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Newnham.

National-Zeitung. 12. Juli 1891.

Die englische Frauenbewegung hat ihre Siege nicht an einem Tage erfochten. Ihr langsames Werden, ihr allmähliches Wachsen lässt sich am besten an der ebenfalls langsamen, allmählichen Entwicklung von Newnham verfolgen, der ersten englischen Frauen-Universität. Newnham, 1871 gegründet, war ein Versuch. Die Zahl der Vorurteilsfreien, welche diese Gründung bewirkten, war damals noch gering. Auch in England fehlte es jenerzeit nicht an Männern und Frauen, die das Frauenstudium für unweiblich, gesundheitsschädlich und unausführbar erklärten. Die Gründer von Newnham sahen im Frauenstudium dagegen ein Mittel, die Frau nach allen Seiten hin auszubilden, ihr den vollen Wert zu geben und ihre Gesundheit eher zu festigen, als zu erschüttern.

Unter den Freunden der Sache stand obenan Miss Clough. Engländerin von Geburt, hatte sie lange genug in Amerika gelebt, um die dortigen Anschauungen von Frauenwert und Frauenbildung kennen zu lernen und auf ihre praktische Durchführbarkeit hin zu prüfen. Ehe ihre Ansichten sich aber völlig geklärt hatten, ehe ein fester Plan bei ihr fertig geworden, war sie eine reife Frau geworden. Hatte sie solange ihren Kopf und ihre Energie einer verständigen Mädchenerziehung gewidmet und teils in Liverpool, teils in Ambleside ihr Ideal einer Mädchenschule zu verwirklichen gestrebt, so suchte sie jetzt die Universität Cambridge auf. Sie war hier keine unbekannte Persönlichkeit: der Schwester des Dichters Arthur Clough öffneten sich alle Thüren. Wie natürlich, suchte Miss Clough auch die einflussreichen Mitglieder der Universität auf, die liberalen, um sie an dem Vorstoss zu beteiligen, die konservativen, um sie wenigstens zu interessieren. Nach einiger Zeit war die Gründung eines bescheidenen Kollegiums für studierende Frauen beschlossene Sache. Was den innern Charakter der Gründung betraf, so konnte es sich dabei nur um ein Internat handeln, welches nach dem Vorbilde der englischen Männer-Universitäten seinen Insassen Wohnung und Kost bot. Dass bei verständigem Lebenszuschnitt dieser Teil des Unternehmens sich selbst erhalten würde, war voraussichtlich. Die Schwierigkeiten begannen erst bei der wissenschaftlichen Seite des Unternehmens. Cambridge war eine Männerstadt; der junge Brite betrachtete sie als sein eigen, ganz so wie der junge Deutsche sein Jena oder Heidelberg. Die Hörsäle, Bibliotheken, die Universitätskapellen, Gärten, Gründe, ja die Strassen der Stadt waren seit Jahrhunderten Männergebiet, ausschliessliches, eifersüchtig bewachtes Gebiet. Es bedurfte eines grossen Takts und grosser Vorsicht, um die neuen Ideen und ihre weiblichen Vertreterinnen hier einzuführen. Man musste sich fragen: Sollten die studierenden Mädchen die bestehenden Vorlesungen besuchen, die Bibliotheken benutzen, oder sollte das neue Kollegium seine eigenen Lehrkräfte haben? Dass diese Lehrkräfte in jedem Falle Männer sein würden, war von vornherein ersichtlich. England besass damals keine Frauen, die sich systematisch auf eine Professur vorbereitet hatten. Da aber die junge Anstalt unmöglich das erforderliche Honorar aufbringen konnte, um Sondervorlesungen bei den ersten Kräften für die Mädchen zu ermöglichen, so beschloss man, die Universitätsvorlesungen gemeinsame sein zu lassen, in der Hoffnung auf die würdige Haltung der ernstgesinnten Mädchen, die gute Sitte des englischen Mannes und die Autorität der Professoren. Doch wurde eine Anstandsdame erwählt, in deren Begleitung allein die studierenden Mädchen sich auf der Universität zeigen würden.

