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Lohengrin.

Frankfurter Zeitung. 30. Oktober u. 3. November 1895.

Sie stand in ihrer Schulstube mit dem Gesicht nach dem kleinen Hof hinaus. Im Grunde sah es doch trübselig genug aus: schwarze Mauern, graue Luft, gelber Schnee und dazu das eintönige Poch, poch, poch aus ihres Vaters Tischlerei – es war wirklich hässlich. – Und hässlich war – sie drehte sich um – die Schulstube auch: kahl, dunkel, schwarz, grau und gelb, mit Streifen an der Wand von Generationen Köpfen, mit Tischen und Bänken voll abgewischter Tintenfinger und dem undefinierbaren Duft von Jungen, halbwüchsigen Jungen, die nun einmal nach jungen Hunden riechen – man sage, was man wolle. Aber was that ihr das? Sie hatte ihre Jungen lieb, die langen, dünnen gerade so wie die dicken, runden; es war ja wirklich gleich, ob Mangel an Fleisch das Lernen erschwerte, oder Überfluss an Säften es hinderte. Sie kamen eben alle zu ihr, die da mühselig und beladen waren, alle, die in der grossen Stadt unter dem Drucke des Gymnasiums und seiner verbohrt philologischen Erziehung seufzten, alle Krüppel der Mathematik, alle Verwundeten des Latein, alle Nachzügler des Griechischen; alle, die zur Befriedigung von Elternehrgeiz in einen gelehrten Beruf hineingequält werden oder wenigstens die Gnadenpforte des »Einjährigen« erreichen sollten.

Mit einem Herrscherblick sah das stattliche, sehr voll entwickelte Mädchen auf ihre Knaben am Tisch: sie waren emsig beschäftigt, kein Muck, kein Rühren, Stille über den Wassern – freilich dazu war ja sie auch da. – Sie trat nun näher und sah dem ersten auf das Heft: »Halt, Julius, die Schrift geht nicht.«

»Ich habe heute den ganzen Morgen geschrieben.«

»Dann nimm den Nepos vor und schreibe später.« Dem nächsten erklärte sie eine Rechenaufgabe; eins, zwei, drei – in ihrer knappen, klaren Art – und er hatte begriffen. Beim dritten besiegte sie ein rebellisches, französisches Verb, indem sie es, den Takt auf dem Tisch schlagend, sechsmal wiederholen liess.

»Was ist das? fragte sie den folgenden, der einen Aufsatz schrieb. » Parcellen sind in der Luft? Was meinst du damit, mein Sohn?«

Der Junge wurde rot. – »Ich – ich weiss nicht recht, ich denk' so kleine Tiere – ich hab's nicht recht in der Schule verstanden.«

»Dann sollst du's auch nicht schreiben,« rief sie, »frag' doch, dazu bin ich ja hier.« – Jungens,« setzte sie, sich an die ganze Runde wendend, hinzu – »nie was schreiben, was ihr nicht versteht, immer fragen!«

»Dann hätten wir viel zu thun, ich versteh' überhaupt von der ganzen Mathematik nichts,« tönte eine hohe, dünne Stimme oben vom Tisch. Die Knaben stiessen sich an.

Mit einem Schritt war sie neben dem langen, dummfrech aussehenden Jungen. »So spricht hier niemand,« sagte sie, »wenn du deine Aufgaben nicht begreifst, so wende dich an Herrn Liedtke« – sie deutete auf den Primaner, der den Mathematikunterricht bei ihr gab und jetzt gerade eintrat.

