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Was man in Frankreich liest.

Bazar. 12. und 23. März 1896.

Ich soll Ihnen von französischer Litteratur berichten? Sehr gern: Bücher werden genug geschrieben; interessant wird es vielleicht auch werden, denn der Mensch ist sich selber doch immer noch das Anziehendste; ob aber auch erfreulich? – Das frage ich mich; denn Frankreich steht, wie Deutschland, augenblicklich im Zeichen litterarischer Dürre.

Dabei sind es aber gewiss nicht die sogenannten »amuseurs«, die in der französischen Litteratur fehlen. Die Bücher mit bunten Titelblättern und Vignetten sind zahlreich. Man hatte auch seit einigen Monaten dem Publikum den Roman einer hier sehr bekannten Schauspielerin versprochen, die im letzten Sommer glänzende Triumphe in Petersburg gefeiert hat und sich mit dem anspruchsvollen Namen Liane de Pougy schmückt. Der Titel des Buches lautet: Insaisissable – und wenn ich mich recht entsinne, sollte viel Selbsterlebtes in dem Roman zur Sprache kommen, sodass man in den eingeweihten Kreisen bereits auf erfreuliche Indiskretionen den Mund spitzte und sich darauf freute, die Unterhaltung mit einigen Messerspitzen von zerriebener Nächstenliebe pfeffern zu können. Aber bisher scheint »Insaisissable« eben insaisissable geblieben zu sein, ich habe nichts mehr davon gehört.

Hat man sich durch das üppige Gewucher der reinen Unterhaltungslitteratur hindurchgearbeitet, so richtet man unwillkürlich seine Blicke auf die Höhen der Litteratur, ob denn von da keine Hilfe kommen will. Vorläufig aber schweigt alles: Alphonse Daudet, dessen letztes Buch: »La petite Paroisse« wirklich des Autors unwürdig war, arbeitet an einem neuen Werk: »Soutien de famille«. Möge es ihm besser gelingen als La petite Paroisse; aber ich habe eine Befürchtung. Es ist bei diesem Autor zwar alles sehr edel gedacht, aber neuerdings doch sehr wackelig in der Form und Ausführung.

Nach Daudet – Bourget. Auch dieser Meister, der übrigens ein glühender Goetheverehrer ist, sitzt noch an der Arbeit, »Idylle tragique« wird erst in einigen Wochen in der Revue de Paris beendigt werden, und dann soll sofort ein Theaterstückchen: »L'Ecran« in Arbeit gehen. Auch über den Wert von Idylle tragique habe ich im voraus meine leisen Zweifel: für wen der Salon die Welt bedeutet, der muss zuletzt in dieser parfümierten Umgebung zum mindesten Kopfschmerzen bekommen, und dann schreibt man keine kraftvollen Bücher mehr.

Aber Zola? werden Sie fragen. Von dem schwieg bis vor kurzem alles; eine grosse Stille war über den Wassern seiner Schöpfung. Während Daudet und Bourget sich hin und wieder noch einmal interviewen liessen, schien der grosse Emile in diesem Punkte intraitable. Als ihn unlängst ein Journalist aufsuchte, um seine Ansicht über den Sensationsprozess de Nayve zu erfahren, der Frankreich acht Tage lang in Aufregung gesetzt hatte, war des Meisters erstes Wort: »Ich habe die Sache so wenig verfolgt, ich bin so beschäftigt –« Dass Zola beschäftigt war, dass wussten wir seit lange; was aber sein neues, soeben angekündigtes Buch enthält – die übliche Jahresfrist seit »Lourdes« ist bereits seit lange verstrichen – davon ist wenig in das Publikum gedrungen. Man weiss nur, dass Rom der Gegenstand des Werkes ist und hat im Sommer mehrmals von Herrn Zolas Pilgerfahrt dorthin, von Verboten des Papstes, ihn zu einer, wenn auch nur ganz gewöhnlichen Audienz zuzulassen, gefabelt. Was daran wahr ist, wissen nur seine Intimen, und wir andern müssen warten, bis wir den neuen Band in Händen haben.

Bis jetzt habe ich Ihnen nur von allem erzählt, was nicht da ist. Sie werden nun etwas Positives aus der guten und wertvolleren Litteratur haben wollen. Da lassen sich zuerst einige allgemeine Züge hervorheben, die der kleinen Gruppe von etwa fünfzehn Schriftstellern gemeinsam sind, welche, ausser den eben Genannten, die Ideenlitteratur der Zeit vertreten und daher ihre Bestrebungen kennzeichnen. Denn, in der schönen Litteratur hat die Zeit ihren Spiegel; in der schönen Litteratur giebt sie sich ihr Ideal, ficht sie ihre Gewissenskämpfe und Prinzipienfragen aus. Suchen wir also das heutige Frankreich durch seine Ideenlitteratur zu verstehen.

