Victor von Scheffel
Episteln
Victor von Scheffel

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15. Ave Maria.

Und weil ich auch heute wieder die Barke treiben liess im vollen Mondenschein, und itzt in einsamer Nacht, wo mir zu Häupten der Abendstern über den Berg Doscardol herüber in die Stube glänzt und die Grillen melancholifch dazu summen, das Herz weich ist und die Hände sich segnend breiten möchten über alles, was still und schön, so sei Dein hier gedacht, Perle des Sees von Toblino, blasses Kind Maria, die Du in Knechtsgestalt wandelst unter den Leuten des Schlosses und doch nichts mit ihnen gemein hast als den Dienst und die Mühen der Arbeit. Sei bedankt, Du dunkeläugige schwermütig blickende Waise, dass Du in mir den Glauben wieder angefacht an die Macht liebevollen Herzens; es hat Dir's niemand zugeflüstert, dass ich Mitleid um Dich hege, tiefes Mitleid, weil Deine Eltern gestorben und verdorben sind und die Gläubiger Dein Erbteil genommen, dass ich weiss, wie man in früher Jugend Dich als Signora erzogen ... und doch hast Du alles erfahren, was ich von Dir denke und sagst mir mit der unnachahmlichen Hebung des Hauptes und dem wehmütigen Lächeln, dass Dir alles bekannt ist und dass Du mir dafür dankst.

Maria, blasse gute Maria, wer hat Dir das alles verraten? Und wer hat Dir's eingegeben, dass Du an jenem sonnigen Sonntagmorgen, da der fremde Gast lesend im Saal draussen sass, ihm Deine zwei Tauben zuwarfst ... still und schweigsam ... und sie ihm auf die Schulter flogen? Und wer hat Dich hinuntergerufen in die Kapelle an jenem Abend, da das Gewitter aus der Sarcaschlucht vorbrach, und die Barke mit den drei Männern im niederhagelnden Regen vor Euren Blicken schwinden wollte, dass Du die Glocke zogst, die ihnen wie Stimme eines Engels hinüberklang in ihre fährliche Fahrt?

Maria, ich danke Dir. Aber wenn ich Dich frage, wie Dir's geht, sollst Du nimmer stumm nach meinem Messer greifen und es nach Deinem Herzen zücken ... das thut mir weh, bitterlich weh. Willst Du mir weh thun, Maria? –


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