Eine ebenso wichtige Frage war es, ob die Vorkenntnisse der Mädchen für ein Universitätsstudium genügen würden. Selbst wenn nur die gescheitesten und begabtesten Frauen Englands sich auf den ersten Aufruf hin melden würden, nur solche, die ihre Studien aus Neigung privatim weiter getrieben hatten, so konnte doch auch ihnen die nötige Schulung fehlen, umsomehr, da das Universitätsstudium keine Sache des wildwachsenden Genies, sondern der Methode ist. Und Unzulänglichkeit in dieser Hinsicht liess sich um so eher befürchten, als im Jahre 1871 die englischen Mädchenschulen bei weitem nicht das waren, was sie jetzt sind, und die treffliche Girls-Public-Day-School-Company damals noch nicht bestand. Man tappte hier also im Dunkeln und sagte sich, dass man abwarten müsse. Wie der Erfolg später zeigte, waren die Frauen zum Teil mit ihren Kenntnissen auf der Höhe des Geforderten, und wo es fehlte, scheuten die der Sache ergebenen Professoren die Mühe nicht, den Insassen des neuen Kollegiums Sondervorlesungen zu halten. Diese selbstlose Förderung der Sache durch grossdenkende Männer haben die ersten weiblichen Studenten von Newnham in warmem Andenken behalten.

Endlich musste man fragen: wo soll das Frauenstudium hinaus? Die Freunde der Sache meinten: auf das Staatsexamen, das sogenannte Tripos. Eine gründliche wissenschaftliche Bildung zu der den Frauen bisher gegebenen Herzens-Phantasie-Entwicklung gefügt, musste sie in ihrer Entwicklung in erster Linie fähiger machen, der Volksallgemeinheit zu dienen: man konnte also auf eine soziale Thätigkeit hinwirken. In zweiter Linie konnten Frauen, im Besitz des Staatsexamens, sich unabhängige Stellungen im Lehrfache erwerben, und hier sah man in ihnen die bei der Neubildung des Mädchenschulwesens unentbehrlichen Lehrerinnen und Schulvorsteherinnen. Drittens wünschte man auf diese Art Frauen zur eingehenden Beschäftigung mit Wissenschaft, Politik, Volkswirtschaft, Litteratur und Kunst heranzuziehen, um mit der Zeit ihnen in allen diesen Dingen ein selbständiges Urteilen und direktes Handeln zu verschaffen.

Bei der Feststellung der Ziele begegnete man nun aber einer unüberwindlichen Schwierigkeit: die Frauen offiziell das Staatsexamen machen zu lassen, ihnen ein amtliches Zeugnis über ihre Studienzeit und Prüfung zu geben, ihnen die akademischen Grade zu verleihen, war damals eine Unmöglichkeit. Nicht etwa, weil sich wie in Deutschland die Regierung dem Plane widersetzt hätte: die englischen Universitäten sind von dem Willen eines Ministers unabhängig. Wohl aber, weil die Erlangung der akademischen Grade den Frauen auch Ansprüche auf akademische Laufbahn, auf Professuren, Stipendien, auf Wohnung in den Männerkollegien, auf Besuch der Universitätsgärten und Gründe, auf Sitz und Stimme im Senat gegeben hätte. Für solche Neuerungen war die Zeit nicht reif. Daher beschlossen die Gründer von Newnham klug, sich mit weniger zu begnügen, als ihr Recht war: die studierenden Frauen sollten vorläufig nur geduldet sein. Ihr Ziel würde aber trotzdem das Staatsexamen bleiben, abzulegen in den Fächern, die sie gewählt. Das Studium, auf drei Jahre bemessen, sollte dem der männlichen Studenten gleichlaufen, und je nach den Umständen, in allgemeinen oder in Sonder-Vorlesungen verfolgt werden. Die Anwesenheit weiblicher Hörerinnen in den öffentlichen Vorlesungen beschloss man als Frucht eines persönlichen Abkommens mit dem betreffenden Professor zu erklären. Am Ende der Studienzeit, wo der Student sein Zeugnis mit dem Amtssiegel heimträgt, sollte die studierende Frau dann ein Schreiben erhalten, feststellend, dass sie vor dem unterzeichneten Professor dieselben Prüfungsarbeiten gelöst, wie ihre männlichen Kollegen und sie deshalb im Besitz der gleichen Kenntnisse sei wie ein Mann, der das Staatsexamen bestanden. Einen Titel jedoch konnte sie nicht erhalten.