Der erste Hauptzug der erwähnten Schriftstellergruppe ist ihre bunte Zusammenwürfelung aus aller Herren Länder, ihr Kosmopolitismus. Wohl ist die Mehrzahl rein französischer Geburt: die beiden Rosny, Hervieu, Barrès, Chandplaix. Rod z. B. ist aber schon französischer Schweizer; Huysmans und Maeterlinck sind Belgier, Rodenbach gleichfalls. Viélé-Griffin ist gar ein Amerikaner.

Und noch weit bunter als ihre Rassenmischung ist das Fremdländische ihrer Weltanschauungen: sie haben – und das ist für eine so stolze und abgeschlossene Nation wie Frankreich eine ganz andere Leistung als wie für uns, die wir so leicht Fremdes annehmen – sie haben allesamt mehr oder minder folgende drei Einflüsse verspürt: den russischen Tolstois; den deutschen Schopenhauers und Wagners, auch etwas Nietzsches; endlich den norwegischen Ibsens. Diese Einflüsse gehen nun aber gar nicht in derselben Richtung: Tolstoi und Schopenhauer predigten, dass die Welt ein Jammerthal, das Leben nicht viel wert sei, sie lähmten also, was an Energie vorhanden war. Nietzsche und Ibsen hingegen lehrten, fest, selbstbewusst und energisch auftreten, und aus Wagner konnte man, je nach Belieben, das eine oder das andere, die Abkehr vom oder den Willen zum Leben machen. In seiner Entwicklungszeit solchen widersprechenden Einflüssen ausgesetzt zu sein, ist aber nicht gerade ein Glück; für schwache Charaktere, die nicht von innen heraus und von vornherein wissen, wo sie hingehen sollen, ist es sogar ein wahres Unglück. – Zu diesen ausländischen Einwirkungen kam dann noch der inländische Zolas und des Naturalismus. Da Zola sich ganz bewusst auf eine genaue Beschreibung gerade des Äusserlichen wandte und betonte, dass wir alle von unserer äusseren Umgebung, von dem Milieu, in dem wir leben, beeinflusst werden – worüber er freilich nie die Ideen und die Seelen vergass – so wurde diese Zolasche Methode, die Aussenseite der Dinge zu beschreiben, einfach Thatsachen festzustellen, zu beobachten, zu schildern, ohne seine eigne Meinung dabei zu sagen, sehr bald für viele, die zwischen all' den »Einflüssen« und Wörtern auf ismus – Tolstoiismus, Ibsenismus, Wagnerianismus – sich keinen Rat wussten, der Ausweg. Daher hat die ganze heutige Schriftstellergeneration in Frankreich das eine gelernt: scharf beobachten und genau analysieren. Das ist eine Gewohnheit, die unserm wissenschaftlichen Zeitalter ja auch durchaus entspricht.

Zugleich ist den Schriftstellern der Zolaschen Schule aber auch die soziale Frage, von der die Frauenfrage ein Teil ist, die Frage der Massen, ihres Lebens und Geschickes nahe getreten. Zolas machtvolle Analysen der grossen Gesellschaftsschichten jedoch, die Maupassant mit seinen scharfen Radierungen für die oberen Klassen ergänzte, und zu denen Bourget seine Federzeichnungen fügte, die er in den Salons mit einer vergifteten Tinte Strich für Strich zusammensetzte – das alles gab ein so dunkles Bild von der Welt, es zeigte so viel ungelöste Fragen, eine so unendliche Arbeitsmasse, so viel Düsteres und so wenig Freude, dass mehr als einer entsetzt zurückwich und, um nicht vorgehen zu müssen in die dunkle, schwere Zukunft, einen Rückweg in die Vergangenheit oder Nebenwege, die die Fragen umgehen sollten, suchte. Ein Ausdruck dieses Tappens, Tastens und Ringens liegt daher in der heutigen französischen Litteratur, und ich will versuchen, Ihnen nacheinander die einzelnen Lösungen vorzuführen, die man auf diesem Gebiet für die Rätsel des Daseins gefunden hat.

