Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Danzig.

Nationalzeitung. 3. Juli 1892.

Danzig liegt etwa neun Stunden hinter Berlin, und zwar neun Stunden Schnellzug. Das bedeutet für viele Menschen etwa soviel, wie wenn im Märchen erzählt wird, das Schlaraffenland läge drei Meilen hinter Weihnachten: Danzig ist vielen nicht weniger unerreichbar als das Schlaraffenland; ja manchem scheint es auch des Erreichens gar nicht wert. Denn allerdings, was kann es neun Stunden hinter Berlin noch Sehenswertes geben? Wer wird sich ungenötigt aufsetzen, die lange, rasselnde Eisenbahnfahrt unternehmen, um sich Gegenden anzusehen von dem Reize der Tuchler Heide? Ein plattes Land mit dürftigem Kiefernwuchs, bedeckt von heidegrauem Moos, in dem höchstens ein paar Hasen ihre Sprünge machen; das Land von Konitz, Flatow und Deutsch-Krone, wo sich manche Kreisstädte noch nicht im Besitz einer Buchhandlung, einer Zeitung befinden; das Land der Weichsel, die man in Berlin nur durch ihre häufigen Überschwemmungen und die Weichselkirschen kennt.

Liegt nun schon dem Mittel- und Süddeutschen Danzig mit seiner ackerbauenden Provinz Westpreussen fern – und wie fern, kann man daraus entnehmen, dass selbst Bahnbeamte in der Friedrichstrasse sich über die Entfernung zwischen Danzig und Dirschau, der Umsteigestation, nicht klar sind, und dass »höhere Töchter« aus der Rheinprovinz ihre Briefe adressieren: Danzig, Ost-Preussen – so wird dieses ganze Stück Preussen dem Ausländer erst recht schattenhaft. Und unter allen Ausländern am meisten den Franzosen. Er müsste denn gerade als französischer Konsul oder Kaufmann in der alten Weichselstadt gelebt haben – sonst bleiben ihm Danzig, Posen und Königsberg blosse Worte und die dazu gehörigen Landstriche leere Kartenflecke. Der einzige Eindruck, den diese Namen für gewöhnlich in Frankreich erwecken, ist der eines rohen und kalten Gebiets; kalt, weil die Namen Danzig und Königsberg in Frankreich unzertrennlich sind von dem russischen Feldzug 1812, der Erinnerung an die Beresina, Frost, Hunger und Verluste; roh – weil eben Danzig durch künstlerische oder litterarische Schöpfungen nie in Frankreich hat von sich reden machen, und die Achtung vor Königsberg als Vaterstadt Kants naturgemäss nur einen kleinen Kreis beherrscht. Was endlich Schopenhauer betrifft, der seit 1870 eine Gemeinde in Frankreich gefunden hat, so beschränkt man sich eben auf den Philosophen selbst und fragt nicht viel danach, ob die Mutter eine Danzigerin war. Dies zu betonen, bleibt dem Lokalpatriotismus vorbehalten.

Wer nun selbst seine Heimat in den östlichen Provinzen hat, wer weiss, welche angestrengte Kulturarbeit hier seit dem 12. Jahrhundert ihre Spuren hinterlassen hat, wer jeden Fussbreit des alten Danzig mit Erinnerungen bevölkern kann, dem kommt oft ein Lächeln an, wenn alles, was ihm von Kindheit an geläufig, Anderen nur ein Schatten ist. Der Eindruck verstärkt sich noch, wenn nach langem Aufenthalt im Auslande ihn sein Leben in diese Provinzen zurückführt: er lebt dann eine doppelte Existenz, die eine für sich, mit dem Gefühl der greifbaren Wirklichkeit seiner Umgebung, die andere im Geiste mit den fernen Freunden, denen er dies schöne Land vor Augen rücken möchte: es ist ein eigentümliches Gefühl, in einem Lande zu leben, dessen Dasein von einer Menge Menschen gänzlich übersehen wird.

