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Der internationale Frauenkongress in Chicago.

Nationalzeitung. 25. Juni 1893.

Chicago war in der Woche vom 15. bis 23. Mai das Herz und der Kopf der Frauenwelt, es ging dort ein Zusammenfassen vor sich, ein Verschmelzen von verwandten Elementen, eine Organisation der Kräfte, wie man sie nie zuvor gesehen. Damit war zugleich ein starkes Hervortreten weiblicher Persönlichkeiten und weiblicher Forderungen verbunden, wie man sie bisher auch noch nicht gekannt hatte. Die europäischen Delegierten, die bisher die Erfüllung ihrer Ideale erst von dem tausendjährigen Reich erwarteten, haben bei den Verhandlungen oft mit ungläubigen Europäeraugen auf diese neue, kühne Welt geblickt.

Die Sitzungen des internationalen Kongresses fanden im Art Palace statt, der dicht am Michigansee gelegen ist. Zur Zeit des Kongresses waren dort viele Thüren noch nicht in ihren Angeln, manche Wände noch unbekleidet, der Schutt lag vor der Front, der Asphalt der Auffahrt wurde erst gegossen, die Gartenanlagen waren öde und leer. In diesem halbfertigen Gebäude waren dann aber wieder ganz fertige Räume mit herrlichen Kunstwerken geziert, mit Gemälden, Statuen und antiken Büsten, die seltsam von der modernen Umgebung abstachen. In den beiden Hauptsitzungssälen, der Columbus- und der Washingtonhalle, war der bunte Flaggenschmuck aller Nationen angebracht; das Sternenbanner, die schwarz-weiss-rote Fahne, der Union-Jack, der züngelnde Drache von Japan und andere Banner bedeckten die Holzwände. Diese beiden Hallen, von denen jede etwa 3000 Zuhörer fasste, waren morgens und abends bis auf den letzten Platz gefüllt, ganz so wie die zahlreichen anderen Säle, in denen die Sektionen arbeiteten. An einem Tage haben gleichzeitig wohl dreiundzwanzig Sitzungen stattgefunden, aber weder das Publikum noch die Rednerinnen erlahmten.

Dass dem so war, lag an der Atmosphäre, die diesen Frauenkongress umgab. Sie lässt sich am ersten mit dem Worte »Wohlwollen« beschreiben und zwar Wohlwollen des einzelnen, der Masse und der Presse. Die Neugierde hatte dabei allerdings auch ihr Wörtchen mitzusprechen, besonders an dem Abend, als die Frauen der amerikanischen Bühne, die Lieblinge des amerikanischen Publikums, als Rednerinnen auftraten – immerhin war Neugier auf die Dauer nicht das Hauptmotiv, denn auch die Sprecherinnen, die nicht der Bühne angehörten, wurden an demselben Abend mit Teilnahme empfangen, mit Aufmerksamkeit gehört, und der grössere Teil des Publikums kam bei dieser Versammlung, wie bei den anderen, doch aus Interesse an der Sache und an den führenden Persönlichkeiten, deren Leben und Lebensarbeit es seit Jahren verfolgt hatte.

In der geistreichen und energischen Mrs. Sewall sah das amerikanische Publikum die Frau, welche durch ihre Thatkraft und Lebendigkeit, durch ihre weitreichenden Sympathien und Verbindungen einen Hauptanteil am Zustandekommen dieses Kongresses hatte; es begrüsste sie mit Beifallklatschen, sowie sie erschien, es hörte ihr zu, es liess sich von ihr schelten, es steckte manche Zurechtweisung ein, wie ihr behender, immer schlagfertiger Witz sie Mrs. Sewall eben im Augenblick eingiebt; es gehorchte zuletzt ganz willig dem Wink des Hammers in ihrer Hand, der in Amerika der Glocke des Präsidenten entspricht. Das Publikum beugte sich aber nicht nur unter dieser energischen Hand, sondern folgte auch willig dem stilleren Einfluss von Mrs. Rachel Foster-Avery, diesem Muster von Weiblichkeit, die, obgleich Familienmutter, doch während des letzten Jahres ihre Feder unablässig in den Dienst des Kongresses gestellt hatte. Am begeistertsten aber war das Publikum, wenn Susan B. Anthony auftrat. Sie war nebst ihrer Freundin Elizabeth Kady Stanton vor etwa vierzig Jahren die erste, welche an die Emanzipation der Frauen dachte, war Vorkämpferin für das politische Stimmrecht, für die höhere Ausbildung der Frauen und die Reform der weiblichen Kleidung. Heute ist sie die populärste Frau in Amerika, zweiundsiebenzig Jahre alt, nach deutschen Begriffen eine Greisin, eine alte Jungfer, die ihren Beruf verfehlt hat; nach amerikanischen Begriffen eine Heldin, die trotz Hohn und Spott auf ihrer Sache bestehend, anfängt, heute zu ernten, was sie mühevoll gesät hat. Sie ist eine hagere Gestalt, mit weissem Haar, scharfen Falkenaugen und einem wunderbaren Mund: so sehen Menschen aus, die einsame Wege gegangen sind. Ausser dem Zug der Entschiedenheit aber spielt oft ein gutmütiges Lächeln um ihre Lippen, als ob sie die Thorheit der Menschen gewöhnt sei und heute darüber nicht mehr zürnen könne.

