Victor von Scheffel
Episteln
Victor von Scheffel

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18. Madruzz.

Das Schicksal scheint zu wollen, dass ich diesmal an Welschlands nördlichen Grenzmarken mich in unbekannten Winkeln umhertreibe. Aber diese Winkel sind so schön und so merkwürdig wie irgend etwas, was in den roten Büchern der Touristen mit doppeltem Stern bezeichnet ist.

Madruzz ist ein Wort, das mystisch um die Seele klingt, bis sie weiss, was dran und drin steckt. Was ist Madruzz? ... Da ich mich nicht gern von der Mystik des Unbekannten stören lasse, fuhr ich eines Tags in der lecken Barke mit Stefanus dem Sklaven über den Toblinosee. Stefanus der Sklav muss alles wissen, dafür ist er da. Er legte die Barke an einem waldigen, unzugänglichen Uferplatz an des Sees östlichem Rand an, dann kletterten wir durch Gebüsch und über ausgewaschene Bergrücken empor; oben steht eine Kapelle und ragt keck hinaus in das Dunkel des Alpenhintergrunds, das der wohlbekannte Monte Casal und der Doscardol und der Berg Gazza und wie sie alle heissen, an des Sees entgegengesetztem Ufer bilden. Von dieser Kapelle stiegen wir wieder bergab; reiche Vignen und Welschkornfelder umschliessen ein grosses Dorf mit emporragendem palazzo. Das Dorf heisst Calavin. Und von Calavin ging's wieder bergan, um einen langgestreckten Berg herum, über scharfkantiges, fusswerkzerstörendes Geröll, dann durch eine Strasse mit zerfallenen Häusern und zerlumpten Menschen, über denen sich fröhlich Feigenbüsche und Reben in die Felsspalten angesiedelt; dann auf einen von weissglänzender Mauer umfriedeter Gipfel; ein verschlossenes Tor sperrte den Eingang, aber Stefanus der Sklav stieg hinauf und löste den eingerammelten Baum ... endlich standen wir vor weitschichtigem, wohlerhaltenem Gebäu; – Torturm mit Schiessscharten, riesige Mauern mit Fenstern und Balkonen, alte Wappenschilde, und stille Bergeinsamkeit rings umher, etliche Ziegen zwischen den Felsen weidend, rauher Luftzug und ein scheuer Bauersmann, der lauernd auf den fremden Bergsteiger sah ... das war Madruzz. Der Mann, der diese Trümmer hütet, hat grosse Räume zu seiner Verfügung, aber kein Wasser, keinen Wein und kein Brot.

Er führte uns in den noch von einem Dach überdeckten Rittersaal, durch dessen leere Fensterreihen ein scharfer Wind pfiff, in Gemächer und Stuben mit reichverzierten steingehauenen Portalen und Kaminen, in die rauchgeschwärzte Kapelle, die mit rohen Malereien geschmückt war, in tiefe Verliesse und Kasematten ...

Madruzz war ein festes mächtiges Schloss, und die Madruzzen waren Ritter und Kardinäle, wie's die Zeit brachte, und hielten 119 Jahre lang das Fürstbistum von Trient in ihrer Hand. Es ging eine sehr feudale Luft durch diese Räume; in weitem Kreis zieht sich eine Mauer um den Schlossberg, die umgab ihrerzeit den grossen, weit im Land berühmten Wildpark des Kardinal Christoph Madruzz, unter dessen Krummstabführung das Bankett in Trient gehalten ward zur Feier von Carolus des Fünften Sieg bei Mühlberg an der Elbe; die tridentiner Hofpoeten haben's in langen Reimen besungen, wie prächtig alles zuging, und wie elegant die Damen der Bischofstadt dabei erschienen ... Und wie ich wieder im Rittersaal stand, da malte ich, während meine Fusstritte dröhnend durch die öde Halle klangen, mir im Geiste aus, wie's hier einst gehallt und gejubelt haben mag, wenn die hochweisen Prälaten vom Tridentiner Konzil herüberritten, um bei ihrem Kollegen von den Mühen des Dogmenaufstellens und Anathemafluchens sich zu erholen, und wie manch ein Pokal vino santo unter gröblichen und feinen Witzen über die Reformgelüste germanischer Nation die orthodoxen Kehlen hinabrieselte, ... und ich sah sie alle dasitzen, hagere, scheiterhaufenfrohe, verkniffene Gestalten schauten zwischen wohlgenährten, fettleibigen hervor, und glatte Kanonisten und Sekretäre, Kriegsmänner im spanischen Mantel und Kammerherrn ... mög ihnen seiner Zeit ihr Trunk wohl bekommen sein!