Vor allem, wenn es so wenig verdient, übersehen zu werden: Danzig mit seiner Umgebung gehört unstreitig zu den bevorzugtesten Gegenden Deutschlands. Die Stadt ist alt, und das macht ihre Schönheit, sie war reich, und das macht ihre Grösse und beide, Grösse und Schönheit, bestehen heute noch in herrlichen, alten Bauwerken. – Ein Festungswall schnürt sie allerdings heute noch ein und verhindert ihre moderne Ausbreitung, schon hat ihn aber der wachsende Verkehr durchbrochen und neben den alten Stadtthoren neue Durchgänge erfordert, auch kommt die Zeit immer näher, wo die Wälle fallen werden, heute aber stehen sie noch da mit ihren hohen, grünen Hängen, dem friedlich sumpfenden Stadtgraben, auf dem die Händler ihre Hölzer lagern lassen; die Stadt überragend recken sich zwei kecke, starke Forts, der Bischofs- und der Hagelsberg in die blaue Luft; zwischen beiden erheben sich wieder Wallungen mit Pulverhäusern, Weissdorn- und Fliederhecken, einsamen Plantagen, Kirchhöfen und verlorenen Posten, kurz eine sehr hübsche, anmutige, aber nicht ganz sichere Gegend, von wo aus man die ferne See am Horizonte erblickt.

Denn Danzig ist in erster Linie Seestadt, war Seestadt, lange ehe es Festung war. Der Ausfluss der Weichsel in die Ostsee, die natürliche Verbindung mit einem grossen Hinterlande sind geradezu die Entstehungsbedingungen Danzigs gewesen: aus einem Fischerdorf wurde es zu einer grossen See- und Handelsstadt. Eine See- und Handelsstadt wie andere Seestädte: ihr Schiffsverkehr bildet einen Stand kräftiger Männer, wetterharter Matrosen, Schiffsherren und Schiffslader, an die sich, wie auch anderswo, eine lose, händelsüchtige Bevölkerung anschloss, Taugenichtse aus aller Herren Länder, die bis zum heutigen Tage mit dem Messer rascher bei der Hand sind als nötig und unter dem Namen »Danziger Bowken«, kenntlich an einem schwarzen Heckerhut und dem schwingenden Gang der Seeleute, sich keines sehr guten Rufs erfreuen. – Dazu die leitenden Köpfe und leitenden Kapitalien, vertreten durch die Grosskaufleute des Getreide- und Holzhandels. Sich unter dem Schutz der Geldsäcke und der Stadtmauern geborgen fühlend, entwickelte sich dann ein ansehnliches Kunsthandwerk und Gewerbe; auch Kunst und Wissenschaft wurden gepflegt, und zur Zeit der Renaissance, die für diese nördlichen Gegenden erst mit dem Ende des 16. Jahrhunderts blühte, entfaltet sich die Stadt unter der Leitung ihrer reichen und gebildeten Patrizier in einer üppigen Pracht von Baulichkeiten. Es sind diese Gebäude in holländischem Renaissancestil, die heute Danzig zu einer der schönsten, altdeutschen Städte machen. Zwar die Hauptkirche, Sankt Marien, ist noch ganz im nordisch-gotischen Stil, ein grosses Kirchenschiff aus braunrotem Backstein, ohne äusseren Schmuck, im Inneren aber zur Andacht stimmend durch seine herrlichen Wölbungen und bunten Glasfenster, seine alten, mottenzerfressenen Gewerks- und Geschlechtsbanner, eine Unzahl Grabkapellen und Steinplatten, eine künstliche Uhr, mit der üblichen Sage vom geblendeten Meister, und zwei Orgeln, die zu den besten gehören. Man zeigt auch ein asketisch dürres Gemälde von Hans Memmling, ein jüngstes Gericht, voll naiver Frömmigkeit und klappernder Gebeine, daneben einen herrlichen, messinggetriebenen Taufstein aus der Zeit der Renaissance, mit seinen vollen Gestalten das rechte Gegenstück zu dem dürren Memmling.