Eine Bemerkung sei vorher noch gestattet. Ebenso wie man im Handgemenge wenig danach fragt, ob einem die Krawatte richtig sitzt, noch bei Rettung vom Schiffbruch auf korrekte Kleidung sieht, so ist es auch in der französischen Litteratur gegangen: die alte Überlieferung, dass ein Buch klar und übersichtlich gegliedert, dass es gut geschrieben, leicht lesbar und fesselnd sein muss – die ist leider, leider in dem Gewirr der Weltanschauungen, der Problemlösungen und des angstvollen Suchens verloren worden. Das ist eine ungeheure Einbusse nicht nur für Frankreich, sondern für die Welt. Bisher hatten wir Deutschen allein das Vorrecht, sehr tiefsinnige Bücher zu schreiben, die nur wir – und auch nicht wir alle und auch nicht immer – lesen und verstehen konnten. Jetzt geht die Unklarheit, die Schwere in litterarischen Dingen, das wohlgemeinte Stottern und das tiefsinnige Stammeln auch auf unsere Nachbarn über. Traurig! Die Welt verliert dabei: eine schöne, mildleuchtende Lampe geht aus, und kleine, zitternde Talgkerzen treten an ihre Stelle.

Die radikalste Antwort nun auf die Frage: »Was sollen wir mit dieser verworrenen Welt machen?« geben die Poeten, und dazu rechne ich auch Maeterlinck, den mystischen Belgier. »Wir wollen sie ignorieren«, meint er; wenigstens geht das deutlich aus seinen Werken hervor. Das bekannteste unter ihnen ist »Princesse Maleine«, mit der Maeterlinck vor etwa zwei Jahren vor das französische Publikum trat. Eine Poesie – übrigens dramatische – die mit Shakespearescher Kraft (böse Zungen sagen: mit Shakespeareschen Federn) eine ganz unwahrscheinliche, unmögliche Träumerei und Stimmung verbindet; ein Dichter, der einen Springbrunnen »schluchzend« verstummen und die Liebenden sich durch phantastische Kombinationen trennen oder finden lässt, der dazu kaltblütig alles abschlachtet, ermordet oder vergiftet, was ihm der »Geist« als vernichtungsreif bezeichnet – der ist natürlich nur für eine kleine Schar Leser bestimmt, die, gleich ihm, ganz Phantasie und poetische Stimmung sein können. Die werden auch einen grossen, wirklich mystischen Genuss an ihm finden. Wer nicht so angelegt ist, wird hingegen in ein unauslöschliches Gelächter ausbrechen; wie jenes Theaterpublikum in Wien, das sich bei der Aufführung von »L'Intruse« garnicht halten konnte. Es hatte eben vergessen, dass ihm hier eine Träumerei und nicht ein Schauspiel geboten wurde. Maeterlinck ist aber der einzige, der die naturalistische Methode verschmäht und nicht beobachtet. Seine Brüder in Apoll, die Poeten in Versen, schieben zwar auch die heutige Welt mit ihren Fragen und Hässlichkeiten von sich ab, aber sie beobachten trotzdem, was sie beschreiben wollen, sehr genau. Henri de Régnier, Stéphane Mallarmé und François Viéllé-Griffin suchen der Natur ihre intimsten Reize abzulauschen; oft werden sie dabei allerdings so unwahrscheinlich, unverständlich und gesucht wie jene naturalistischen Maler, die grüne Gesichter und violette Pferde malen. Sie suchen – besonders Mallarmé – etwas darin, unverständlich zu sein; sie streben zugleich nach der Herstellung eines neuen Versmaßes, da der Alexandriner, wie sehr man ihm auch das altmodische Cäsurgeschirr gelockert hat, doch noch immer ein Vers ist. Sie versuchen also den »vers libre«, den wir Deutschen sehr gut vertragen (es ist rhythmische Prosa), gegen den die französischen Ohren sich aber wehren.

Während nun diese Mystiker und Symbolisten von der Hässlichkeit des Lebens nichts wissen und seine praktischen Pflichten nicht anerkennen wollen, macht sich eine andre Richtung unter der Führung von Huysmans geltend: sie wollen die moderne Welt durch den Glauben von ihren Leiden erlösen. Und diese Neubelebung des Christentums geht in der heutigen, französischen Gesellschaft sehr stark um. Sie datiert nicht erst von heute: Tolstoi steht an ihrer Quelle; Wagner mit seinem mittelalterlichen Kirchenkultus hat die Bewegung genährt; Zola hat seinen »Rêve« darauf gebaut, Bourget in »Terre Promise« seine Heldin als ein gläubiges und nach ihren christlichen Anschauungen handelndes Mädchen geschildert – die Bewegung ist also von langer Hand vorbereitet. Sie ist sogar, wenn man dem Buch von Jules Bois »Les petites religions de Paris« glauben darf, durchaus nicht auf den Katholicismus beschränkt, sondern entspricht einem allgemeinen Glaubensbedürfnis unserer müden Zeit, die ihre Sorgen auf den Herrn werfen möchte, und der es gleich ist, ob sie von Christus oder Buddha erlöst wird, wenn man sie nur erlöst.