Es ist schon lang her, dass der letzte Madruzz zu seinen Vätern versammelt ward, im Wildpark des Schlosses weiden Ziegen, in den Gemächern liegt Staub und Schutt, und in der Fensterbrüstung lehnt ein germanischer Mann mit einer Brille und einem dubiösen Zug um die Lippen, und der Mann hat erst vor kurzem den Hegel und den Strauss und Ludwig Feuerbach dem Antiquar Wolff in Heidelberg verkauft ...

Aus den Fenstern schweift der Blick weit in die Niederungen des Sarcatals, unten der grüne See von Toblino, weiter südlich, zwischen Hügeln und Pflanzungen versteckt, der See von Cavedine, in der Ferne die massigen ausgezackten Seifen von Arco ... es ist weit und schön dort droben.

»Jetzt ist's vorbei mit der alten Herrlichkeit,« sprach ich zu Stefanus dem Sklaven, »alles ruiniert, roba vecchia!«

»Höh ... höhh!« lachte Stefanus der Sklav, »und sie kommen nimmer herunter von ihrem Castell, um bei den Bräuten des Landes drei Nächte vor der Hochzeit zu schlafen.«

Ich weiss nicht, ob die gangbaren Handbücher des deutschen Privatrechts mit ihren Controversen über das jus primae noctis je dem Sklaven Stefanus zu Gesicht gekommen sind ... aber das vergnügte »Höh ... höhh!« mit dem er im 19. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung über das Verschwundensein dieses Rechtes lachte, scheint darauf zu deuten, dass es auch einmal wirklich und saftig existiert hat.

»Es wird nichts mehr zu sehen sein,« sprach ich im Schlosshof, als wir von dem Hüter von Madruzz Abschied nahmen.

»Nichts mehr,« sagte er mit einem Blick auf meine Brille, »als vielleicht i libri antichi!«

»Libri antichi, Mann Gottes, schnell, wo sind sie, die alten Bücher?«

»Verschlossen in einem Gewölb,« sagte er, »der Padrone in Calavin hat den Schlüssel.«

Wie Stefanus der Sklav merkte, dass ich mich für die alten Bücher in den Trümmern von Madruzz interessierte, bemächtigte sich auch seiner ein löblicher Eifer. »Wir werden den Schlüssel bekommen,« sprach er, »wir werden die Bücher sehen!« Und er warf seinen kattunenen Kittel über und stieg hinunter gen Calavin. Dort im stattlichen palazzo wohnt der alte Albertini, der reichste Mann der Gegend, der nebst andern Eigenschaften auch Administrator der Güter des Marchese del Caretto von Genua ist. Der Marchese del Caretto aber ist derzeit der Erbe und Rechtsnachfolger der Madruzzen.

Ich verbrachte eine erwartungsvolle Stunde am Abhang des Schlosses, bis Stefanus wieder kam. Aber er kam gesenkten Hauptes und meldete, dass ihm der Padron die Schlüssel nicht ausgeliefert; sie seien verlegt ... oder einem prete aus der Nachbarschaft geliehen ... auch wisse man derzeit in Calavin nicht, wer so geradezu vom Toblinosee herübergestiegen komme und die Schlüssel von Madruzz verlange ...

Wir zogen ab, ohne das Büchergeheimnis ergründet zu haben. Aber Stefanus der Sklav nahm's für eine Ehrensache, dass er und sein fremder Herr die Bücher der Madruzzen zu sehen bekämen, und arbeitete mit mehr Leidenschaft dafür denn ich selber, wiewohl über seine anderweiten Verhältnisse zu Gedrucktem und Geschriebenem gegründete Zweifel erhoben werden könnten.

Nach drei Tagen kam er strahlend wie ein Unsterblicher: »Heut werden wir die Schlüssel erhalten!« – Stefanus der Unermüdliche hatte beim alten Sommadossi ein Empfehlungsschreiben erwirkt an Albertini den Meister der Schlüssel, ein bolletino, wie er sagte, und Sommadossi der Alte hatte geschrieben, die zwei signori prussiani, die bei ihm wohnten, seien zuverlässige Männer und galantuomini, denen man alles Inschriftliche und Monumentale des Schlosses Madruzz ohne Risiko vor Augen stellen könne, da sie es nicht um Geschäfte zu machen, sondern lediglich zu ihrem divertimento besichtigen würden.