Übrigens ist Sankt Marien, auch die Pfarrkirche genannt, einer der wenigen protestantischen Dome Deutschlands. Und es ist bezeichnend für Danzigs freies Städtewesen, dass es sich in seiner Mehrheit der Reformation von Anfang an zugewendet und ihrem Kultus seine Hauptkirche erobert hat. In mehr als einem Sinne sind übrigens die alten Danziger »Protestanten« gewesen: Sie haben das Leben lieb gehabt und ebenso die guten Dinge dieses Lebens, und sie haben fröhlich gelebt und etwas daraufgehen lassen. So hat z. B. die Danziger Kaufmannschaft sich ein Denkmal gesetzt in dem »Artushof«, der eigentlichen Börse: ein stattliches Gebäude aus grauem Sandstein, trotz seiner drei grossen, lichten Spitzbogenfenster in der Front, ein Bauwerk der Renaissance; es ist daher auch innen hell, und die Wände zieren in kecker, lebendiger Behandlung Szenen aus der griechischen Mythologie, die der damaligen Welt so bekannt und wirklich war. Und als Protest gegen den asketischen Memmling füllt hier die halbe Wand ein »Jüngstes Gericht« im Stil von Rubens oder Vandyck, ein üppiges Bild mit einer schönen, gliederprächtigen Sünde in der Mitte und einer Zahl kleiner und grosser Bosheiten gegen die Geistlichkeit und einen hohen Rat. – Vor der Börse ist eine Freitreppe, die sich nach rechts durch ähnliche Freitreppen vor stattlichen Privathäusern verlängert und einen Blick auf den würdigen, von schönen Bauten umgebenen Marktplatz bietet. Durch seinen Bau, wie seine Lage ist der Artushof von jeher, wenn es galt, Fürstlichkeiten aufzunehmen, städtischer Empfangssaal gewesen, und wer hier oben stand und konnte sich sagen: »Dies alles ist mir unterthänig«, muss einen stolzen Augenblick gehabt haben.

»Stolz« ist überhaupt ein Ausdruck, der für diesen Teil Danzig's passt. Stolz ist auch das Rathaus, in dessen Schatten die Börse steht, stolz durch seine doppelte Freitreppe, deren Geländerlast zwei wilde Männer keuchend tragen, stolz durch seine schönen, gewölbten Sitzungssäle, seine kostbaren Tapeten, Gemälde, Möbel und verzierten Kamine, und vor allem seinen herrlichen, pfeilgerade aufstrebenden Turm. Dieser Turm mit seinen sich mehrmals verjüngenden Kuppeln, seiner Vergoldung, seinem schimmernden Fahnenträger, seiner grossen Uhr und seinem ernsten Glockenspiel ist immer schön, am herrlichsten aber bei Mondlicht, wo er so zauberhaft leicht dasteht, wie ein Stück Märchen, trotz seiner Jahre und Erinnerungen.

Zu solchen Glanzpunkten und Prunkdenkmälern hat es Danzig unter seinen Patriziern gebracht, und wenn Deutschland will, kann es darauf stolz sein; nur darf man eines nicht übersehen: es handelt sich hier nicht um ganz reines Deutschtum, sondern um eine starke Mischung mit Slawentum. Und hierin liegt Danzigs Originalität als Kultur- und Handelsstadt: in seiner eigenen Bevölkerung überwiegend deutsch, stand es doch in den engsten Beziehungen zum Königreich Polen. Die Weichsel war Danzigs Lebensader, und dem Danziger Kaufherrn war es gleichgiltig, wo dieselbe auf preussisches Gebiet übertrat. Ja mehr, vorausgesetzt, dass man ihn in seinem Gebiet, in seinem Gemeinwesen schalten und walten liess, vorausgesetzt, dass ihm Niemand in seinen Staat, seinen Handel und seine Glaubenssachen hineinredete, begab er sich mit seiner Stadt herzlich gern auch in polnischen Schutz. Mit den Polen liess sich reden, handeln, zuletzt konnte man sie zwingen, denn sie waren schlechte Wirte und oft in Geldverlegenheit. Mit deutschen oder preussischen Gewalthabern hingegen war nicht gut Kirschen essen. Die Danziger wollten aber eine Städterepublik bleiben, daher von Anfang an ihre feindselige Stellung zu dem deutschen Orden, als dieser sich in Danzig festsetzen und dort regieren wollte; daher ihre Eifersucht, sich als »freie Reichsstadt unter polnischem Schutz« zu behaupten, daher später, nach der zweiten Teilung Polens, ihr Widerwille gegen das fredericianische Preussen und endlich ihr misstrauisches Abschliessen gegen preussisches Militär. Erst die Kriege von 1866 und 1870/71 haben hier eine Änderung gebracht.