Ich habe dieser Bewegung stets mit dem grössten Skepticismus gegenüber gestanden: schaff' in mir, Gott, ein reines Herz, ist leicht gesagt, aber schwer gethan. Und von der Unfruchtbarkeit dieser Bewegung in den oberen Klassen hat mich das Buch des neuesten Apostels, Huysmans, noch mehr überzeugt. Huysmans war zuerst Anhänger Zolas und schrieb ein ganz ausgezeichnetes Buch aus dem Volksleben: »Les Sœurs Vatard«. Dann zog ihn die mystische Nachtseite des Lebens an, er schrieb sein wirres und wüstes »Là-bas« – und jetzt, von all' diesen Hässlichkeiten abgestossen, ruft er seiner Zeit ein: »En route« zu, was wohl bedeuten soll: macht euch auf den Weg, und bekehrt euch.

Ist eine Bekehrung à la Huysmans aber der Rede wert? Sehen Sie selbst: der Held des Buches, Durtal, kehrt aus drei Gründen wieder in den Schoss der Kirche zurück – er ist des Lebens überdrüssig (weil er es nämlich gemissbraucht hat); er liebt die Kunst (und findet sie in den alten Pariser Kirchen, in der alten Pariser Kirchenmusik wieder); endlich – er ist aus frommer Familie – empfindet also eine angeborene Neigung für das Heilige. Das Weshalb, Warum und Wie seines religiösen Bedürfnisses wird in langen, oft wirren Seiten abgehandelt; die neuen Pariser Kirchen mit ihrer Glätte und Kälte, die schlechte, moderne Kirchenmusik, die Geschäftsmässigkeit der Priester – alle bekommen ihr Teil, denn sie verhindern ja den Herrn Durtal, seine Seele zu reinen Höhen aufzuschwingen. Abgestossen von der Unfeierlichkeit der Beichte, Messe und Kirche in Paris, geht Durtal dann auf acht Tage in ein Trappistenkloster. Aber sein Wunsch, gerettet zu werden, lässt ihn z. B. die Unbequemlichkeit nicht vergessen, dass er um vier Uhr aufstehen muss, will anders er die Frühmesse hören. Und obgleich Paris und das ganze Weltgetriebe ihn abstösst, so kehrt er am Ende der acht Tage doch dahin zurück, statt einen grossen Entschluss zu fassen und seine Lebensführung nach den Grundsätzen der christlichen Kirche einzurichten, von der er die Wiedergeburt vergebens erfleht. Der ganze Held in seiner inneren Zerfahrenheit, seinen fortwährenden Anläufen und seinem jedesmaligen Zusammensinken ist aber so recht das Bild einer zahlreichen Klasse unter den Zeitgenossen, die in der Religion mystischen Sinnenreiz, seelische Ekstase, ästhetische Stimmungen, Mitleid mit sich selbst, kurz alles suchen, nur nicht den Glauben und die Glaubensthat. Und wie sehr dieses Buch einem Bedürfnis der Zeit entgegen kommt, konnte ich daran sehen, dass der dicke, schlecht geschriebene, eng gedruckte Band, der erst im vorigen Jahre heraus gekommen ist, ersichtlich schon sehr viel und sogar bis zu Ende gelesen war. Von diesen innerlich morschen und willenslosen Existenzen wird eine Wiedergeburt des Christentums nicht zu erwarten sein.

Eine andere Art, sich mit dem Leben abzufinden, schlägt Edouard Rod vor. Er hat sich vor etwa vier Jahren in einem sehr lesenswerten Buche »La Morale d'aujourd'hui« eingehend mit den Fragen der Gegenwart beschäftigt. Was ihn am meisten gefesselt und erschreckt hat, ist die störende Rolle, die die Leidenschaft in allen menschlichen Verhältnissen spielt. Er hat diese Zerstörungen in mehreren Büchern dargestellt, »La Vie de Michel Teissier«, »Silence«, »La Sacrifiée«. Und wenn ich ihn recht verstanden habe, so ist auch er zu einem Schluss gekommen, der wenigstens nach dem Christentum hinüberwinkt – zur Entsagung, zur platonischen Liebe, wo nicht gar zur Askese des Grafen Tolstoi. Edouard Rod aber ist Genfer, wohl auch Protestant, da versteht sich diese Lösung; sie wird zu denen sprechen und diejenigen anziehen, die über ein ähnliches Temperament wie er verfügen. Im übrigen kommt aber auch bei Rod das mystische Pferdefüsschen oder, wenn Sie lieber wollen, das mystische Engelsflüglein am Ende hervor, und er meint: »Vielleicht wird die Seele, durch Leiden geläutert, durch Schmerz und Entsagen geheiligt, dadurch höheren Verständnisses, grösserer Kenntnis fähig.«

Also die Weltentsagung im Grunde – wie die Religion bei Huysmans – auch nur ein Mittel, um grösserer Wonne teilhaftig zu werden. Was wir heute für verzwickte Moralisten geworden sind!