Da Sommadossi der Alte in einem P. S. zugefügt hatte: »NB. Mit der bewussten Zahlung vom Seidengeschäft her hat es noch Zeit,« so hatten sich die Schlüssel auch vorgefunden, und ich trat meine zweite Wanderung nach den Trümmern des Bischofsschlosses an.

Stefanus der Sklav war nach Calavin gegangen, um die nötigen Einleitungen zu treffen. Ich stieg allein den sonnenglühenden Gipfel hinan und stand bald vor den hohen weissen Mauern des Castells. Diesmal waren nur die Kinder des Bauern oben, die ihre Ziegen im Schatten weideten und scheu davonliefen, wie die fremde Gestalt sie freundlich ansprechen wollte. Das innere Tor war mit einem Querbalken gesperrt. Ich musste lange warten, bis endlich vom Tal von Calavin 3 Männer bergauf schritten. Der eine öffnete das Tor; wir traten in Schlosshof ein, und die Untersuchung der alten Bücher und Handschriftensätze von Madruzz begann. Die zu diesem Behuf nunmehr vollständig versammelte Kommission bestand

1) aus dem Schlossbauer von Madruzz, als derzeitigem Aufseher und einzigem Bewohner der mit dem Archiv zusammenhängenden Gebäude,

2) aus einem gnomenartigen, mit Säbelbeinen versehenen, vier Fuss rheinisch messenden, freundlich lachenden Individuum, welches die Schlüssel trug und von Albertini dem Padron gemessenen Auftrag hatte, dem Akt anzuwohnen, die Schlüssel nie ausser Händen zu geben, und dem Fremden scharf auf die Finger zu sehen,

3) aus Stefanus Basetti meinem Sklaven,

4) aus mir selber.

Von dieser Kommission waren die Mitglieder 1. und 3. des Lesens und Schreibens nicht erfahren und auch in früheren Zeiten niemals erfahren gewesen!

Die Operationen nahmen ihren Anfang. Im Erdgeschoss des Gebäudes, welches den Rittersaal trägt, war ein mit riesigem Eisenschlosswerk verschlossenes Gemach, welches als Verwahrungsort bezeichnet wurde. Das Mitglied Nro. 2 probierte sämtliche Schlüssel, aber ... waren die Türen eingerostet, oder anderweite Riegel vorgeschoben, ... es gelang nicht zu öffnen. Da holten die Mitglieder 1. und 3. eine grosse Hühnerleiter herbei, und wir stiegen in gemessener Ordnung und dem der Feierlichkeit des Akts entsprechenden erwartungsvollen Schweigen zu einer von keinem Fenster mehr verschlossenen Wandöffnung hinein.

Es war eine kahle, spinnweb- und staubüberzogene Stube; zwei alte, gebräunte, schnitzwerkgezierte Schränke standen einsam an den Wänden!

Die übrigen Mitglieder der Kommission waren noch viel neugieriger als ich selber; als der erste Schrank aufgeschlossen war, fielen sie mit dem hierlands bei allen wichtigeren Geschäften unentbehrlichen Ausruf »Höh ... höhh« ... drüber her, wie etwa die englischen Matrosen und tartarischen Altertumsforscher über das Museum von Kertsch, ... eine Reihe ehrwürdiger, in weisses Pergament gebundener Folianten stand drin, und viel kleinere Bücher; in Frist einiger Minuten war alles herausgeworfen und betastet und aufgeschlagen, und ich hatte zu tun, um den Eifer Stefanus des Sklaven und des Schlossbauers von Madruzz in den gebührenden Schranken zu halten.

Es war die Bibliothek des Kardinal Madruzz. ... Theologie, Kirchengeschichte, Polemik gegen die Lehren der Reform, scholastische Philosophie, viel namhafte Geschichtswerke des XVI. Jahrhunderts, de rebus Angliae et Scotiae, historia Turcarum, historia Theoderici regis Ostrogothorum, Geschichte von Holland, Flandern und Brabant, deutsche Chroniken, auch die crême vornehmer Platoniker des XIV. Jahrhunderts, Marsilius Ficinus de immortalitate animarum, Picus von Mirandola, dann die Byzantiner vom Niketas bis zur Anna Comnena in schöner venetianischer Ausgabe, alles wohlerhalten und mehr als hinreichend, das Leben eines Mannes auszufüllen, der ein ernstlich Studium drauf verwenden gewollt. Der wahrhaft intakten Jungfräulichkeit vieler dieser Bände war aber schier der Verdacht zu entnehmen, dass ihnen das horazische: nocturna versate manu, versate diurna, nicht allzu oft zu teil geworden. Da ich das System der Durchsicht von Stefanus des Sklaven und des Schlossbauers Anordnungen abhängen liess, wurden mir die Bücher der Grösse nach ans Fenster geschleppt, erst die Folianten, dann etwas in Quart, und so abwärts.