Heute nun steht Danzig im Schatten, das ist nicht zu leugnen; verglichen mit ihrer grossen Vergangenheit, ist die Stadt jetzt sehr klein. – Mit den Herren vom preussischen Orden ist sie fertig geworden, als die ihr einstmals den Hafen sperren und Gesetze geben wollten; und wer durch die Burggrafenstrasse nach dem Dominikanerplatz geht und sich über den grossen, freien Raum voll rötlicher Erde wundert, der erfährt, dass hier das Schloss der Ordensritter von den empörten Danzigern der Erde gleich gemacht wurde und nur der eine alte, umbuschte Turm übrig geblieben ist. Die Ordensritter haben dann das Feld räumen müssen, und heute ist von ihnen nur noch ein Strassenname erhalten, dazu eine Wasserleitung, das Wettermännchen auf dem Rathausturm und endlich ein Sprichwort: »Das bringt den Comthur nicht um«, in dem Sinne von »das ficht mich wenig an«, auch ein Beweis von den freundlichen Gesinnungen der Danziger gegen den deutschen Orden.

Ebenso sind die Danziger mit ihren Schutzherren, den Polen, fertig geworden, denn auch diese haben manchmal versucht, die deutsche Stadt polnisch zu machen, und es ging dabei ohne blutige Köpfe nicht ab. Aber die Stanislas, Ladislas und Boleslav waren viel zu klug, um sich auf die Dauer mit den schweren Geldsäcken zu erzürnen: sie gaben lieber klein bei und liessen die steifnackigen Danziger sich selbst verwalten, wenn nur das nötige Öl auf ihre eigene Staatsmaschine gegossen wurde. Und das geschah ausgiebig. Hatten doch die polnischen Fürsten und Herren ihre festen Häuser und Absteigequartiere in Danzig, wo sie alljährlich, oder sonst so oft sie konnten und mussten, erschienen. Hatten sie solche Quartiere nicht, so fanden sie Aufnahme in den stattlichen Patrizierhäusern mit ihren hallenden Hausfluren, ihren monumentalen Treppen. Noch heute steht das Haus des Königs von Polen am Markt, und in der Heiligengeistgasse sieht man ein anderes: »Zu den drei Polen«. – Ersteres ist jetzt eine Seifenhandlung, letzteres eine Mädchenschule geworden – tempora mutantur. – Kamen nun die polnischen Herren, so brachten sie ihre slawischen Sitten und ihren sarmatischen Tross mit. Viele waren von ihrem Hause gut gestellt und verjubelten einige väterliche Äcker und Wälder, andere verzehrten hier den Erlös ihres verkauften Korns, noch andere kamen, zu borgen, und diese waren nicht am wenigsten gern gesehen.

Was von Liebesaventiuren sich bei solchen Festen abspielte, brauche ich nicht zu erwähnen; die Gelegenheit, ein blondes, deutsches Gretchen und eine schwarzäugige Teufelin polnischen Stammes um eine junge Ritterseele ringen zu lassen, ist von den Romanschreibern zu ausgiebig benutzt worden, als dass ich auch noch nötig hätte, meine Feder in Himmelblau und Rosenrot zu tauchen.

Ein dauerndes Denkmal polnischen Einflusses hat sich übrigens noch an dem Hauptthore Danzigs erhalten; es heisst das »Hohe Thor« und ist einer jener Renaissance-Prachtbauten, welche die römischen Triumphbogen wiederholen sollten. Das Hohe Thor besteht denn auch aus kunstvoll gemeisselten Sandsteinquadern; oben liegen grimmige Löwen, deren Krallen vergoldete Wetterfahnen umklammern. Rechts tritt in erhabener Steinarbeit und zum Teil vergoldet das westpreussische Wappen vor, zwei Einhörner zu beiden Seiten eines Wappenschildes. Links das Danziger Stadtwappen, zwei züngelnde Löwen, und in der Mitte, gleichsam als Hauptstück, steht das polnische Wappen: der weisse Adler mit dem Szepter und zu beiden Seiten die polnischen Engel. – Die Stadt nahm sich also ernst als »freie Reichsstadt unter polnischem Schutz«. Unter den Wappen befinden sich verschiedene lateinische Sprüche, die in kräftiger Kürze Gerechtigkeit und Weisheit als Grundlage des Staatswesens preisen, so dass dies Thor der würdige Eingang zu einer freien Stadt ist.