Den Aposteln der Entsagung tritt in der modernen, französischen Litteratur eine andre Schule scharf gegenüber. Sie betont den Wert des Lebens und der Energie, des Diesseits und der heutigen Probleme.

Voran steht ein lebhafter Südfranzose, Maurice Barrès, der als ersten Vorzug das besitzt, was den vorher Genannten mangelt: einen farbigen, schillernden Stil. Barrès ist in die politische Laufbahn verwickelt gewesen, er sucht daher den Kampf, die Aufregung, den Lärm des Marktes. Er macht grosse Gesten, nimmt den Mund voll, spricht sehr schön, betont die Freiheit des Individuums, giebt seinen Büchern Titel, wobei den friedlichen Bürger eine Gänsehaut überläuft, z. B.: »Du sang, de la volupté et de la mort« oder »Sous l'œil des barbares«. Aber sieht man genau zu, was denn unter diesem grossen Flan-Flan steckt, sucht man das einfache Leitmotiv in diesen lärmenden Variationen, so lässt sich nicht leugnen, dass bei Maurice Barrès ein festes Programm für sein Handeln, oder für die menschliche Entwicklung auch nicht zu finden ist. Er berauscht sich, wie so viele beredte Leute und besonders Südfranzosen, an seinen eignen Worten, und ist sein Text: »Habt Willen, Willen, Willen« – auch vortrefflich, so wüsste unsre wartende Welt doch gern auch: wie und wo und wozu. Vielleicht weiss Maurice Barrès es selber nicht.

Als ein verspäteter Realist, der sich auf die Beschreibung eines Problems, auf das Inventarium einer Seele beschränkt, und dem Mystizismus abhold ist, giebt sich Lemonnier zu erkennen. Er hat früher – gleich Zola – Massenbücher und Ideenbücher geschrieben, z. B. »La fin des Bourgeois«; er ist auch heute noch ein Schüler Zolas, ja der Titel seines letzten Buches: »La faute de Madame Charvet« erinnert geradezu an »La faute de l'abbé Mouret«. Aber auch nur der Titel. Das Buch selbst ist wirr und undurchsichtig geschrieben, unerfreulich im Gegenstand, eine der ewigen Ehebruchsgeschichten. Sie wird ein wenig interessanter dadurch, dass sie in dem Hause eines Fabrikzeichners spielt und ausserdem sehr gut zeigt, wie völlig rücksichtslos eine Leidenschaft ist. Doch ist das alles nicht schön ausgearbeitet, und der Schluss – die junge Frau verlässt auf einige Zeit Mann und Kind, im Einverständnis mit dem ersteren – wirkt geradezu verblüffend und unverständlich. Es ist ein Stückchen Nora, das da plötzlich unvermittelt zum Vorschein kommt, aber man glaubt es nicht. Immerhin, es verdient bemerkt zu werden; wie ein leises Dämmern geht es durch die französische Litteratur (und das heisst zugleich auch durch die französische Gesellschaft), dass binnen kurzem eine Änderung in der Erziehung, Stellung und Beurteilung der Frauen vor sich gehen muss. Und das ist wichtig: Nachdem man in Liebes- und Leidenschaftsromanen geschwelgt, sich an Ehebruchsschilderungen gesättigt, die Frau als ein »enfant malade« und ein unzurechnungsfähiges Bündel Nerven erklärt hat, dem man aber nichtsdestoweniger seinen Mangel an Ehrgefühl und Energie vorwarf, und das man (besser »Mann«) daher glaubte verachten zu dürfen, fängt nun eine Reaktion an. »Mann« fragt sich, ob er nicht auch etwas Schuld an diesem Zustande der Dinge hat, und während einige Oberpriester (man lese bei René Doumic: Les Jeunes, den Artikel über Margueritte) immer noch behaupten, die Natur habe das Weib für die Pflichten, den Mann für die Rechte gemacht, und der Treubruch des Mannes z. B. sei verzeihlich, der der Frau aber wider die Natur – erheben sich immer mehr und mehr Stimmen, die gleiches Maß für beide Geschlechter verlangen.

So beschwört Camille Lemonnier denn Nora; Hervieu – der Mann des Tages – plaidiert für die grössere Leichtigkeit der Ehescheidung zu Gunsten der Frau, und Paul Margueritte überlegt sich, dass der Ehemann doch nur in den seltensten Fällen das Recht hat, die Untreue der Frau zu verdammen. Es ist ein in jeder Hinsicht merkwürdiges Buch, in dem Paul Margueritte diesen Schluss zieht und heisst: »La Tourmente« – der Sturm.