Der Missvergnügte brummte weiter. Da sah sie ihn aus ihren schwarzen Augen scharf an und sagte: »Entweder du beträgst dich hier, wie alle anderen, anständig und gesittet, oder du gehst deiner Wege. Du weisst, dass nicht ich euch nachlaufe, sondern dass die Herren Direktoren, wenn sie mit euch nichts mehr anfangen können, euch zu mir schicken und mich bitten lassen, euch zu nehmen. Merk' dir das.«

»Aber die Parcellen,« erinnerte ein kleiner Septimaner. –

»Ja, richtig, Max, die Parcellen – Du meinst Bacillen, denke ich,« und sie erklärte beide Wörter. »Verstanden? »Ja? Nun gut.« – Und sie machte die Runde weiter. –

Herr Liedtke hatte sich indessen zu dem frechen Jüngling gesetzt und damit seinen täglichen Dornenpfad betreten. Die Lampen wurden angezündet, die Luft wurde immer dicker, die Köpfe heisser, die Finger klebriger; sie aber, unermüdlich, ging vom einen zum anderen, nahm sich diesen oder jenen bei Seite, ackerte einen Text durch, pflügte ein versandetes Gedächtnis auf, drohte, lobte, schalt, erklärte und ruhte nicht, bis alles begriffen, geschrieben, gelernt und beantwortet war. – Einer nach dem anderen packte seinen Ranzen, einer nach dem anderen verabschiedete sich mit linkischer aber ehrfurchtsvoller Verbeugung. Der freche Jüngling ging, Herr Liedtke ging, sie war allein.

Es war ihr gar nicht unbehaglich in dem dumpfen Raum. Beim Wegräumen ihrer Bücher hielt sie sich sogar noch eine volle Viertelstunde bei einer Seite Sallust auf, den sie mit ihrem Sekundaner gelesen, dabei fürchterlich zugerichtet, grammatikalisch ausgeklügelt hatte und nun erst noch einmal mit Genuss las.

Dann sprang sie auf und eilte über die halbdunkle Treppe nach den oberen Wohnräumen. Die Treppe war so eng, dass nur ein Mensch darauf Platz hatte. Fräulein Marianne war denn auch recht bedrängt, als ihr auf der Mitte ein grosser, älterer Biedermann begegnete. Bei ihrer Körperfülle konnte sie sich nicht gegen die Wand drücken – das lag auch so wie so nicht in ihrer Natur; da der Fremde ihr aber in ihrem Hause begegnete und augenscheinlich über diese Begegnung etwas verlegen war, stieg sie die paar Stufen wieder hinunter und liess ihn vorbei. Er zog den Hut, sie fixierte ihn scharf, konnte aber nichts erkennen und fragte daher: »Wünschten Sie mich zu sprechen?«

»Nein, mein Fräulein,« war die Antwort, »ich war bei Ihrem Herrn Vater.«

Und er ging vorbei.

Als Marianne verwundert die jetzt freie Treppe hinaufschritt, kam aus dem Dunkel von oben ihre jüngere Schwester hervorgestürzt und fiel ihr um den Hals: »Marianne, du weiser Salomo, jetzt bin ich aber doch klüger als du?« –

»Was denn, du Mops?« sagte die ältere und trat in das Esszimmer.

»Weisst du, wer das war?« flüsterte Julie, »und was er hier wollte? – Er war in Überrock und Handschuhen ...«

»Beim Vater?« fragte Marianne, nur halb bei der Sache, denn sie musterte mit ihrem Feldherrnblick den gedeckten Tisch, während sie zugleich das neue Heft einer litterarischen Zeitschrift, wie einen Schatz, an sich zog.

»Ein Freier war's,« lachte Julie übermütig.

»Für dich, Kind?« fragte Marianne nun doch gefesselt und strich dem hübschen Mädchen mütterlich über das Haar.

»Für mich ...?« kicherte Julie, als der Vater auf der Schwelle erschien.

»Bist du da, meine Marianne?« sagte der kleine, alte Mann mit achtungsvoller Zärtlichkeit. »Komme einmal nach vorne, wenn du Zeit hast.« –

Beide gingen in das Schlafzimmer des Vaters, wo der Geldschrank stand. – Julie blieb zwar sehr aufgeregt zurück, aber sie hätte sich nie erlaubt zu horchen.