Ein weiteres Zeichen der Verbindung mit Polen bietet dann eine Statue des Polenkönigs August im Artushof; weit höher aber als all dies ist der Einfluss anzuschlagen, den die polnische Lebensart und der polnische Charakter durch Jahrhunderte auf den Charakter des Danzigers geübt haben: der Danziger besass natürlichen Unabhängigkeitssinn, was man auf französisch sehr trefflich »esprit frondeur« nennt, und den hat ihm das polnische Regiment eher gestärkt als geschwächt. Die kaufmännische Schulung machte ihm bürgerliche Ehre, Rechtlichkeit und Fleiss zur Pflicht, und diese deutschen Eigenschaften hat er sich trotz widersprechender, polnischer Einflüsse zu wahren verstanden. Aber ein Tropfen aus dem schäumenden Becher fröhlichen Slawentums ist auch auf ihn hinübergespritzt: die Genusssucht.

Es ist ja natürlich, dass in einer reichen Handelsstadt auch reich gelebt wird, dass man sich nichts abgehen lässt an materiellem wie geistigem Behagen. – Danzig nun hat das Leben und Lebenlassen noch ganz besonders gut verstanden, es hat in seinen besten Zeiten eine Leidenschaft, eine Vergnügungssucht entwickelt, die nicht ohne historische Grösse, aber auch nicht ohne tragische Folgen gewesen sind. Es hat einen Freudenschönheitsrausch gekannt, dem oft eine traurige Ernüchterung gefolgt ist, einen Schönheitsrausch, der die Danziger z. B. scharf von den Königsbergern trennt. Danzig hat eben ein bischen polnisch Blut in sich und kann, zu seinem eigenen Unheil vielleicht, das heute noch nicht ganz vergessen.

Es hat da eine Zeit gegeben, die fünfziger bis sechziger Jahre unseres Jahrhunderts, in denen der englische Getreidehandel ganz vorzüglich ging: jahraus, jahrein schlossen dieselben Firmen dieselben grossen Geschäfte mit denselben englischen Häusern ab. Von amerikanischer Konkurrenz noch keine Ahnung, die Frachten hoch, der Hafen voller Schiffe, die Packhöfe voller Güter. Eine fröhliche, lebenslustige und auch fähige, kaufmännische Jugend innerhalb der Stadtmauern, dort die ersten Sporen verdienend, dann hinübergeschickt nach England, um nach einigen Jahren zurückzukommen als firme Engländer, völlige Gentlemen, gewöhnt an das Behagen englischen Lebens und gesonnen, sich dies in der Heimat gleichfalls zu verschaffen. Viele derselben, Söhne angesehener Handelshäuser, untereinander befreundet, sich ziemlich zur gleichen Zeit verheiratend und ihre jungen Frauen in reiche Verhältnisse führend. Mancher, ein mehr als gewöhnlich begabter Kopf, geistreich, scharf und witzig, auch belesen und grossen Interessen zugänglich. Die französische Magistratur hat Ähnliches aufzuweisen: man denke sich den ernsten Etienne Pasquier oder Michel de Montaigne, beide Parlamentsräte, wie sie Sonette schreiben und Verse drechseln.

Gedichtet wurde auch in Danzig, und wer das Glück gehabt hat, ein Familienarchiv aus jener Zeit durchzusehen, der wird manche Nachbildung Musset'scher und Byron'scher Poesie dort gefunden haben, manches englische Gedicht, manche Parodie auf Shakespeare's bekannteste Monologe. Auch die Musik musste ihren Zauber leihen, um diese Feste feiern zu helfen; durchreisende Sänger und Künstlerinnen wurden aufs Beste empfangen; aber auch für den Hausgebrauch bat man die Muse um ihre Gunst, und wie für die Renaissance in Italien das Lied des Lorenzo Medici gilt: Quanto è bella la giovinezza – so ist manchem Danziger in seiner Erinnerung jene Glanzzeit unlöslich verknüpft mit dem »Gebt mir goldne Tageshelle« oder »Wenn Dich die Sorgen des Lebens bedrücken, Steig in die Gondel, dein Liebchen im Arm«.