Es ist die mit höchster Feinheit ausgeführte Schilderung der Reue über ein beabsichtigtes Vergehen, das die Frau dem Mann gesteht, ein Geständnis, das die beiden nach vielen inneren Kämpfen wieder zu einander führt. Ich habe nie in einem Buche die konventionelle Lüge, mit der wir uns alle umgeben und oft umgeben müssen, den »Sturm«, der unter der weissen Weste und dem seidenen Kleide tobt – schärfer erfassen und feiner ausdrücken sehen.

Ganz anders energisch stellt sich nun schon Hervieu auf die Seite der Frau. Er fasst sein Problem als ein Stück der sozialen Frage und gehört somit wie Lemonnier und Margueritte zu denjenigen, die trotz der modernen Hoffnungslosigkeit, trotz der Unendlichkeit der Arbeit da vor uns – doch entschlossen an diese Arbeit gehen wollen. Er hat Barrès' Energie, und er besitzt, was Barrès fehlt, ein klares Programm: Abschaffung gewisser gesellschaftlicher Übelstände, angefangen beim heutigen Ehescheidungsrecht. Dies ist der Gegenstand von Hervieu's letzter Arbeit: »Les Tenailles«. Es ist das augenblickliche Zugstück im Théâtre français und tritt mit grösster Entschiedenheit für diejenige Frau ein, die von ihrem Manne tyrannisiert, um ihre Jugend, ihre Freiheit, ihre Freude gebracht wird, die aber, solange die berühmten Paragraphen des Strafgesetzes nicht erfüllt sind und nicht etwa eine flagrante Verletzung vorliegt, im Ehejoch von Rechts wegen zu Tode gefahren werden darf. Leider ist Hervieu kein Dichter, der seine Figuren plastisch vor sich sieht; er ist nur ein sehr wohlmeinender Advokat, dem eine trockne, herbe, schwerflüssige Beredsamkeit zu Gebote steht, der seine Gestalten ausklügelt und auskünstelt und seine Idee mit grosser Absichtlichkeit an eigens gewählten Beispielen erläutert. Er hat vorher Romane geschrieben – Studien im Sinne Zolas, aber ich habe, ehrlich gestanden, an seinen Romanen nie Geschmack finden können.

Erklären Hervieu und Margueritte sich nun als Vorkämpfer der Frau und glauben sie, dass hier geändert, dort angegriffen werden muss, wenn es besser werden soll, so treten drei andre Schriftsteller mit der Forderung einer neuen Moral an den Mann heran. Es sind Rosny, Chandplaix und Art Roë.

Art Roë ist am wenigsten Künstler und am meisten Moralist. Er ist bei Melchior de Vogüé in die Schule gegangen, der, deutlich unter russischem Einfluss stehend, seit geraumer Zeit versucht, die französische Jugend zu mannhafter That und reinerem Wollen aufzurütteln, sie der Luft des Café chantant und des Bal Bullier zu entziehen. Art Roë ist zugleich Artillerieoffizier, und in seinem Beruf hat sich ihm die Überzeugung gebildet, dass das Heer dazu bestimmt ist, das französische Volk von innen heraus zu erneuern, ihm jene Eigenschaften ernster Pflichterfüllung, kräftigen Wollens zu geben, über deren Abnahme die ganze heutige Generation fortdauernd und in allen Tonarten, meist aber mit selbstmitleidiger Trauer klagt. Diese Gedanken sind in dem Buch: »Pingot et moi«, Tagebuch eines Artillerieoffiziers, ausgesprochen. Zweifelsohne hat Lotis: »Mon frère Ives« dem Verfasser hier vorgeschwebt, und obgleich im Allgemeinen weit von der eitlen Selbstbespiegelung des akademiegekrönten Marineoffiziers Pierre Loti entfernt – kommt sich doch manchmal auch Art Roë da sehr gut vor, wo er nur einfach seine Pflicht und Schuldigkeit thut. Aber nichtsdestoweniger erfüllt der sittliche Schwung des Buchs mit Freude, denn man liest nicht oft in französischen Werken Sätze wie: »Weswegen wir leben? Nun, um unsre Pflicht zu thun!« Man findet nicht oft den Lebemann und Boulevardier von einem jungen Manne so glatt abgefertigt wie in folgendem Portrait: »Um Mittag steht er auf, verbringt einige Stunden im Klub, geht auf den Fechtboden, um etwas von seinem Fett abzuschütteln und beschliesst den Abend in einem Theater – nicht einem Theater, ›wo man sich langweilt‹, sondern in einer boîte à femmes.« Nicht viele junge Schriftsteller empfehlen ihren Zeitgenossen, »mehr zu handeln und weniger zu denken«; wenige fassen ihren Beruf so ernst, dass sie wie Art Roë sagen: »Uns sind ja Seelen anvertraut.« Und wenn dies ein Offizier von seinen Rekruten sagt, so lässt sich das ebensogut auf jeden andern Beruf anwenden, und die Überzeugung, dass jeder Befehlende für seine Untergebenen, jeder Reiche – an Gütern oder Geist – für die Armen verantwortlich ist, sollte nur weiter verbreitet und in Art Roës Sinn durchgeführt werden! »Von Herzen gut sein und im Leben nützlich« ist ein schöner Wahlspruch, und damit bringt Art Roë zugleich die neueste Lösung herbei, die die Modernen im Kampf ums Dasein für das Lebensrätsel gefunden: den neuen Typus, der gut, aber zugleich auch stark ist, der Herr und nicht Sklave, mitleidig aber nicht schwach sein will. Es ist, wie Sie sehen – das christliche Ideal, aber vereint mit dem modernen Kraftgefühl desjenigen, der sich wohl seiner Pflichten bewusst, aber zugleich auch von seinen Rechten durchdrungen ist. Das sind die Wirkungen von Ibsen und Nietzsche.