Der Tischlermeister zündete ein Licht an; er wie Marianne blieben aber stehen, eine Gewohnheit vielbeschäftigter Leute, die nie für sich Zeit haben; und augenscheinlich handelte es sich jetzt um etwas Persönliches.

»Willst du heiraten, Marianne? fragte der kleine Vater.

»Wen, Vater?« gab die stattliche Tochter zurück.

»Den Grosskaufmann Ehrenfeld.«

»Ich kenne ihn ja nicht.«

»Er aber dich.«

»Wie das?«

Er hat dich von drüben her, wo er ja wohnt, beobachtet und dich auch neulich bei der Emma gesehen.«

»Jawohl, ich entsinne mich jetzt,« sagte sie. »Hast du ihm gesagt, dass ich keine Mitgift habe, Vater?«

»Allerdings; er will dich ohne. Er ist ja Witwer mit einem Kind.«

»Das Kind kenne ich,« sagte sie, »es ist ganz nett.«

»Willst du ihn?« fragte der Vater wieder.

»Vater, ich habe nie an Heiraten gedacht – ich bin so glücklich so ...«

»Überlege dir's –« sagte der Tischlermeister, »du wirst jetzt dreissig Jahre – und der Mann ist gut.« –

»So?« fragte Marianne zurück.

»Ich werde mich noch erkundigen – aber du solltest es überlegen.«

»Ich werde, Vater,« antwortete Marianne, dann löschten sie das Licht und gingen zu Tisch. – Dabei waren die vier kleinen Pensionäre anwesend, und so wurde zu Juliens Leidwesen der interessante Gegenstand nicht weiter besprochen.

Marianne, die im Hause stets die verstorbene Mutter vertreten hatte, war anscheinend auch heute ganz bei ihren häuslichen Pflichten. Sie beherrschte sich aber nur, denn im Herzen war sie doch ein wenig ungeduldig, fortzukommen und mit ihrer Vertrauten, Emma, die auf der anderen Seite der engen Strasse wohnte, die Sache zu besprechen. Gerade aber als das einfache Mahl schweigsam zu Ende gegangen, der Tisch abgedeckt war und Julie sich mit den vier Knaben zu einem Spiel versammelt hatte, klingelte es, und nach etlichem Stolpern und Tasten auf der dunklen Treppe trat ein verweinter Knabe schüchtern ein.

»Was willst du, Fritz?« fragte Marianne ihn zuerst mit ihrer lauten, aber nicht harten Stimme.

Es folgte eine verwickelte Erzählung von vergessenen Heften oder Arbeiten, ein erneuter Thränenstrom, und Marianne beschloss kurzer Hand, das verwirrte Kind in's Schulzimmer zu nehmen. – Als sie die Lampe tragend, wieder die Treppe hinunterging, hatte sie ihren Freier schon völlig vergessen; ihre Unruhe war verschwunden, und als sie sich mit dem Knaben an den langen Tisch dort unten hinsetzte, war sie wieder völlig die Lehrerin und der »Paukmajor«, wie man sie auch hiess. –

Da Fritz in seinem verweinten Zustande von recht schwachem Mitteilungsvermögen war, dauerte es zehn Minuten, bis Marianne genau erfuhr, was er wollte, und eine halbe Stunde, bis er das Versäumte nachgeholt hatte. Als er dann abgezogen war, blieb Marianne wieder an ihrem Platz sitzen, zog die Zeitschrift aus der Tasche und begann mit Genuss zu lesen: hier war sie ungestört für sich und konnte sich bilden, wie sie denn ihr Leben lang in jedem freien Augenblick gelernt und in jedem beschäftigten Moment gelehrt hatte.

So sass sie eine halbe Stunde. Dann ging sie nach oben, schickte die Knaben zu Bett und las, zwischen Vater und Schwester sitzend, weiter: zu Emma ging sie nicht mehr. Die Sache eilte ja nicht so.