Ich erklärte ihnen einiges vom Inhalt der alten Scharteken, was mit Befriedigung aufgenommen wurde; wie sie mir das erste deutsche Buch, eine Relation über die Belagerung Wiens durch die Türken unter Soliman II. 1529, brachten und ich auch diese fremdartigen, anders geformten Lettern lesen konnte, stieg ihre Hochachtung, und Stefanus begann, mit der Gelehrsamkeit seines Herren zu renommieren: »sa leggere tutto,« sprach er, »vedete, sa leggere tutto! Höh ... höhh« ... Darum liess ich ihn aber auch nicht im Stich, wie sie mir die Quartbände beischeppten, und nach zwei hebräischen Bibeln einige ganz dubiöse Druckwerke an die Reihe kamen, die wahrscheinlich aus der Presse der Propaganda zu Rom hervorgegangen, eine durchaus uneuropäische Haken- und Keilschrift aufwiesen. »Aha,« sagte ich, »quest' è lingua asiatica, ... buona per trovare tesori,« fügte ich mit gewichtiger Miene bei. Der Schlossbauer verstand mich und legte das semitische Buch bei Seite. Mög es ihm gedeihlich sein, wenn er etwa durch meine Andeutung auf nächtliches Schatzgraben in seinen Schlosstrümmern verfallen sollte ... es wird gegenwärtig so viel auf das Assyrisch-Babylonische hingewiesen und so wenig dabei gewonnen!

Die Musterung ging zu Ende. Die Kommission war begierig auf meinen Urteilsspruch über das Ganze. Ich erhob mich: »tutto,« sprach ich, »roba di Cardinale, niente per noi altri!« Ich liess alles säuberlich an seinen Platz zurückstellen und den zweiten Schrank öffnen.

Aber wie die Türen dieses zweiten Schrankes aufgingen, da ward es auch mir in meinem antiquarischen Gemüt wohl ums Herz, und mit einer gewissen ehrfurchtvollen Spannung begann die Untersuchung. Nur wenig Bücher lagen zerstreut umher, aber in langen Bündeln glänzten und gleissten die Dokumente, siegelbehangene Urkunden, ganze Pergamentfascikel ... ein Archivrat wäre in Ohnmacht gefallen! Ich hatte einen Teil des Haus- und Familienarchivs der Madruzzen vor mir, samt den Protokollen der Schlosshauptleute und Rentamtmännern, den Statuten des Territoriums u. s. w.

Schaben, Käfer, Mäuse, Ratten und andere Insekten hatten ihre Schuldigkeit gethan. »Höh, höhh,« rief der Schlossbauer, da er einen Griff hinein that und eine Handvoll in Schnipfel und Fetzen zernagter Papiere vorzog, die auseinanderfielen wie Staub, »si potrebbe far polenta di queste cartaccie!«

Der Gnom mit den Schlüsseln wollte wieder schliessen. Ich aber bemerkte ihm, dass man diese roba nicht bloss ansehen könne wie Tiere einer Menagerie, und um sein Gemüt zu sänftigen, liess ich durch Stefanus einen gewaltigen Steinkrug roten Weines und einen Laib Brot beischaffen. Unter diesen Verhältnissen konnte die Sitzung fortgesetzt werden. Der Gnom aber war argwöhnisch geworden und tat seine Hüterpflicht mit rühmenswerter Treue; und wie ich einmal den Heiratsvertrag Herrn Ludwigs von Madruzz mit der ehrsamen Jungfrau Helena von Lamberg in die Fensternische gelegt statt in den Schrank zurück, sprang er bei wie ein Teufel und sprach »scusi, Signore!« und legte das Dokument zurück.

Es waren bunte Bilder vergangener Zeit in diesen Urkunden.

Ein riesiges Kopialbuch auf Pergament, in der langgedehnten Mönchsschrift begonnen und später lesbar fortgesetzt, enthielt die Abschrift sämtlicher Urkunden über den Erwerb der unzähligen Liegenschaften, die das Territorium der Madruzzen bildeten, über Bau und Restauration des Schlosses etc., es mag gegen 1000 Seiten enthalten.