Diese Idee ist fast mit denselben Worten bei Rosny zu finden. Sein letztes – oder besser: ihr letztes Buch (denn es sind zwei Brüder, die an ihm gearbeitet haben) heisst »Résurrection«, nach der ersten Novelle des Bandes. Hier ist es die Art des feinen Erzählers Maupassant, die angenommen ist. Niemals hätte man das für möglich gehalten: Rosny war ein tief in gesellschaftlichen Studien steckender, teilweise ganz unleserlicher Schriftsteller, der dem armen Publikum seine (d. h. des Publikums) Unwissenheit klar ad oculos demonstrierte, indem er wissenschaftliche Fremdwörter und unglaublich geschmacklose Ausdrücke aufeinanderhäufte. Zuerst behandelte er lediglich die soziale, d. h. hier Arbeiterfrage; vielleicht sah er beim Studium jener Arbeitergruppen, die er im »Bilatéral« schildert, wieviel Spreu doch beim Weizen lag. Es erschien darauf ein Buch: »Daniel Valgraive«, bei dem zum erstenmale der Bruder mitarbeitete, und das einen ganz andern Charakter trug. Uebersichtlicher in der Form, klarer im Stil, behandelte es die Geschichte eines einzelnen Menschen, der in seinem kleinen Kreise versucht, »gut« zu sein. – Das Buch selbst ist nicht sehr tief und als Kunstwerk nicht sehr geglückt; aber die Vorrede ist vortrefflich, und die Tendenz ist ja damit gegeben. Ihren Helden, Daniel Valgraive, definieren die Verfasser nämlich so: »Er gehörte zu denen, die Güte nicht mit Schwäche verwechseln; er wollte das Gute gross und stark sehen, energisch und zum Krieg gerüstet gegen alles Niedrige und Gemeine.« Das ist fast Wort für Wort Art Roë, und ebenso, wie jener seinen Zeitgenossen zuruft: »Handeln, nicht denken!« so auch Rosny: »Nur die Völker werden weiter leben, die über dem Geist nicht den Körper vergessen.«

Der gleiche Hauch einer fröhlichen Wiedergeburt geht durch diese letzte Novellensammlung »Résurrection«, die Auferstehung! Vielleicht ist der Titel symbolisch gemeint. Aber wir finden dort wirklich ein paar frische Menschen, wie sie der französischen Litteratur letzthin abhanden gekommen waren. Menschen, die fröhlich begehren, die lieb haben, die Kraft in sich fühlen, sich ein geliebtes Weib, eine Schar Kinder wünschen. Dort findet sich auch in ein paar Linien eine Figur gezeichnet, der man gut sein muss, und wie man deren viele für die moderne Welt erwünscht. »Es war,« sagt Rosny, »ein Mann zwischen 45 und 48 Jahren, von grosser Kraft, aber einer Kraft ohne Roheit, von jener ruhigen Gesundheit, die sich oft mit der grössten Zartheit verbindet.« Das ist ja der moderne Mann. Ob Rosny sein Vorbild dazu nicht in England gefunden haben sollte? Sehr wahrscheinlich, er kennt England. Es stehen auch eine ganze Anzahl in England spielender Novellen in dem Band, und eine besonders ist von einem Hauch englischer Freimütigkeit durchweht, der sehr erfrischend wirkt. Es ist, als habe der französische Autor etwas von der Kameradschaft kennen gelernt, die jenseits des Kanals zwischen Mann und Weib nicht selten ist. Daneben stehen dann noch eine ganze Anzahl etwas schwülerer Fin-de-siècle Novellen. Aber alles in allem heisst das Buch mit Recht: Auferstehung.