*

Am nächsten Abend aber war sie dort; als die Kinder der Freundin Mariannens laute Stimme hörten, stürzten sie ihr bis an die Hausthür entgegen, erhielten ein paar gutmütige Kläpse von Mariannens runder, dicker Hand, sprangen an ihr empor, wurden derb abgeschüttelt und betraten alle zusammen sehr vergnügt das Wohnzimmer.

»Emma,« rief das Mädchen der Freundin schon von der Thür aus entgegen, »schaff' mir die Bande vom Halse, ich bin das nicht gewöhnt, meine Jungen gehorchen anders.« Damit setzte sie sich auf das bequeme Sofa zu ihrer zarten Freundin, die sie um ihrer Anmut, ihrer feinen Manieren und hohen Bildung willen neidlos bewunderte.

Frau Würz schickte die Kinder in das Nebenzimmer, und Marianne begann folgendermassen: »Weisst du, dass ich heute fünf neue Anmeldungen bekommen habe? Fünf! Es ist nicht zu glauben, wie viel dumme Jungen es auf der Welt giebt ... alle für Tertia einzupauken – keine Kleinigkeit, aber es wird schon gehen ...«

Frau Würz lächelte. »Ich glaubte, du kämest mir etwas anderes erzählen.«

»Ach so, ja, von Ehrenfeld,« sagte Marianne; »ja, gleich, vorher muss ich dir aber noch sagen, was der Direktor des Gymnasiums über mich gesagt hat: »Niemand versteht wie Fräulein Merten, die Schüler zu überlegter Pflichterfüllung zu erziehen.« Emma, denke, was das bedeutet! Ich bin kein akademisch gebildeter Lehrer, ich habe mein bischen Wissen allein aufgesammelt, aber ich kann's den Jungen beibringen, das ist's ...«

»Du bist wohl sehr stolz auf die Marianne?« lächelte Emma wieder.

»Ach, du meinst, ich prahle,« erwiderte Marianne, »nein, ich sage nur die Wahrheit, und warum soll ich es nicht sagen? Dumm ist, wer sich nicht geltend macht.«

»Aber Herr Ehrenfeld,« erinnerte Emma.

»Jawohl, Herr Ehrenfeld,« wiederholte Marianne, »ich will ihm nicht Nein sagen, denn ich kenne ihn nicht ...«

»Nun, das ist schon etwas,« meinte Emma; »ich glaubte, Du würdest dem braven, wenn auch etwas spiessbürgerlichen Herrn rundweg einen Korb geben.«

»O nein. Warum denn?« fragte Marianne, »er ist ein sehr ehrenwerter Mann, und warum sollte ich nicht heiraten? Da so viele Menschen es thun, wird es ja doch wohl das Natürliche sein ... und gar so schrecklich ist es gewiss auch nicht ...«

»Durchaus nicht,« fiel Emma ein, »aber du nimmst mir die Sache fast ein wenig zu kühl; es ist doch etwas ganz Besonderes um's Heiraten. Man muss sich dazu lieb haben.« – Sie sah dabei prüfend auf Mariannens volle Gestalt und fragte sich: hat dieses kräftige, gesunde Mädchen mit seinen nahezu dreissig Jahren wirklich gar keine Ahnung von dem, was Liebe ist?

Aber Marianne lachte ganz unbefangen zu Emma herüber: »Schon gut,« sagte sie, »ich weiss auch, dass der Klapperstorch eine schöne Fabel ist, aber Ehrenfeld ist mir nicht unangenehm, ich will ihn kennen lernen. Scheint mir das Leben mit ihm schöner als das mit meinen Jungens, die ich übrigens wohl beibehalten werde, nun, so sage ich Ja.«

Emma sah sie ein wenig verwundert an: »Marianne, du bist mir fast zu weise,« sagte sie dann.

»Geh',« entgegnete Marianne, »Schwärmerei wirst du doch nicht von mir erwarten! Und nun komm', und lass' uns unseren David Strauss weiter lesen; in diesen Dingen bist du ja mein Mentor und dein Haus mein Griechenland.«

Damit vertieften die Freundinnen sich in den Straussschen Hutten, und Herr Ehrenfeld war wieder vergessen.