Als das Ziel und die vorläufige Form des Unternehmens ausgearbeitet waren, trat man damit in die Öffentlichkeit. Zeitungsartikel und Annoncen machten Stimmung und forderten das englische Publikum zur Beteiligung auf. Inzwischen war Merton Hall – ein einfaches, ländliches Haus am Ende der Stadt Cambridge – für das neue Kollegium gemietet worden; die Leiterin von Merton war Miss Clough. Im Herbst 1871 wurde dort die erste englische Frauen-Universität, das heutige Newnham, damals aber noch Merton genannt, mit acht weiblichen Studenten eröffnet. –

Wer den ferneren Lebenslauf dieser acht ersten weiblichen Studenten kennt, weiss auch, wie ernst es ihnen um die Sache war. Freilich waren sie zum Teil jung genug, um die Beschränkung, welche die Ungunst der Verhältnisse ihnen auferlegte, als eine solche zu empfinden und sich gelegentlich darüber zu empören, dass sie nur geduldet sein sollten. Aber einerseits wusste Miss Clough diese Beschränkung und scheinbare Rechtsverkürzung so würdig hinzunehmen und so überzeugend von der Stärke des Vorurteils und den persönlichen Opfern zu sprechen, die jeder Fortschritt erheischt, dass sie in ihrer kleinen Schar fast ausnahmslos einen vorzüglichen Geist des Strebens, aber auch zugleich der Ordnung wachhielt. Was aber vor allem beitrug, die acht Pioniere einen ernsten, stillen Sinn zu lehren und ihnen Dankbarkeit näher zu legen als Rechtheischen, war Cambridge selbst. Es ist eben etwas eigenes um historischen Boden und man wandelt nicht ungestraft unter Denkmälern der Vergangenheit. Cambridge, so genannt, weil es am Cam gelegen, eine Brücke über den Fluss besass, gleicht unseren thüringer Landstädtchen aus der sächsischen Kaiserzeit. Da ist der Marktplatz mit dem Brunnen, alte Häuser mit vorspringenden Stockwerken, tiefe Thorwege, freundliche Fenster, auch seltsames Gitterwerk, Bildsteinhauerei und Spuren alter Glaskunst. In manchen Winkeln erinnert das Wesen der Stadt an Frankfurt. Doch trägt sie im ganzen völlig den Charakter einer Kleinstadt, sauber, freundlich und gut bürgerlich. Die Universität liegt am Ende von Cambridge und bildet eine Ansiedlung für sich. Nach englischer Art besteht die grosse »Universität« aus verschiedenen kleineren Universitäten, den »Colleges«. Alle zusammen bilden den grossen Verband, der äusserlich durch den Senat und das Senatshaus repräsentiert wird. Jedes einzelne »College« ist aber eine unabhängige Hochschule, die ihr Vermögen, ihre liegenden Gründe, ihre Baulichkeiten, ihren Lehrkörper, ihre wissenschaftliche Spezialität und ihr besonderes Studentenpublikum besitzt. Christ-College z. B. ist der Hort der Orthodoxie; ein anderes, wie King's oder Queen's College, wird mit Vorliebe von dem englischen Adel besucht, während Saint Catharine's College als Lieblingsstätte arbeitsamen Bürgertums bekannt ist. Alle diese Colleges bilden nach der Flussseite zu einen langgestreckten Gürtel. Die äussere Anordnung der Colleges ist eine sehr einfache: um einen quadratischen oder rechteckigen Hof, auch eine Reihe von Höfen, liegen die Wohngebäude nebst Hörsälen, Bibliotheken und Laboratorien. Dazu hat jedes College seinen Garten, seine Spielplätze, sein Bootshaus und seine Kapelle. Trotz dieses gleichen Besitzes und dieser gleichen Einrichtung trägt indessen jedes College seinen besonderen Charakter. Das eine stammt aus dem Mittelalter und hat noch etwas Finsteres, mit seinen grossen Mauern und kleinen Fensterflächen. Aber der innere Hof ist mit wilden Rosen überrankt, durch die gotischen Fenster des Kreuzgangs guckt grüner Epheu in dicken Knäueln. Hier sind alte Glasfenster und bleigefasste Scheiben; dort komische Fratzen in Stein, seltsame Wappen und eine halbverlöschte Inschrift. Ein anderes College stammt aus der Zeit der Renaissance: über dem Hofthor sind die Tudorrosen eingehauen, die Fenster erweitern sich, der Schmuck wird reicher und üppiger, bis zuletzt die Mauer nur noch ein Vorwand für die Fenster ist. Im Renaissancestil ist auch das Senatshaus gebaut, würdig, und doch frei und leicht, mit seinen Säulen, seiner italienischen Façade und seiner breiten Treppe. An dem allen vorbei fliesst der stille Cam in mannigfachen Windungen. Er schlängelt sich erst durch Wiesen, dann durch die schönen, schattigen Universitätsgärten, mit ihrer leichten Senkung nach dem Fluss und ihren aristokratischen Gittern. Er bespült stellenweise die Collegien selbst, so dass ein blindes Stück Mauer aus grauem Sandstein schroff daraus aufragt, bis man eine verdeckte Brücke betritt, mit Fenstern zur Rechten und zur Linken, durch die stromauf, stromab man die geschlossene Reihe der hochragenden Gebäude erblickt, im Winterfroste flimmernd oder grün umbuscht. Dann glaubt man wohl in die Vergangenheit zurückzublicken, und der stille Cam mit seinem ruhigen Wasser scheint der Strom der Zeit, dem man traumverloren nachsieht. Durch Parks, Gärten, über mannigfache Steinbrücken gelangt man zu den Kapellen. Sie liegen zusammen, jede jedoch von einem schicklichen, freien Raum umgeben. Es sind Gebäude von mittleren Verhältnissen, aber von hervorragender Kunst. Auch sie vertreten alle Stile und Stilmischungen des Mittelalters und der Renaissance; aber jeder Kapelle ist der Ameisenfleiss, die persönliche Sorgfalt der Bauherren zugute gekommen. Und so hat sich jede wie ein voll ausgebildeter Kristall gestaltet, wie ein Kleinod der Goldschmiedekunst. Diese Kapellen haben die gotische Leichte des Steins, das mit hundert Spitzen und Spitzchen Himmelanstrebende unserer Dome, jedoch nicht deren Massiges und Imponierendes, weil ihre Verhältnisse eben dazu nicht ausreichen. Es ist aber eine feine und süsse Frömmigkeit, mit der selbst ungläubige Herzen in diese dämmerigen Gewölbe treten. Kommt dazu dann noch das feierlich Ehrwürdige eines wohlgeleiteten Gottesdienstes, und fügen die Scharen junger Studenten in mittelalterlicher Kirchentracht, die wohlgeübten Chorgesänge mit ihrer tausendjährigen Erinnerung dem ersten Eindruck der Schönheit noch den der Kraft und der Macht über die Lebenden hinzu, so wirkt imponierend, was vorher nur rührte.