Endlich Marc de Chandplaix, nach dem alten Spruch: das Beste kommt zuletzt. Chandplaix hat einen Roman geschrieben: »Le fond d'un Cœur«, den die Akademie gekrönt hat. Sein neues Buch: »Dans la houle« (Auf See) verdient von allen guten Menschen gekrönt zu werden. Es ist lieblich und kräftig, schön und sehr ernst zugleich. Der reine, starke Seewind geht hindurch, er weht wie ein grosser Hauch in die drückende Salonatmosphäre der französischen Litteratur. Diese Menschen, die recht thun, ohne Vorrede des Verfassers, ohne Kommentar des Autors, ziehen mit kräftiger Hand die Vorhänge zurück, hinter denen das ungesunde Leben der grossen Welt sich abspielt, und mit der Sonne, die hereindringt, verblassen die Kerzen, verfahlen die geschminkten und verlebten Gesichter. So wenigstens hat Chandplaix' Buch auf mich gewirkt. Es enthält drei Geschichten: die erste mit einer wundervollen, packenden Schilderung des Klosters Karmel und der syrischen Küste beginnend (ein Meisterwerk – Loti, ohne seine Geziertheit) und mit einer Heiligenlegende endigend, deren Ton allerdings leider ganz verfehlt ist. Die letzte wieder mit einer wunderbaren Schilderung beginnend – ein Seeoffizier, der mit dem Schiff nach Brest zurückkommt und statt zu schlafen, seine letzte Ruhestunde vor den Bildern von Frau und Kind verbringt – und mit dem Selbstmord der jungen Frau endigend, die ihr »Gewissen« nicht zum Schweigen bringen kann (das ist seit langer Zeit wieder das erste Auftreten des Gewissens in der französischen Litteratur). Endlich die zweite, die beste von allen: »Fockmastsegel hoch!« (d. h. Signal zur Abfahrt!) oder »Auf den Posten!« – wie man's übersetzen will; die Geschichte eines jungen Lieutenants zur See, der seine Cousine liebt, sich aber, da sie verheiratet ist, nicht selbst um sein Ideal bringen will, darum also hinausgeht: auf den Posten, los!

Und diese reinen Anschauungen sind kurz und knapp, ohne jedes Predigen, meist in vollendeter Sprache ausgedrückt. Woher Chandplaix diese Kunst und diese Kraft genommen hat? Er ist selbst Marineoffizier – so wie Art Roë Artillerielieutenant. Und es ist sicher kein Zufall, dass diese gesundere und reinere Weltanschauung gerade von zwei Vertretern des thätigen Lebens ausgeht. Sie erfüllen ja damit geradezu Rosny's Wort: »Nur diejenigen Völker werden weiter leben, die über dem Geist nicht den Körper vergessen.« Und beide Schriftsteller haben, indem sie das »Gute«, das Sittliche lehren, zugleich den Vorzug zu den Starken und Glänzenden der Gesellschaft zu zählen und so von einem weit sichtbaren Platze aus ihr Evangelium zu verkünden.

Das aber ist nicht unwichtig in einer Welt, die für unansehnliche Apostel gern Spott bereit hält. Es ist zugleich ein Beweis dafür, dass Güte und Kraft, Moral und gesellschaftliche Stellung sich vertragen, dass gut sein nicht notwendigerweise dumm sein heisst und Sittlichkeit nicht absolut nur für »die kleinen Leute« bestimmt ist.

Und nun Hand aufs Herz, wenn man mich fragte, welche von all den Lösungen, die uns die französische Litteratur bietet, um aus dem Irrsal unsrer Zeit herauszukommen – ich wählen würde? Es wäre nicht der Mystizismus, der die Welt flieht; ich würde nicht der Leidenschaft entsagen wie Rod; nicht in zielloser Energie hinstürmen wie Barrès, mir nicht an der Reform vereinzelter, gesellschaftlicher Missstände genügen lassen wie Hervieu, Lemonnier und Margueritte – nein, ich würde versuchen, ein Leben gesunder Thätigkeit und bewusster Verantwortlichkeit zu führen, das Beispiel von oben herab zu geben, wie Art Roë und Chandplaix. Das beste Losungs- und Lösungswort zur Beseitigung der gesellschaftlichen Missstände unsrer Zeit ist für alle eben Chandplaix': Auf den Posten!

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