiner knappsten Form ist wohl, dass moderne Wissenschaft und daher auch modernes Leben sich mit kirchlicher Gläubigkeit nicht vertragen. Diese Auffassung hat sich im Lande der Denker weit verbreitet und bei uns zur faktischen Konfessionslosigkeit der gebildeten Stände und zur Gründung einiger freier Gemeinden geführt, deren Leiter aber selbst durch persönliches Verdienst die allgemeine Indifferenz nicht bekämpfen konnten. England hat dagegen eine freireligiöse Bewegung im grossen Stil zu verzeichnen, welche die faktische Konfessionslosigkeit der gebildeten Stände verhinderte: den Unitarianismus. Wie der Name zeigt, liegt der Hauptpunkt der Bewegung im Bruch mit der Dreieinigkeitslehre. In Wirklichkeit aber deckt der Name Unitarier die allerverschiedensten Überzeugungen: er ist mit einem Wort eine öffentliche Sanktion des Zweifels und macht nur vor ausgesprochenem Atheismus Halt. Diese Bewegung ging in den fünfziger Jahren von den englischen Universitäten aus, wo die deutsche Exegese die Köpfe in Gährung setzte, und hierin liegt das international-wissenschaftliche Element des englischen Zweifels. In der That sind die Anfänge des Unitarianismus bereits in den Zeiten der Reformation zu suchen. In Nordamerika haben die Unitarier schon in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, also unabhängig von dem Einfluss der deutschen, kritischen Theologie, einen grossen Aufschwung genommen. Männer, wie der Philosoph R. W. Emerson, die Kanzelredner Channing der Aeltere und der Jüngere und Theodor Parker, der tapfere Kämpfer für die Abschaffung der Sklaverei, gehörten zu ihnen. D. R. Dazu kam dann noch ein nationales, sehr praktisches Element: die alte Religion war so dürr, so trocken geworden, hatte sich so völlig vom Leben losgetrennt, dass sich das Publikum nach direkter, ins Leben greifender Predigt sehnte. Die Führer der Bewegung erkannten dies Bedürfnis der modernen Welt nach moderner Religion und trugen ihm Rechnung. Diesem Umstand hat der Unitarianismus in England seine Ausdehnung und Lebensfähigkeit zu verdanken, er ist eine Kirche geworden, nicht eine Sekte.

Auf folgende Weise wurde den Zeitbedürfnissen Rechnung getragen: Man opferte die oben angeführten Dogmen, welche mit dem modernen Wissen und Verstand in zu krassem Gegensatz standen, überliess dem Einzelnen die weiteren Einzelheiten, zog aber die Staats- und privaten Freuden und Leiden in den Rahmen der Predigt. So sind seiner Zeit von der Kanzel Vorlesungen gehalten worden, über »Robert Elsmere« selbst, über andere, die Zeitgenossen bewegende Bücher, über Zeitereignisse wie die Whitechapelmorde und ihren moralischen Hintergrund, über Artikel aus amerikanischen Zeitschriften, über John Bright u. a.

Bedeutungsvoll ist es ausserdem, dass die unitarianische Geistlichkeit auch jetzt, nach geschlagener Schlacht, dem Widerspruch zwischen Bibel und Thatsachen ruhig ins Gesicht sieht und offene Diskussion mit Andersdenkenden gelten lässt. Ausser der kräftigen, öffentlichen Anerkennung der Zeitbedürfnisse hat England durch den Unitarianismus aber noch eins gewonnen. Selbst die, welche ihr religiöses Bekenntnis mit einem Fragezeichen schliessen, finden Raum in oder Fühlung mit der unitarischen Kirche. Und das in folgender Weise: Wie alle englischen Kirchen hat sich auch diese eine systematische Armenpflege, sowie jede Art sozialer Hilfeleistung zur Aufgabe gemacht. Wer also nicht mehr glaubt, dem ist doch noch immer Gelegenheit geboten zu thun, und er kann zu dem Schluss kommen, dass all den verschiedenen Religionen ein gleiches Sittengesetz zu Grunde liegt.

So ist der Unitarianismus eine Bewegung, welcher England viel verdankt: moralische sowie geistige Thätigkeit und praktische Erfolge, da wo bei uns Gleichgiltigkeit und Umhertasten sind. Die in »Robert Elsmere« vertretenen Anschauungen schliessen sich an diese kräftige, englische Bewegung an.

Man wird nun einwenden: Wenn England es schon so herrlich weit gebracht, war ja ein Buch wie »Robert Elsmere« ganz unnötig. Doch wohl nicht ganz: Im praktischen, englischen Leben freilich ist der Unitarianismus eingebürgert; Kirche und Universität haben ihm ihre Konzessionen gemacht; die englische Litteratur hatte er sich aber noch nicht erobert.