Und wie verlockend war es, diesem Rat zu folgen: das Gewirr der krummen Strassen und Gassen hinter sich lassend, brauchte man nur an die lange Schiffbrücke zu gehen, da wo die Mottlau in die Weichsel mündet; dann boten sich dem Kaufherrn seine Speicher mit ihren Treppengiebeln, seine Schiffe, seine Matrosen und Arbeiter. Auf dem glatten Wasser war ein unablässiges Kommen und Gehen von Schiffen und Booten, ein Gemisch von deutsch, englisch, dänisch und polnisch ertönte, Völker und Sprachen wirrten durcheinander, und die fremden Matrosen trugen ihre Rastlosigkeit und ihr Geld aus einem der kleinen Brückenläden in den andern. Dazwischen tauchten auch wohl polnische Flösser auf in groben Leinenmänteln, mit schlichtem, schwarzem Haar. Gegen Dunkelwerden aber begann die ganze Brücke zu flimmern, die Schenken füllten sich, eine Geige tönte aus dem Lärm, das alte Krahnthor und die alte Sternwarte ragten still in die Nacht, und die schimmernde Stadt mit ihren tausend Lichtern spiegelte sich in dem glatten Wasser: das nordische Venedig!

Welcher Thor, der seine Vaterstadt so blühen und gedeihen sah, hätte sich Sorgen um die Zukunft gemacht! Es musste ja scheinen, als könne das nie anders werden, und wer sich nun gar noch im Besitz von Haus und Hof wusste, wen ein feuriges Gespann abends auf einen Landsitz führte, angelegt, wie ihn ein kleiner Fürst sich eingerichtet hätte; wen eine liebreizende Frau im Glanz der Jugend und der Mode empfing, wer liebe und geistvolle Freunde an seinem Tische sah, die auch alle so oder ähnlich lebten, dem konnte ja kaum der Gedanke ernstlich kommen, dass diese Herrlichkeit jemals ein Ende nehmen werde.

Und doch sagt Rabelais als aller Weisheit Schluss: »toutes choses se meuvent à leur fin.« – So ist es auch hier gekommen: der fröhliche Kreis ist zerrissen, und es ist eine Reihe von äusseren Schicksalsschlägen über die Stadt hereingebrochen, denen nur wenige haben widerstehen können. Der Wahlspruch Danzigs zwar lautete: nec temere, nec timide, weder verwegen, noch furchtsam; aber war man früher verwegen gewesen und hatte über die Stränge geschlagen, so liegt jetzt die Gefahr nahe, dass man sich kleinmütig in sein Schicksal ergiebt. Damit ist es ja aber nicht gethan, und es hiesse wenig im Sinn der Ahnen handeln, wollte man es sich dabei genügen lassen. – Immerhin ist das eine Frage der Völkerpsychologie, ob eine Bürgerschaft ein politisches Unglück mit mehr oder weniger Kraft und Würde trägt. Der Übergang Danzigs von der Handels- zur Garnisons- und Industriestadt ist wohl unaufhaltsam. Der Charakter ihrer Einwohner wird sich dadurch entschieden verändern. Vorläufig herrscht aber neben aller kaufmännischen Bürgertugend die Genussfreude noch immer. Von den Künsten werden Musik und Malerei ausschliesslich gepflegt. Für wissenschaftliche und litterarische Bestrebungen sind Interesse und Hilfsmittel gleich mangelhaft, und doch wird viel und Gutes gelesen; aber Jeder liest für sich, der grosse, freie Austausch fehlt, und was jeder Einzelne liest, das schiebt er, wenn es ihm unbequem ist, ruhig bei Seite: es stürmt ihm nicht Thür und Fenster ein mit der ganzen Wucht einer Zeitströmung und der öffentlichen Meinung, wie in Berlin. Hierin merkt man, wie sehr Danzig von der grossen Heerstrasse abliegt. Uninteressant ist es darum aber nicht: die Stadt als solche mit ihren schönen Bauten und alten Strassen, die übrigens alle »Gasse« heissen und zwar etwa Hundegasse, Mausegasse, Krausebohnengasse – oder gar Poggenpfuhl –, mit ihren zahlreichen Kirchtürmen, ihren Wällen und Wallpromenaden bietet ein unvergessliches Bild, wenn man sie von ferne sich abzeichnen und dann näherkommend die ehrwürdig schönen Gebäude, umgeben von grünen Bäumen, über die scharfe Walllinie ragen sieht; wenn man ihre vielen Glockenstimmen hört, hinter den Masten und Krähnen der Werft die ferne See errät und sich an all das menschliche Glück und Leid erinnert, das seit Jahrhunderten sich unter dem Schild mit den züngelnden Löwen und dem Wahlspruch: nec temere, nec timide – abspielt.


 << zurück weiter >>