*

Marianne Merten hatte darein gewilligt, Herrn Ehrenfeld's Werbung als Werbung gelten zu lassen und ihn als nichtoffiziellen Bräutigam im Hause ihres Vaters zu sehen. Jetzt sass der Freier neben seiner Braut in spe in dem kleinen Wohnzimmer. Beide sprachen ohne Scheu und Zwang miteinander.

»Wertes Fräulein,« sagte der Kaufmann, »ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, welch tiefen Eindruck Sie und Ihr emsiges Wirken seit längerer Zeit auf mich gemacht haben. Seit zehn Jahren kenne ich Sie auf Ihrem Posten, den Sie stets mit rastlosem Fleiss und mit einer Energie ausgefüllt haben, welche wohl ungewöhnlich genannt werden dürfte ... Gestatten Sie mir, zu fragen, auf welche Weise Sie sich diese Kenntnisse, diese bei Damen so ungewöhnlichen Kenntnisse angeeignet haben?«

Die lange Rede kam ruhig, flüssig und ohne Übertreibung heraus. Marianne freute sich an dem Lobe, das ihr gezollt wurde und antwortete: »Ich habe von meinem dreizehnten Jahre an Stunden gegeben und für mich verdient; Latein habe ich allein gelernt, mich im Französischen vervollkommnet; Mathematik und Geschichte geben bei mir zwei Hilfslehrer, so dass ich auf diese Art sehr gut durchkomme.«

»Sie haben von Ihrem dreizehnten Jahre an für sich verdient?« fragte Ehrenfeld wieder. »Das ist schön, da sind Sie ja auch im stande, den Wert der Arbeit und des Geldes, den so viele Frauen nicht kennen, ganz zu schätzen. Sie haben ein reiches Leben hinter sich, Fräulein Marianne.«

»Jawohl,« antwortete Marianne, »ich habe nie gefaulenzt, aber ich habe allerdings auch niemals nur auf das Geldverdienen gesehen, sondern mein Geld stets dazu benutzt, mich weiter zu bilden, mir einen Genuss zu kaufen. Das haben wir alle von dem Vater geerbt; der liess uns wohl einmal vergebens um ein neues Kleid bitten, aber wenn ein grosser Künstler herkam, hat er uns stets in das Theater geschickt. »Das muss man sehen,« sagte er dann, und ich denke ebenso.«

»Gewiss, mein Fräulein,« erwiderte Ehrenfeld, »den Besuch eines guten Konzerts, einer Theatervorstellung ist man schon seiner gesellschaftlichen Stellung schuldig ... Auch ich bin ein Freund von geistigen Genüssen ...« die Rede stockte hier. Herr Ehrenfeld wollte augenscheinlich etwas sagen, was er eben nicht sagen wollte. So schwieg er, und es war Marianne, welche begann.

»Und wie sind Sie zu Ihrer heutigen geachteten Stellung gekommen, Herr Ehrenfeld?«

»Ach,« lächelte der Angeredete, »ich habe ein Jahr später, als Sie, angefangen, zu verdienen. Mit vierzehn Jahren kam ich in die Welt, in welcher ich mich schlecht und recht durchgeschlagen habe, bis meinem ehrlichen Streben der Lohn wurde, der mir jetzt gestattet, Ihnen, geehrtes Fräulein, näherzutreten.«

Damit war der Gesprächsstoff vorläufig erschöpft; um die Pause bis zum Abendessen auszufüllen, griff Marianne zu Becker's Weltgeschichte und versuchte, ihrem Freier Begeisterung für den siebenjährigen Krieg beizubringen. Ehrenfeld hörte aufmerksam und höflich zu. – –

Für gewöhnlich kam Herr Ehrenfeld erst nach dem Abendessen. Marianne fand aber bald, dass auch dieses schon lang genug sei. Nach acht Tagen wusste sie bereits genau, wie die Wohnung ihres Zukünftigen aussah, wie er zu essen, zu trinken und zu leben gewohnt sei; denn auf diese Punkte kam er gerne und häufig zurück.