Auch ein nur oberflächlicher Zuschauer weiss, wie wenig sich diese freien Ansichten in der englischen Litteratur eingebürgert haben: der ehrwürdige Pfarrer, der junge Hilfsprediger, die junge Predigerfrau oder Wittwe, das obligate Kirchengehen und die Sonntagsheiligung sind typisch vom »Vicar of Wakefield« bis zu »Cousin Mary«. »Robert Elsmere« dagegen ist wohl das erste Buch, in welchem ein religiöser Konflikt zu einer liberalen Lösung geführt wird.

In diesen Konflikt gehörte die moderne Wissenschaft mit all' ihrem technischen Ballast hinein. Um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, musste Mrs. Humphrey-Ward aber nicht allein gelehrte Kenntnisse besitzen, nicht nur die Gefühlszustände beherrschen, welche das langsame Vordringen wissenschaftlicher Erkenntnis in einer gläubigen Seele begleiten; nein, sie musste dann auch noch dichterische Gestaltungskraft haben, um uns diese Gedanken und Gefühle lebendig zu machen. Dabei genügt aber dichterische Phantasie allein nicht; wir wollen heute Anschauung der Wirklichkeit, Realismus haben. In dem Umstande nun, dass Mrs. Humphrey-Ward ihr Buch hat nach der Natur schreiben dürfen, dass ihre modernen Anschauungen bereits in das moderne Leben getreten waren, sehe ich den Grund der Originalität und Lebensfähigkeit von »Robert Elsmere«. Wir Modernen haben meistens unserer bestehenden Welt mit dem Kopfe schon so weit vorausgelebt, dass wir von diesen Ausflügen wohl Hypothesen, Theorien und Systeme heimbringen, dass nur sehr wenige von uns aber diesen dann auch die Form und Farbe zu geben wissen, welche sie dem Herzen und nicht nur dem Kopf der Zeitgenossen annehmbar machen. Bei Mrs. Humphrey-Ward scheint mir dies, dank besonderer äusserer Umstände, gelungen zu sein.

Wir haben also in »Robert Elsmere« ein Stück plastisch gewordenen, modernen Lebens. Alles in Allem, wird man sagen, keine solche Seltenheit! Und dennoch ist es eine Seltenheit: wir haben es mit einem durch und durch ernsten Buch zu thun, einem Buch der Begeisterung und Thatkraft, statt des Pessimismus und der Genussstimmung. Dazu kommt, dass das Problem von Anfang bis Ende konsequent durchgeführt ist, der grösste Theil der Entwickelung typisch und der letzte Theil wenigstens subjektiv verständlich ist, und so dieses Buch von tiefgehendem Einfluss sein kann, reizen, wirken und der Zeit auf den Weg helfen.

Die Geschichte ist an und für sich sehr einfach: Robert Elsmere, der von seiner Mutter, einer rührigen Irländerin, lebhafte Begeisterung und Thatkraft geerbt hat, wird aus Neigung Theologe, und zwar rechtgläubiger. Vom Unitarianismus hört er nicht viel, und was er hört, berührt ihn nicht. Seine Frau stammt aus einem reisigen Bauerngeschlecht, das sich seit einer Generation durch Universitätsstudium und Predigtamt verfeinert hat; sie ist eine schöne Frau, von starkem Charakter, dabei von tiefer Frömmigkeit; so dass sie zu Elsmere, dem Diener Gottes, in grenzenloser Verehrung aufblickt. Diese Beiden sind völlig eins, denn sie glauben und wollen dasselbe mit dem ganzen Feuer ihrer starken Naturen.

Einerlei aber trennt sie, ihnen selbst unbewusst, und daraus geht der Konflikt hervor: Robert Elsmere hat sein Christentum nicht nur im Herzen, sondern auch im Kopfe; er hat auf der Universität wissenschaftliche Schulung bekommen; für Catherine Elsmere existirt jedoch der wissenschaftliche Apparat nicht, für sie ist dieser Glaube etwas einfach Gegebenes, ohne Hilfe von Büchern, Quellen und Dokumenten. Der Konflikt wächst nun daraus hervor, dass dies Gegebene, Ewige, der Frau Unantastbare, dem Manne ein Gewordenes, Bedingtes wird, eine Entwickelung im Sinne der Wissenschaft.