Kirche und Universität, Adel und Bürgertum, Gelehrsamkeit und Sport sind in Cambridge seit Jahrhunderten von Rechtswegen ansässig und vertreten. Nur die Frauen waren in diesen Organisationen niemals unmittelbar berücksichtigt. Sie hatten dort keinen Platz, und wo man sie, wie in der Kirche duldete, mussten sie schweigen. Dies sollte nun um 1871 anders werden. Was bis dahin ausschliessliches Männereigentum gewesen, das sollte von nun an auch für Frauen da sein. Kein Zweifel, dass die acht Newnham-Pioniere, in deren feinfühligen Frauenseelen die grossen, geschichtlichen Werte von Cambridge einen tiefen Eindruck machten, sich oft vor diesen gefesteten Institutionen und Leistungen der Vergangenheit recht klein vorgekommen sind. Denn wie alle, die es ernst meinen, hatten auch sie ihre Stunden des Zweifels, in denen sie sich fragten, ob ihre Kraft ausreichen würde, ob ihr Weg der rechte sei. Unter diesen Einflüssen wurde Newnham von vornherein zu einer ernsten Arbeitsuniversität. Merton-Hall, wo das neue Kollegium eingerichtet war, trug auch noch dazu bei, die acht Studenten in fröhlichem Wetteifer zu halten. War Merton-Hall doch schon öfter die Wiege ähnlicher Unternehmungen gewesen; manches der stolzen Männercolleges hatte seinen Anfang dort genommen, ehe es durch Schenkungen und durch Beschlagnahme von Klostergut zu Zeiten der Reformation ein reiches Anwesen wurde. Dass dieses unrecht erworbene Gut zum Teil von Nonnenklöstern stammte, ist übrigens heute noch ein beliebter Vorwurf, den Newnham gegen seine männlichen Kollegen zu Zeiten ins Feld führt.

