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I. Reisebilder.

Lyon.

Danziger Zeitung. 12. Juni 1890.

Ein nebliger Morgen deckte Lyon, als der Zug sich der grossen Stadt näherte; man wusste nicht genau, war es Hitze, war es Flussdampf, jedenfalls erinnerte die dicke Luft lebhaft an London, wie auch die hohen Fabrikschornsteine und einförmigen Häuserreihen. In dieser grauen Oede erfrischten aber die jungen, hellgrünen Platanen, die sich in vierreihigen Alleen durch alle breiten Strassen der Stadt ziehen. Es ist, als riefen sie: so freut euch doch! Das Gleiche scheint der rasche Fluss zu rauschen, die Rhone, die ihre stolze, blaue Schleppe durch die Stadt fegt; das Gleiche lehrt die hüpfende Saône – und dennoch, Lyon macht keinen heiteren Eindruck. Man fragt sich vergebens, warum denn nicht: die Stadt ist reich, in den wohlangelegten Strassen stehen stattliche Häuser, das Leben erreicht oft die Stärke des Pariser Verkehrs; keine Bettler belästigen, das Personal der Pferdebahnen und Omnibusse ist gut gehalten, die Läden sind reich ausgestattet, man bietet nicht nur das Notwendige, sondern auch das Überflüssige. Ein schöner Park, von grossen Verhältnissen, beendigt den Nordwesten der Stadt, weite Plätze mit öffentlichen Gärten, mit sehr schön gepflegten Blumenanlagen in freudigen Farben finden sich überall. Die Zahl der öffentlichen Gebäude ist gross, ihre Art deutet auf blühenden Handel, ein gesund und kräftig entwickeltes Städtewesen hin; die schattigen Quais laden zum Nichtsthun ein, die beiden Flüsse sollten Leben und Heiterkeit verbreiten, so rasch und stark eilen sie meerabwärts. Dazu ein fruchtbares Hügelland in nächster Nähe, nach Süden und Osten; ansteigend nach Westen, die freien, luftigen Höhen des Lyonnais, des Mont d'Or, und im fernsten Osten wiederum die Alpen bis zum Mont Blanc. Wenn sich darüber ein blauer Himmel ausspannt, über den stolze, aufgetürmte Wolken in schneeweisser Schönheit ruhig dahinsegeln – und solch blauer Himmel ist hier keine Seltenheit – denkt man, es müsse die ganze grosse Stadt anfangen zu lachen. Aber seltsam – sie lacht nicht, sie lächelt höchstens; gleich aber nimmt sie wieder ihre ernste Miene an. Sie ist nicht traurig – dazu hat sie viel zu viel zu thun, und das ist wohl ein Grund, um ihr gehaltenes Wesen zu erklären: in Lyon wird ungemein viel gearbeitet, es ist eine grosse Geschäftsstadt voll positiver Interessen, wo jeder, der angesehen sein will, zuerst dem lieben Brod nachlaufen muss; es ist dazu eine alte Geschäftsstadt. Die Hauptindustrie der Seidenfabrikation stammt aus dem 15. Jahrhundert. Es haben sich demgemäss bestimmte, hundertjährige Gewohnheiten gebildet bei Arbeitgebern wie bei Arbeitnehmern. Die technischen Hilfsmittel haben sich vervollkommnet, die Arbeitertugenden aber sind dieselben geblieben, und auch der Kaufmann hat in der Ehrlichkeit den Weg entdeckt, welcher am richtigsten zum Ziele führt: Gerechtigkeit seinerseits, Fleiss und Stetigkeit bei den über den Webstuhl gebückten Arbeitern, kurz, ein gewisser solider Charakter, der mit gegebenen Verhältnissen rechnet und keinen Hirngespinnsten nachläuft. Ein Umstand ist noch bemerkenswert: bis vor 15, 20 Jahren war die Seidenindustrie noch Hausindustrie; die ganze Familie war um den Webstuhl beschäftigt, die grössten Unternehmer waren im Besitz von höchstens fünf Webstühlen. Das ist jetzt geändert, die Anlagen sind gewachsen, sind meilenweit ins Land verlegt, und zugleich ist aus der Haus- eine Fabrikindustrie geworden. Die Thatsache aber, dass der Seidenarbeiter Jahrhunderte lang in seinen eigenen Mauern thätig gewesen ist, in seinen vier Pfählen geschafft, an seinem eigenen Tisch gegessen hat, lässt sich so leicht nicht verwischen; sie giebt der Arbeiterbevölkerung Lyons jenen so bekannten republikanischen Stempel. Man entsinne sich, wie Lyon von jeher der Herd grosser Erhebungen des vierten Standes gewesen – diese Erhebungen waren stets Kinder der Not, des Hungers, zugleich aber muss sich auch ein Gefühl der Unabhängigkeit darein gemischt haben, ein Gefühl des eigenen Wertes; denn der Arbeiter im eigenen Hause empfindet sich weit weniger als bezahlte, geldproduzierende Maschine, als seine in Fabrikräumen zusammengepferchten Genossen.