Eine Masse Notariatsakte geben Ausschluss über Ehverträge, Testamente und Inventarbestände im XVI. und XVII. Jahrhundert.

Gerichtliche Akten, von Abwandlung der Forst- und Waldfrevel an bis zu schweren Kriminalprozessen die Hülle und Fülle; auch etliche Privatkorrespondenzen des Kardinal Christoph Madruzz mit Fürsten und Herren seiner Epoche ... es kam eine starke Versuchung über mich, ein Originalschreiben eines Pfalzgrafen Wilhelm bei Rhein, Kurfürst von Baiern, an den Kardinal, Einladung zu einer Besprechung in Innsbruck, da er propter morbi et medicorum vexationes ihn nicht in Trient besuchen könne, auszuführen; das Siegel mit dem Löwen und den Feldern samt der eigenhändigen Unterschrift »Guglielmus« war gar zu verlockend, es dem Geschichtschreiber der Pfalz als Wahrzeichen der Studien des Meister Josephus vom dürren Ast zu überschicken ... aber es bedurfte des Blicks auf den Gnomen nicht, um mir zu sagen, dass ich kein Recht hatte, es dem Zahn der Ratten zu entreissen.

Die Kommission verlangte auch über diesen Schrank nähere Aufklärung. Da versammelte ich die drei Männer am Tisch um den Weinkrug ... Es war ein seltsames Bild, wie solches wohl bei wenig archivalischen Untersuchungen sich wiederholen wird; der Schlossbauer auf eine Sense gelehnt, der Gnom mit seinem schauerlichen Schlüsselbund, Stefanus mit broterfüllten kauenden Backentaschen ... und ich griff das Protokollbuch des ehrenwerten Schlosshauptmann Scratimperger und sprach: »itzt gebt Acht, wie es zu Zeiten der grossen principi Madruzz zuging,« und las ihnen vor, wie der seine Bauern gezwiebelt; wegen Fällung eines Bäumleins im Schlosspark so viel Gulden, wegen Fischen in der Sarca so viel, wegen Laub- und Streusammeln so viel, und wenn ein bekannter Name kam, ein Pison oder Naneto von Madruzz oder ein So und So von Calavin, da lachten die drei Männer laut auf und freuten sich seines vorzeitlichen Geleimtwerdens mit einstimmigem »Höh, höhh!« ...

»Und jetzt wollen wir drauf anstossen, dass die Zeiten vorbei sind!« fuhr ich fort, und sie hatten ihre Gläser gefüllt und tranken sie aus, aber mit der Bemerkung, dass es zwar hier oben vorbei sei, aber drunten in Bezzano noch nicht ganz. Zu Bezzano ist das Bezirksamt.

Die Sonne war untergegangen und Lichter keine in des Schlossbauers Besitz. Da stand ich im Dämmerschein prüfend vor dem Madruzzenschrank und sprach zu mir selber: »Sollst du dich nicht etliche Wochen ganz still hinsetzen und in Gegenwart dieser Ehrenmänner oder auch ohne sie excerpieren, dass die Haare vom Kopf fliegen, um dann vor die erstaunte Welt zu treten und die Madruzzen »urkundlich belegt« und mit diplomatischer Genauigkeit vorzuführen?

Aber ich gedachte der vielen Folianten im ersten Schrank und der Befriedigung, mit der ich sie wieder an ihren Platz gestellt, – und gedachte an das, was im Gebiet des Geistes bleibend – und das, was Schwindel ist, und dass bereits mehr gedruckte alte Urkunden in der deutschen Welt sind, als Augen um sie zu lesen, und ich rief: »Unentdecktes Archiv von Madruzz, ich will an dir kein Columbus werden!« und winkte dem Gnomen, dass er den Schrank schliesse.

Die Kommission verzog sich mittelst derselben Hühnerleiter, auf der sie hereingestiegen. Aber ein Aktenstück hatte ich doch fortgenommen und dem Gnom übergeben, dass er bei seinem Padron anfrage, ob ich's nicht des Nähern studieren könne. Die Protokolle des praetor Horatius Sacratus und seines Schreibers Melchior de Riccus über die Ermordung des Grafen Terlago »cum archebusatis VI« am 28. Juli 1572, sollten mir die Freude verschaffen, ein Stückchen welschen Banditenwesens im Stil des XVI. Jahrhunderts aktenmässig kennen zu lernen ... Ich verspreche feierlich, auch hierüber nichts zu publicieren.

Die deutsche gelehrte Welt wird mir hoffentlich für meine Entschlüsse erkenntlich sein. –


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