Die Frage ist, wie Robert Elsmere dazu kommt, mit seinem, ihn beglückenden Glauben zu brechen. Eine Neigung zu historischen Studien ist ihm von der Universität geblieben; und da er in der Gründung der christlichen Kirche »die Erfüllung der Zeiten« sieht, so möchte er auch sich und anderen gern objektive Rechenschaft davon geben, wie alles so hat kommen müssen. – Er wählt daher zum Gegenstand seiner Arbeit die ersten Jahrhunderte der christlichen Kirche – ein Thema, das ihn unfehlbar der modernen Wissenschaft in die Arme werfen muss. Sein Gutsnachbar stellt ihm eine Bibliothek zur Verfügung. Dieser Mr. Wendower ist ein Mann von Welt und Wissen, ein ruhiger, gelehrter Zweifler; er weiss voraus, wohin diese Studien Robert Elsmere führen müssen; die Verfasserin hat aber, in weiser Beschränkung, die Bekehrung nicht von dem Manne, sondern von den Büchern ausgehen lassen, eine Garantie für die sachliche Behandlung des Problems: wenige kommen mit einem Roger Wendower zusammen, alle aber mit seinen Büchern.

Die Bibliothek ist ein Arsenal moderner Wissenschaft; dort studirt Robert Elsmere die zu seinem Buch nötigen Quellen; bald kommt er zu einer wunderbaren Entdeckung: er kann sein Werk garnicht schreiben, ohne ein erstes, vorbereitendes verfasst zu haben: eine Geschichte des Dokuments. Wenn er sich in seine Chroniken und Kirchenväter vertiefte, so musste er oft über deren Seltsamkeiten lächeln; über die Märchen, die dort mit grossem Ernst und viel Behagen erzählt, über die Fabeln, welche als Thatsachen aufgeführt wurden; er musste den Kopf schütteln über vieles, was dort als »Wunder« geschildert, konnte die Widersprüche der Autoren nicht übersehen, und eines Tages stand es bei ihm fest, dass all' diese Dokumente nicht glaubwürdig wären, weil die Menschen damals das nüchterne, sachliche Sehen und Beschreiben nicht verstanden, weil jene ganze Zeit unter dem Einfluss einer ungebändigten Phantasie und eines leidenschaftlichen Hanges nach »Wunderbarem« stand. Dieses ist Robert Elsmeres rein wissenschaftliche Überzeugung, die seinen Glauben vorläufig völlig unangetastet lässt. Der Tag kommt aber, wo er mit so geschärften Augen an die Bibel selbst herantritt: da findet er dieselben Widersprüche, denselben Stil, dieselbe Phantasie, denselben Hang zum Wunderbaren: die unantastbare, ewige Bibel steht plötzlich neben jenen Büchern, ein Dokument wie andere und historischer Kritik unterworfen.

Dieser Erkenntnis gegenüber bleibt einer so ehrlichen Natur wie Robert Elsmere nur ein Weg: die Wahrheit anzuerkennen, mit der Kirche zu brechen, die geistliche Laufbahn aufzugeben. Er thut es und geht nach London, um im Armenviertel zu arbeiten.

Er selbst mit seiner elastischen Natur wäre über diesen Konflikt hinweggekommen; um so mehr, als seine neue, wissenschaftliche Weltanschauung ihm einen Halt giebt. Robert Elsmere steht aber nicht allein; seine Frau hat dies neue Leben mit ihm zu teilen, und das macht den Konflikt tragisch. Denn Catherine Elsmere hat jene Studien nicht mit ihrem Manne geteilt; während er so arbeitete, hat sie ausserhalb seines Geisteslebens gestanden, und die Erkenntnis von ihres Mannes Unglauben bricht so furchtbar über sie herein, dass sie – die Tochter eines gewaltthätigen Geschlechts – im ersten wilden Schmerz, Mann und Haus verlässt. Am selben Abend kommt sie zurück: Sie hat versprochen, Treue zu halten, sie fügt sich daher in alle äusseren Notwendigkeiten, das frühere Einssein ist aber vorbei.

Dazu kommt dann die Unentschiedenheit über Erziehung ihres Kindes: eine Sache, an der weder Mann noch Frau zu rühren wagen, die sie aber nicht aus der Welt schaffen können, und die, da es sich um das eigene und geliebte Kind handelt, sie aufreibend verfolgt.

Und diese furchtbare Herbe der Thatsachen ist durch kein weichherziges Nachgeben, keine Rührseligkeit vertuscht: die Charaktere sind unbeirrt ausgefolgt, den Dingen ist ihre Starrheit gelassen. Diese seelischen Wunden, welche moderne Gedanken den Gestalten des Buches schlagen, und diese lebenswahre Härte sind es meiner Meinung nach, welche das wissenschaftliche Problem des Werkes vermenschlichen und zum modernen Dichtwerk machen: das Buch ist wahr, erlebt.


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