Die Hauptbevölkerung Lyons hat also Charakter, hat eine gewisse Härte; – ein bezeichnender Umstand: unter den etwa 50 bedeutenden Männern, welche die Stadt hervorgebracht hat, ist nicht ein Musiker, nicht ein Dichter; man findet unter den scharfgeschnittenen, sehr ausdrucksvollen Köpfen einen Philosophen und einige Prosa-Schriftsteller, die übrigen und bei weitem die grössten, darunter Ampère, sind Architekten, Maler, Gelehrte, Chemiker, Naturhistoriker, Aerzte, kurz solche, die beobachtet haben, den Erscheinungen zu Leibe gegangen sind, Thatsachen zerlegt, Gesetze gesucht oder Steine nach erkannten Gesetzen zusammengefügt haben. – Lyon hat auch seine bedeutenden Frauen, deren Büsten zwischen denen der Männer stehen; die schöne und geistvolle Madame Recamier stammt aus Lyon, und die Dichtkunst der Stadt wird ausschliesslich von zwei Frauen vertreten, eine, genannt la belle Cordière, aus dem 16ten Jahrhundert, die andere, eine halbe Deutsche, ein stiller, feiner Kopf, wird noch heute gelesen. Angesichts dieser Thatsache kann man sich fragen: Haben die Frauen Lyons ausschliesslich poetische Begabung gehabt oder haben sich andere Gaben nicht Bahn brechen können, da sie alle eine Schulung voraussetzen, welche Frauen nie als selbstverständlich geboten worden ist?

Auffallend ist der römische Typus, der uns in vielen der Büsten entgegentritt. Auf den Strassen bemerkt man gleichfalls viel scharfe Profile, mehr dunkles als blondes Haar, im Ganzen einen etwas schweren Menschenschlag. Viel dunkle Stoffe werden getragen, und wenn man sich erlauben darf, flüchtige Eindrücke zu verallgemeinern, so dürften unter den Frauen mittelgrosse Gestalten, von ruhigen Manieren, mit welligem, schwarzen Haar und schwarzen, ernsten Augen typisch sein. Die Gesichter haben meist einen beschäftigten Ausdruck, und sicherlich, der Ernst der ganzen Stadt erklärt sich nicht nur aus ihrer strammen Arbeit. Man faullenzt weder in Paris, noch in London, noch in Berlin, noch in Leipzig; all diese Städte haben aber ihre Stunden ausgelassener Heiterkeit, wirklichen Sichgehenlassens. Auch in Lyon sieht der Abend die Bevölkerung, und zwar die anständige, auf der Strasse, wo man sich ergeht, ein Konzert hört, einen Schoppen Bier trinkt, aber alles sehr ernsthaft, sehr solide: die Leute scheinen in ihrer tiefsten Seele noch etwas anderes zu haben, was sie dauernd beschäftigt, ihnen zu denken giebt.