Es ist unmöglich, die Namen aller führenden Amerikanerinnen zu nennen, die sich an den allgemeinen und den Sektionsversammlungen beteiligten; unmöglich, alle diese interessanten Persönlichkeiten eingehend zu schildern. Nur was für deutsche Verhältnisse und Zustände ganz neu ist, möchte ich erwähnen, und mag dann jeder über die verschiedenen Bestrebungen denken, wie er will, Thatsache ist, dass sie in Amerika bestehen, organisiert sind und auf dem Kongress kraftvoll in die Erscheinung traten.

Neu für deutsche, ja auch für europäische Verhältnisse, war die Anwesenheit eines weiblichen Predigers in der Versammlung. Die »Reverend« Annie Shaw ist unverheiratet und hat die Theologie zum Beruf erwählt; in Gegenwart von achtzehn weiblichen Predigern der verschiedensten Bekenntnisse, hielt Annie Shaw am Sonntag den 21. Mai vormittags die Pfingstpredigt. – Sie selbst ist in einer Methodistengemeinde zur Predigerin ordiniert worden; ihre Kollegin, die die Liturgie las, war freireligiösen Bekenntnisses; die Versammlung selbst war von jeder Schattierung des Glaubens und des Unglaubens. – Annie Shaw, in ihrem schlichten, schwarzen Talar, sprach vor dieser Versammlung aus, was wir gewöhnt sind, aus dem Munde unserer Weltweisen zu hören, was wir als das Vermächtnis Lessing's, Schiller's und Goethe's betrachten, was aber in unseren Kirchen, in moderne Form gekleidet, noch wenig Eingang gefunden hat: wir glauben all' an einen Gott, und die Liebe vereinigt uns alle. Den »einen Gott« aber überliess die Methodistin, jedem auf seine Art zu fassen. Annie Shaw war übrigens ein Liebling des Kongresspublikums, weil sie im Besitze einer warmherzigen Persönlichkeit ist, die Menschen kennt und heiter und ernst zugleich mitten im Leben steht. Ihre Herrschaft über das Wort, ihr bereitwilliges Einspringen, wenn es galt, unvorhergesehene Pausen auszufüllen, gewannen ihr schnell die Herzen.

Diese Herrschaft über das Wort, von einer heiteren und zugleich imposanten Persönlichkeit getragen, besass auch Mrs. Ellen Forster. Sie ist Rechtsanwalt, Partner ihres Mannes, und hat bereits bedeutenden Einfluss auf die Durchbringung von Gesetzen ausgeübt. Zum Dank dafür hat man ihr bei einem bestimmten Anlass einmal das Haus über dem Kopfe angesteckt. Aber sie scheint den Humor darüber nicht verloren zu haben und geht ihren Weg sicher und gelassen weiter, als Anwalt, als Berater, womöglich als Freund der Gesetzgeber. Denn Einfluss auf die Gesetzgebung, direkte Vertretung ihrer Interessen und ihrer Anschauungen – das ist es, was die amerikanischen Frauen heute im Namen der Gerechtigkeit verlangen. Sie haben Vereine für Frauenstimmrecht, sie haben die Temperenzgesellschaft gebildet, welche die gleichen Ziele verfolgt, wie dieselben Gesellschaften auf dem Kontinent, nur mit dem Unterschied, dass der amerikanische Verein ausschliesslich aus Frauen besteht. Sie haben die Gesellschaft zur Hebung der Sittlichkeit gebildet und erklären sich offen gegen die heute bestehende, doppelte Moral für Mann und Weib. – Es war ein Anblick, den wohl keine der Anwesenden vergessen wird, diese edlen Frauen auf der Rednertribüne ernst und taktvoll besprechen zu sehen, was in Europa unter Kampf und Zorn erst langsam anfängt, von wenigen verstanden zu werden: dass nichts der Frau zugefügt werden kann, was nicht der ganzen Menschheit schadet; dass die Welt ohne die Frau regieren wollen, eine Maschine auf halbe Kraft stellen heisst; dass, was man die »Sphäre« der Frau nennt, kaum eine kleine Hemisphäre gewesen ist.