Mit Merton-Hall war auch ein historisches Zimmer in den Besitz des aufstrebenden Frauenkollegiums übergegangen, das sogenannte »Zimmer des Pythagoras«. Es war eine hübsche Dachstube mit dem Ausblick ins Grüne, in der viele Generationen von Mathematikern gehaust, gerechnet und gefabelt hatten. Man denke sich, mit welchem Stolz der erste Newnhamer Student der Mathematik dort seine Figuren zog und seine Berechnungen aufstellte! Ungemein anregend war aber gerade in jener ersten Zeit der Verkehr mit den für den Unterricht gewonnenen Professoren. Sie scheuten keine Mühe, keinen Zeitverlust, um ihre neuen Studenten zu fördern. Auch eine zwanglose Geselligkeit kam zustande; die Kleinheit des Kreises – Miss Clough und die acht jungen Mädchen – war einer eingehenden Bekanntschaft förderlich und machte das Aussprechen der besten und eigensten Gedanken möglich. Auf diese Art kamen die studierenden Frauen in nahe Berührung mit dem besten Geiste der Universität. Sie lernten die Hauptzüge und Hauptkräfte derselben kennen, sahen die Universitätstugenden aus der Nähe und konnten sich einleben, wählen, suchen und finden. Vor allem wurden sie dadurch ein Teil der Universität: sie fühlten sich in die Fragen des Tages hineingezogen, von der gleichen Strömung getragen, von demselben Geist beseelt, an demselben Werk nach Kräften mitarbeitend. Die Newnhamer Studenten fingen dadurch an, ein stehender Zug im Gesamtbild von Cambridge zu werden. Dank ihrer persönlichen und Miss Clough's Verbindungen kamen sie in die beste Gesellschaft; die liberale Partei, unter den Professoren Sedgewick und Fawcett, brauchte ihren Einfluss zu Gunsten der jungen Bewegung.