Und da Lyon eine alte Stadt ist, hat man nur nötig, mit etwas Geduld die Steine um das Geheimnis zu befragen, denn sie wissen viel zu erzählen. Das alte Lyon, eine römische Ansiedlung, liegt oben auf einem Hügel an der Saône und auch an dem Hügel herunter, in engen, krummen Strassen, die aber stets von Gärten und Anlagen unterbrochen sind. In diesen Anlagen und Gärten stehen die schönsten, alten Bäume, wachsen sogar schmachtende Akazien und Geisblatt mit roten und gelben Blüten, die gar zu gerne lustig wären. Am Fuss dieses Hügels steht eine alte, wetterschwarze Kirche gotischen Stils mit dreifachem Portal und reichem Schmuck von Heiligen, Engeln, heiligen Geschichten, Wasserspeiern, Reliefs, Bildsäulen: in den Bogen des linken Portals sind alle diese kleinen Heiligen kopflos, sie heben ihre Steinhände bittend auf, das ist alles. Auch die grossen Statuen, welche am Sockel der Kirche freistanden, sind verstümmelt, herabgeworfen, verschwunden. Es hat sich also in alter Zeit eine grosse Welle religiöser Wut über diese gotische Kirche ergossen. Das Bilderstürzen ist stets Lieblingsbeschäftigung herrschender Parteien gewesen, doch findet man die Spuren solch kindischer Barbarei in diesem Maße nicht einmal in Notre Dame zu Paris. In diesem besonderen Falle sind es nun einmal die Protestanten Lyons, welche zur Zeit der Religionskriege, im 16. Jahrhundert, ihre Wut an den steinernen Heiligen ausliessen. Dass die Katholiken ihnen aber nichts nachgeben, lehrt ein Spaziergang auf die Höhe des alten Lyon. Man nennt diesen Stadtteil »la Fourvière«. Alte, römische Mauern finden sich noch, verstümmelte Statuen, Scherben von langhalsigen Gefässen, etwas altes Gewaffen, sogar einige alte Kochtöpfe, woraus die Gallier Krautsuppe assen, ehe sie auf die Legionen einhieben, ganz lustige, alte Kochtöpfe mit geschweiften Beinchen und behäbigem Bauch. Aber man denke nur nicht, dass es in la Fourvière lustig zugeht, im Gegenteil; nennt doch der gute Katholik es den »heiligen« Berg und mit Recht. Es ist bedeckt von langen Strassen mit langen, stillen Mauern aus hellem Stein, und in diesen Strassen stehen Haus an Haus lauter fromme Stiftungen, Hospitäler, Erziehungsinstitute, Waisenhäuser. Es wimmelt von den schwarzen Röcken der Brüderschaften, überall blinken biblische Namen in goldenen Lettern: Zum ewigen Ruhme Jesu und Mariä. Zum ewigen Gedenken unsrer lieben Frau. Maria beschütze uns! In diesem Zeichen sollst du siegen! und ähnliches. Dann tragen wiederum die hohen, geschlossenen Portale Inschriften wie: das Kreuzeswerk, die Damen von Sankt Paul – die Brüder Jesu. Andererseits fehlen auch die Händler nicht, welche, wie hier der Ausdruck geht, »den lieben Gott« feilhalten. Denn auf dem Gipfel liegen Kirche und Kapelle von la Fourvière, letztere alt und zierlich, erstere modern und absichtlich in massiger, cyklopenhafter Bauart aufgeführt. Diese beiden Gebäude beherrschen die Stadt, allüberall drängen sie sich dem Blick auf, sie lassen nicht los, man entgeht ihnen nicht, und ich glaube, darin liegt eine symbolische Bedeutung. Man ist noch heute in Lyon fanatisch katholisch, während sich die protestantische Gesellschaft in weit höherem Grade mit der modernen Wissenschaft befreundet und ausgesöhnt hat. Bis zu welchem Grade der lebendige Glaube der Katholiken hier noch geht, beweist die Geschichte der neuen Kirche von Fourvière. Bei Ausbruch des letzten Krieges that die katholische Bürgerschaft Lyons das Gelübde, es sollte, wenn die Feinde der Stadt fern blieben, eine grosse Kirche auf dem heiligen Berg errichtet werden. Die Deutschen kamen nicht, und heute ragen die goldenen Spitzen der zwei Kirchtürme hoch in die Luft. Das ganze Gebäude sieht aus wie der verkörperte Trotz; aus einem spröden, glatten, weiss und schwarz gekörnten Steine aufgeführt, mit schweren Säulen, roh gehauenem Bildwerk, und seltsamen Tieren aus der Offenbarung. Ein so lebendiger Glaube ist heute entschieden Ausnahme. Fourvière spielt aber auch im Leben der Katholiken Lyons noch eine wirkliche Rolle. An Tagen wichtiger Entscheidungen wallfahrtet man hinaus, in der kleinen Kapelle hören die Wachslichte nicht auf zu brennen, hängen zu Hunderten die Wachsfigürchen, die farbigen Darstellungen wunderbarer Rettungen und Genesungen, und der Geruch des Weihrauchs wirkt betäubend. Wer nun aber nicht hinaufsteigt, um unserer lieben Frau eine Kerze anzuzünden, dem geht dort doch immerhin ein Licht auf über den etwas weltabgewandten Charakter der Stadt, über ihren praktischen Ernst, ihre rastlose Thätigkeit, die sich so seltsam mit einer himmelanstrebenden Schwärmerei vereint.


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