Wirkliches Interesse flössten Marianne aber nur Ehrenfeld's Reiseschilderungen ein, und an Abenden, wo er von seinem Aufenthalt in England und Dänemark sprach, Land und Leute in etwas umständlicher aber wirklich kenntnisreicher Weise schilderte, blieb Marianne gern zu Hause und spielte die »holde Braut«, wie sie lachend sagte. Gemeinhin aber, wenn nur die Kleinigkeiten des täglichen Lebens verhandelt wurden, wenn man »nichts lernen« konnte, dann brannte Marianne der Boden unter den Füssen, und es zog sie mit aller Macht zu Emma und dem Strauss'schen Hutten hinüber.

Sie sprach das an einem Sonntag Vormittag zu ihrer Freundin aus.

»Ich glaube«, erwiderte Emma, »das darf dich nicht beirren; ein solches offizielles Sichkennenlernen kann den Geistreichsten in Verlegenheit bringen, und geistreich ist der treffliche Ehrenfeld nicht. – Ich glaube aber, dass du in der Ehe wohl im stande wärest, mit ihm zusammen geistige Interessen zu pflegen. Schlage ihm doch einmal vor, mit dir Englisch zu lesen, er kann es ja so gut, und es wird ihn freuen.« –

Am nächsten Tage kam Marianne strahlend zu Emma hinüber: »Du hattest Recht,« sagte sie, »wir haben gestern einen wunderhübschen Abend gehabt; wir lasen Richard III., und Ehrenfeld ist ein ganz ausgezeichneter Lehrer, ich habe sehr viel gelernt.«

Auch Herr Ehrenfeld war über diese Wendung sehr erfreut; sie erlaubte ihm, Marianne von einer Seite zu fassen, die ihm dauernden Halt versprach; er konnte ihr auf ihrem eigenen Gebiete imponieren, und mit bescheidenem Stolze stellte er ihr sein gediegenes Sprachwissen zur Verfügung.

So kam es, dass Marianne, ohne sich weiter darüber auszusprechen, ihn immer mehr und mehr wie einen Bräutigam behandelte: ohne Zärtlichkeit zwar, aber mit achtungsvoller Freundschaft, und als Herr Ehrenfeld, der diesen Stimmungswechsel wohl bemerkte, sie eines Abends bat, einen Brillantring an ihre Hand stecken zu dürfen, da überliess Marianne ihm ihre kräftige, runde Hand ohne Widerstreben.

Verlobt wie unverlobt, in ihrer Schulstube blieb sie dieselbe, und im Hause war sie die gleiche. – Da wurden nach wie vor alle Aufgaben gewissenhaft erledigt, Rebellen gebändigt, Frechlinge abgetrumpft, Verben konjugiert, Texte retrovertiert und Geschwister wie Pensionäre mütterlich versorgt.

An einem stürmischen Winterabend, wo die Arbeitswogen im Schulzimmer ungewöhnlich hoch gegangen waren und selbst Marianne sich am Ende etwas angegriffen fühlte, kam der alte Tischlermeister zu ihr herein und sagte: »Ehrenfeld kommt heute Abend nicht, aber Niemann singt den Lohengrin, da kannst du ja hingehen, hier ist das Billet.« Damit ging er, ohne Antwort abzuwarten, hinaus.

Marianne kannte diese brüske Grossmut ihres Vaters; sie war allerdings etwas müde, aber um eine schöne Musik von einem grossen Künstler vortragen zu hören, dazu hatte sie noch die Kräfte. – Sie eilte also, da es schon spät war, rasch nach oben, bestellte das Haus, ass selbst einen Bissen und war noch zur Zeit im Theater. – Von vielen gekannt, grüsste sie freundlich und manchmal auch herablassend nach allen Seiten, setzte sich auf ihren Platz und begann aufmerksam zuzuhören.