Inzwischen gingen die Studien ihren regelmässigen Gang. Sie waren von vornherein dadurch erleichtert worden, dass zunächst das medizinische Fach nicht in Rechnung kam. Es ist überhaupt in Cambridge nicht vertreten, sondern nach London verlegt. Die acht Newnhamer Studenten verteilten sich daher auf die verschiedenen Gruppen der philosophischen Fakultät, Jura und Theologie kamen ja gleichfalls nicht in Betracht. Unter diesen Gruppen waren alte Sprachen, Mathematik und Philosophie vorzugsweise von den studierenden Frauen gewählt worden. Die Resultate der ersten Prüfung waren befriedigend. Es war nichts Glänzendes noch Aussergewöhnliches daran, aber ehrliche Arbeit war geleistet. Und dies gab den Freunden von Newnham Hoffnung und Zuversicht. Genies, sagten sie sich, erzieht man nicht, wohl aber tüchtige Menschen, einen Grundstock gewissenhafter Arbeiter. Wenn aber in Merton-Hall fleissig gearbeitet wurde, so fehlten nach den sauren Wochen auch die frohen Feste nicht, fehlte es nicht an Bewegung in frischer Luft, an gemütlichen Plauderstunden, an lustigen Streichen hinter Miss Clough's ehrwürdigem Rücken, und an aufrichtiger Freundschaft. Das Zimmer des Pythagoras hat manches lustige Gelächter gehört, und dass die Liebe den Herzen der gelehrten Jungfrauen nicht fremd ist, zeigt das dort nicht seltene Ereignis einer Heirat zwischen den Newnhamern und den anderen Universitätskreisen. Freilich fallen diese weltlichen Ereignisse in etwas spätere Zeit. Die acht Pioniere hielten vorläufig zur Fahne, der sie zugeschworen. Ihr wackeres Arbeiten aber und der befriedigende Ausfall der ersten Prüfung hatten für die Sache des Frauenstudiums Stimmung gemacht und das Interesse weiterer Kreise erregt. Die Schar der Newnhamer Studenten begann zu wachsen. Bald reichte Merton-Hall nicht mehr aus; man siedelte in ein grösseres Haus über und ertrug die Unbequemlichkeiten vorläufiger Einrichtungen in dem Gedanken, dass die Fundamente zu einem eigenen College, dem heutigen Newnham, schon gelegt seien, dass draussen, noch jenseits von King's, Queen's und Cat's College, die roten Backsteinmauern des eigenen Hauses aus der Erde stiegen und die studierenden Frauen bald ein sichtbarer, nach aussen vertretener Teil der Universität sein würden. Man hatte für diese neuen Bauten den Stil aus der Zeit der Königin Anna gewählt und es klug vermieden, das neue Kollegium als eine Nachahmung der Männercolleges aus dem Mittelalter und der Tudorzeit hinzustellen. Newnham, inmitten seiner Gartenfläche, sollte den Eindruck eines behaglichen, aber in grossem Stile gebauten Privathauses machen; es sollte weder etwas Kasernenartiges, noch etwas Historisches haben, sondern eine Stätte voll Luft und Licht sein, wo in der Gegenwart ernster und grosser Vergangenheit gesunde und tüchtige Menschen sich für das Leben heranbilden.

Der so ganz intime Verkehr mit den Lehrern, das innige Zusammenleben mit Miss Clough und den ersten Genossinnen hörte mit der Uebersiedelung nach Newnham freilich auf. Andere Vorteile aber wurden dafür gewonnen. Die inzwischen gegründete »Gesellschaft für höhere Mädchenschulen« setzte sich mit der Universität in Verbindung und schnitt ihre Programme genau auf das akademische Studium zu. Dadurch wurden Latein und Mathematik in den englischen Mädchenschulen obligatorisch. Des weiteren wurden auch drei verschiedene Prüfungen für ihre Zöglinge festgesetzt. Die ersten beiden Prüfungen, das Junior- und das Senior-Examen, sind Ausweise über allgemeine Bildung, etwa wie die einer ersten deutschen Mädchenschulklasse mit Hinzurechnung des Lateinischen und der Mathematik; das dritte, Higher-Local genannt, weil es in allen grösseren Städten abgelegt werden kann, ist schon eine Fachprüfung, die man in drei selbstgewählten Gruppen abzulegen hat. Dieses Examen, das dank seiner Beschränkung auf drei Gegenstände grössere Tiefe verbürgt, vertritt einerseits die Rolle des deutschen Abiturientenexamens, andererseits die des Seminarexamens. Das Higher-Local muss bestanden haben, wer die Universität beziehen und sich dort für das Staatsexamen vorbereiten will. – Dieses feste Gefüge nahmen die englischen Schul- und Studienverhältnisse selbstverständlich nicht mit einem Male an. Jahre vergingen darüber; indessen wuchs Newnham und vergrösserte sich innerlich wie äusserlich, es gewann Freunde im ganzen Königreich. Der Augenblick kam, wo die Universität Cambridge beschloss, ihre Mitglieder, ihre Würdenträger und alten Herren, so viel ihrer in Grossbritannien verstreut waren, zusammenzurufen und in öffentlicher Verhandlung beraten und abstimmen zu lassen, ob Newnham als Teil der Universität und die Frauen als rite immatrikuliert und als Studenten von Rechtswegen zu betrachten seien. Ihnen den akademischen Grad und alle daraus folgenden Rechte zu erteilen, lehnte man auch damals noch ab.