Jeder, der sich mit Fragen der Sittlichkeitsreform beschäftigt hat, weiss, dass diese Frage nur da ernst angegriffen werden kann, wo die Frau als Arzt thätig ist. Das ist sie in den Vereinigten Staaten, und die Reihe bedeutender Frauen des Kongresses wäre unvollständig, sollte der Namen von Dr. Stevenson unerwähnt bleiben. Dr. Stevenson hat das Vorrecht genossen, unter Professor Huxley's Leitung zu studieren und zu arbeiten. Sie ist heute Frauenarzt in Chicago und hatte auch während des Kongresses ihrer Praxis nachzugehen. Deshalb war die stattliche Gestalt, das kluge, anziehende Gesicht nicht so häufig zu erblicken, wie man gewünscht hätte, aber im Geist ist Dr. Stevenson wohl stets mit uns gewesen.

Um diesen Kern leitender Amerikanerinnen gruppierten sich nun die ausländischen Abgeordneten. Kanada war am stärksten vertreten, mit etwa fünfzehn Delegierten, Deutschland mit sechs, Frankreich mit zwei, England mit fünf, Dänemark und Schweden mit je zwei; und zwar hatte die schwedische Regierung mit ausdrücklicher Zustimmung des Königs die Gräfin Thorberg-Rappe als offizielle Abgeordnete zur Teilnahme am Frauenkongress geschickt; Finnland hatte zwei jugendfrische Delegierte, Frau Nordquist und Fräulein Toppelius, Griechenland die liebenswürdige Frau Parren, eine Vertraute der Kronprinzessin, Italien und Böhmen stellten je eine Vertreterin, von denen letztere, Frau Humbal-Zeman sich durch ihre vollendete Beherrschung der englischen Sprache auszeichnete; die Russin hatte nicht kommen können und die Spanierin war noch auf See. Brasilien aber war vertreten, Syrien und Indien, letzteres leider nur auf dem Papier, denn Pundita Ramabai, die Vorkämpferin der indischen Frauen, hatte es für richtiger gehalten, auf ihrem Posten in Indien selbst zu bleiben.

Es ist schwer, einen Begriff von dem warmherzigen Empfang zu geben, den diese Delegierten in Chicago fanden. Während der Dauer des Kongresses waren sie die Gäste des National-Council, einer Vereinigung amerikanischer Frauen, der Vertreterinnen von vierzehn grossen, nationalen Frauengesellschaften, die sich die Pflege aller gemeinsamen Frauensachen, der einheitlichen Organisation und der gegenseitigen Duldung zur Hauptaufgabe gemacht haben. Das Hôtel Palmer-House war zum Hauptquartier der Abgesandten ersehen, und das fröhliche Treiben dort, das Sprachgewirr, das Anknüpfen und Bekanntwerden war ebenso fesselnd wie fruchtbringend. Über den Kreis des National-Council, über die Mauern von Palmer-House hinweg aber wirkte diese Sympathie. Mochten die Delegierten gut oder schlecht, englisch oder ihre Muttersprache sprechen, das Publikum der Versammlungen freute sich stets in gleichem Masse an den Persönlichkeiten; es sah darin ebensoviele Zeichen freundlicher Beziehungen von Volk zu Volk und lauschte eifrig auf die Berichte aus fremden Ländern. Man sah den internationalen Gedanken gleichsam wachsen, sich wie eine Kette von Händen zu gemeinsamer Arbeit zusammenschliessen. Den Amerikanerinnen verkörperten die Europäerinnen das Weltumfassende der Frauenbewegung; den Europäerinnen gab wiederum Amerika die Gewähr einer Verwirklichung der kühnsten Hoffnungen und Träume. In diesen Tagen des Schwungs und der Begeisterung hat gewiss manche der europäischen Delegierten sich in ihrer tiefsten, durch Erfahrungen und Enttäuschungen zahm gewordenen Seele gefragt: ist dies alles nicht ein Traum? Giebt es eine solche Sympathie der öffentlichen Meinung? Ist es möglich, dass Persönlichkeit und Eitelkeit so ganz zurücktreten und jeder den andern gelten lässt? Und in ihrem Wunsch klar zu sehen, hat sie sich dann vielleicht an eine derjenigen Frauen, die ihr besonders ruhig und gesetzt erschienen, mit der Frage gewandt: Beruht dies alles auf Thatsachen? Liegt unter diesen Worten ehrliche Arbeit? Macht man nicht nur Phrasen und berauscht sich an ihnen? – Und es war wohl der schönste Augenblick des Kongresses, wenn dann die Antwort kam: »Man übertreibt hier nicht, die Frauen, die für die Sache einstehen, arbeiten mit ganzer Seele und meist uneigennützig. Sie wissen, dass sie zum Teil nicht für sich, sondern für die Zukunft arbeiten. Freilich auch wir haben mit Eifersucht und persönlichen Unarten zu kämpfen, auch bei uns gelingt es klingenden Schellen manchmal die besseren Instrumente zu übertönen; aber die öffentliche Meinung fängt an, sich energisch für die Besten zu entscheiden, und unsere Frauen sind im allgemeinen neidlos und gütig gegeneinander.« Fügt man dazu noch das Wort von Mrs. Potter-Palmer: »Nicht Unabhängigkeit, sondern Verantwortlichkeit sollen Frauen lernen«; fügt man das Axiom des Kongresses hinzu: »Ihr könnt die Welt nicht ohne uns regieren, noch vollenden« und verbindet man damit den Schlussgedanken der Versammlung, in jedem Lande eine Vereinigung der verschiedenen Frauenvereine anzubahnen und die Ausschüsse dieser nationalen Verbindungen endlich in einen internationalen Verein zusammenzufassen: so hat man ein Bild dessen, was der internationale Frauenkongress in Chicago bot.