Sie kannte die Oper seit lange; heute, merkte sie zu ihrem Staunen, war es ihr etwas ganz Neues; heute schmeichelte ihr nicht nur der Wohllaut der Musik, sondern es fesselten sie die Vorgänge auf der Bühne, die Menschen und Charaktere.

»Wunderbar,« dachte sie, »diese Elsa, wie ihr da dieser Ritter und Retter vom Himmel fällt, und sie muss ihn annehmen. Das hätte mir nicht gefallen, und dann gleich heiraten. Mein Gott, geht das rasch. Heiraten ist doch kein Kinderspiel, wie lange habe ich mich mit Ehrenfeld besonnen ...«

Damit waren ihre Gedanken nun aber erst recht in's Rollen gekommen. Sie verglich ihren Freier mit der jungen Heldengestalt da auf der Bühne: »Würde sie dem Ritter Lohengrin auch erst ein langes, ehrfürchtiges Werben auferlegt haben? Würde sie den erst haben kennen lernen wollen? Würde sie mit dem um Gesprächsstoff verlegen gewesen sein? Es überlief sie heiss. – Sie folgte nicht mehr den Vorgängen auf der Bühne, sie folgte nur ihren Gedanken, die sich mit unheimlicher Schnelligkeit abzuwickeln begannen.

»Würde ich einen jungen, schönen Lohengrin haben warten lassen?« wiederholte sie sich. Und antwortete sich gleich darauf ärgerlich: »Wahrscheinlich nicht, und hätte damit eine grosse Dummheit begangen – die Hauptsache ist sich verstehen und kennen lernen ...« Und sie sah wieder auf die Scene. Aber um ihre unbefangene Aufmerksamkeit war es geschehen: von der Bühne war ein Funken Leidenschaft zu ihr hinübergesprüht, der sass nun fest und brannte. So sah sie sich an Elsa's Stelle; sie fühlte, liebte mit, war Weib, ganz heisses Sehnen; jetzt wusste sie plötzlich, was Herzklopfen, was Liebe sei; das war's, was Emma meinte: dieses heisse Gefühl, dieses Aufjubeln, wenn die Zwei dort sich trafen, sich näher kamen, sich berührten ... Mit ganz vergeisterten Augen sass Marianne da, jedes Wort, jeder Ton waren ihr neue Offenbarung; die Hände zusammengepresst, unbeweglich, wie gebannt, hörte sie die grosse Scene: »Wir sind allein, zum erstenmal allein, seit wir uns sah'n, Elsa, geliebtes Weib.«

Dann stand sie auf, verliess das Theater, ging, zu Hause angelangt, gleich auf ihr Zimmer und schrieb dort:

Lieber Herr Ehrenfeld!

Ich achte Sie sehr, aber ich liebe Sie nicht und werde Sie nie lieben. Das ist mir eben klar geworden. Verzeihen Sie mir, ich kann nicht anders. –

Sie legte den Brillantring zu dem Brief und schickte ihn noch am selben Abend hinüber. – Herr Ehrenfeld war noch nicht zu Hause. –

Marianne blieb die ganze Nacht auf; gegen Morgen schlief sie ein; am nächsten Tag war sie ganz ruhig. Sie nahm die Sache heiter und hatte bald ihr Gleichgewicht völlig wieder. Ihr Vater hatte ihren Entschluss schweigend geehrt, Julie war sehr enttäuscht gewesen; der abgewiesene Freier hat die Sache niemals begriffen. Auf Emma's Fragen jedoch pflegte Marianne zu antworten: »So lange ich nicht wusste, was Liebe sei, konnte ich Ehrenfeld ruhig heiraten; als ich es erfuhr, da konnte ich's nicht mehr.«

»Und diese Offenbarung kam dir beim Lohengrin?« fragte Emma.

»Jawohl, beim Lohengrin.«

So endete Fräulein Marianne Mertens Verlobung.


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