Und am anberaumten Tage kamen sie, die Cambridge-Männer. Die jüngeren, Feuer und Flamme nach der einen oder anderen Seite; die älteren wohlwollend oder würdig ablehnend; die ältesten aber, ehrwürdige Herren aus weltfernen Pfarreien der Staatskirche und behäbige Landadvokaten, erkannten ihr Cambridge, die Männerstadt ihrer Jugendzeit, nicht wieder. Welch' prächtiger Gegenstand für den Humoristen bot diese Versammlung! Man kann sich wohl denken, mit welcher Spannung die Frauen in Newnham die Entscheidung erwarteten. Von dem Senatshaus an war eine Kette von Posten aufgestellt, die einen fortwährenden Botendienst mit Newnham unterhielten. Der eine rief dem andern die Stimmenzahl des Für und Wider zu; eine Botschaft folgte der andern auf dem Fusse, selbst die befreundeten Professoren verschmähten nicht, im Eilschritt Nachricht zu bringen. Mit der endlichen Siegesnachricht aber kam jauchzend eine der Newnhamer Studierenden angesprengt: sie hatte auf ihrem Pferde an der äusseren Stadtgrenze gewartet, um kein Aufsehen zu erregen, dann aber im Galopp den ländlichen Weg bis Newnham durcheilt: »Viktoria, Miss Clough, nun sind wir Universität.« Wenige Augenblicke später wehte eine Fahne vom Dach und die grosse Spannung löste sich in Jubel.

Seit jenen Tagen hat Newnham sich stetig vergrössert. Es hat jetzt vier grosse Gebäude, unter vier verschiedenen Leiterinnen, von denen Miss Clough nach wie vor die erste, Miss Helen Gladstone, Tochter des früheren Ministers, die zweite Stelle einnimmt. Eine weitere Folge der nun zwanzigjährigen Universitätserrichtung ist, dass sich für Newnham eine Zahl weiblicher Professoren gefunden haben, die, wie ihre männlichen Kollegen, im College selbst wohnen. Auch als Faktor des öffentlichen Lebens hat sich die Frauenuniversität eingebürgert: berät eine Familie über die Zukunft der Töchter, so wird ein Studium in Newnham dabei mit in Betracht gezogen. Die einen betrachten den Besuch der Universität als Abschluss einer gründlichen, humanistischen Bildung; die anderen gehen auf Fachstudien und Broterwerb aus. Die Schlichtheit aber ist Newnham, im Gegensatz zu Holloway, auch noch nach seinem Siege geblieben. Der Newnhamer Student hat ein mittelgrosses, geweisstes Zimmer als Behausung, während Holloway einem jeden Wohn- und Schlafzimmer getrennt bietet. Die Mädchen von Newnham haben eine Vorliebe für einfache Kleidung; sie haben eine Bewegung, die auf schlichte aber geschmackvolle Moden hinging, unterstützt und der Typus des Newnhamer Studenten hat etwas Gesundes, Offenes und Ehrliches. Newnham aber hat auf diese Art einen neuen Schlag Frauen erzogen, indem es mit Nachdruck die selbständigen Elemente des Frauencharakters betonte, zugleich aber mit weiser Beschränkung die Anmut und das Mass zu bewahren wusste.

Inzwischen sind auch die Resultate der Prüfungen glänzendere geworden; nach zwanzig Jahren ehrlicher Arbeit kam Philippa Fawcett, welche in der Mathematik alle ihre männlichen Collegen geschlagen hat. Daher kommt denn, wenn ein guter Newnhamer sich die Geschichte seines Colleges überdenkt, ihm eine stille Zuversicht in das Gemüt: es wird schon werden. Und das gleiche drückt sich in einer kleinen Geschichte aus, die dort passierte. Es war um Weihnachten, wir sassen mit Miss Clough am Kamin und versuchten gerade unseren Witz an einem neuen Spiel, Ähnlichkeit und Unterschied zwischen einem gegebenen Abstrakten und einem Konkreten zu finden. Jemand gab auf: »Die Wellen und der Widerstand gegen die Frauensache!« Da blitzten Miss Clough's Augen und sie antwortete: »Der Unterschied? Die einen sind kalt, der andere war heiss. Die Ähnlichkeit, beide sind vergänglich.«


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