Freilich, einen Begriff von dem Leben dort kann keine Feder geben. Wie könnte man die vielen schönen Frauen, wie diese stattlichen Gestalten in reichen, bunten Gewändern, diese durchgeistigten Gesichter, diese Freiheit und Anmut der Bewegung, mit der Feder wieder heraufzaubern? Es waren durchgehends Charakterköpfe, die dort auftauchten, Charakterköpfe jedoch ohne das gesucht Männliche, das man den »emanzipierten Frauen« vorwirft, es war ein neuer Typus. Auch von der amerikanischen Beredsamkeit ist es schwer, einen Begriff zu geben. Sie ist durchaus persönlich, ohne jeden künstlichen Anstrich, die Rednerin giebt sich auch auf der Plattform als ganze, runde Individualität, die keinen Einfall, keine Anzüglichkeit unterdrückt. Der Augenblick giebt es, der Augenblick wird benützt. Deshalb hat das amerikanische Publikum mit seinen Lieblingen auch solche warme Fühlung; es nimmt niemandem für ungut, wenn er seine eigene Lebensgeschichte vor versammeltem Volk zum besten giebt; dadurch erhält die Rede Farbe und die Versammlungen etwas Urwüchsiges.

Urwüchsig, von Herzen kommend, war auch die Art der Gastfreundschaft, die den Delegierten erwiesen wurde. Es war nichts Seltenes, dass ansässige Chicagoer eine Rednerin, die sie gehört, und an der sie Gefallen gefunden hatten, auf der Strasse anredeten und sie baten, eine Einladung anzunehmen und einen Abend in der Familie zu verleben.

Eine der buntesten Seiten des Kongresses waren daher die Empfänge und geselligen Vereinigungen. Verschiedene Frauenklubs von Chicago, die Damen des National-Council und die Vorsitzende des Kongresses, Frau Potter-Palmer, hatten Einladungen zu solchen Zusammenkünften an die Kongressmitglieder ergehen lassen. Und jede dieser Gesellschaften war ein farbiges Bild selbstbewussten Frauentums. Jede Gesinnung, jede Nationalität, jede Art von Individualität waren dort vertreten. Auch jede Art von Toiletten, von den kostbarsten bis zu den schlichtesten. Der Empfang bei Mrs. Potter-Palmer war besonders gelungen. Jedes Zimmer des Hauses ist ein Juwel und das Haus selbst ein Schmuckkasten. Mit seinen braunen Steinquadern und hellen Fenstern blickt es auf den Michigansee; ein Garten in das zögernde Grün des amerikanischen Frühlings, der eigentlich ein Spätling ist, gehüllt, trennt es von der Strasse, der Lärm von Chicago tönt hier schon etwas ferner, aber ringsum all' das Unfertige in Mauern und Gebäuden, in Grund und Boden, lässt nie vergessen, dass dies Haus auf amerikanischer Erde steht, in der neuen Welt, die alle Elemente der alten herbeigezogen hat, die ein unermesslicher Schmelztiegel aller Gegensätze ist, die Retorte der Zukunft, ein Land, von dem es in einer seiner Nationalhymnen heisst: »Die Welt zu heiligen, sind andere gestorben, die Welt befrei'n, sei unseres Lebens Ziel!«


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