Moritz Gottlieb Saphir
Album geselliger Thorheiten
Moritz Gottlieb Saphir

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Dur- und Molltöne aus dem großen Konzerte des Lebens und des Schicksals, zum Besten der drei Blinden: »Liebe, Glück und Gerechtigkeit«.

Gehalten im gräflich Waldsteinschen Saale zu Prag zum Besten der Versorgungs- und Beschäftigungsanstalt für erwachsene Blinde in Böhmen.

Ein großes Konzert, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ist wie ein großes Diner, man sitzt sehr lange und genießt sehr wenig, und bei beiden ist man gewöhnlich satt, wenn man hin-, und hungerig, wenn man fortgeht.

Bei einem großen Diner, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, muß unser Magen eine gesunde Natur haben, bei einem großen Konzert muß unsere Natur einen gesunden Magen haben. Die Konzerte sind jetzt eine Krankheit aus dem ff, – sie erscheinen in Fasten und im Frühlinge, um diese Zeit grassieren viele Krankheiten: Blattern, Scharlach, Friesel, Masern und Konzerte. Es ist aber eine sonderbare Krankheit, die Konzertkrankheit, je mehr sie einnimmt, desto öfter wird sie recidiv und kommt wieder.

Ein Konzert ist nichts als ein gesungener und in Musik gesetzter Stockschnupfen, man kann sich gerade über nichts beklagen, aber es ist einem doch nicht recht wohl dabei; auf jeden Fall ist es ratsam, zu Hause zu bleiben, und sehr oft wird man beide nicht eher los, bis man – schwitzt.

Ein Stockschnupfen, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ist aber manchmal ein wohlthätiges Übel, und so auch die Konzerte, die zu wohlthätigen Zwecken gegeben werden, und es werden jetzt, gottlob! so viel Wohlthätigkeitskonzerte gegeben, daß ich nächstens ein Konzert geben werde zum Besten des durch Wohlthätigkeitskonzerte verunglückten Publikums.

Das Leben, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ist eine große, beschwerliche, gefährliche Gebirgs- und Alpenreise; sie führt über steile Höhen, neben schwindelerregenden Abgründen hin, – man schaut mit Schauer hinauf, mit Entsetzen hinab, und nur die Maultiere und Esel gehen sichern Schrittes ihren Weg vorwärts.

Dem Menschen aber hat das Schicksal den Alpenstock: Geduld, mit den zwei Spitzen Hoffnung und Glaube mitgegeben und drei Alpenführer, die aber alle drei blind sind: »Liebe, Glück, Gerechtigkeit«.

Die Liebe geht auf der linken Seite, denn da ist das Herz, und in der Herzkammer selbst sitzt die Liebe auch auf der linken Seite, denn sie gehört zur Opposition des Lebens; – und das Glück geht auf der rechten Seite, denn ohne Glück findet man am Menschen gar die rechte Seite nicht heraus, und die Gerechtigkeit geht wie unser Schatten bald vor, bald hinter uns her, je nachdem die Sonne unseres Glückes vor uns aufgeht oder hinter uns untergeht, denn die irdische Gerechtigkeit ist in einer Beziehung gewiß eine Erscheinung aus dem Elisium, in der Beziehung nämlich, daß sie ein Schatten ist!

»Liebe, Glück und Gerechtigkeit«, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, sind die drei blinden Führer des Lebens.

Wenn die Liebe sagt: »Geh links!« und das Glück sagt: »Geh rechts!« so sagt die Gerechtigkeit: »Der Mittelweg ist der beste!« das heißt der Weg, der zu »Mittel« führt, ist der beste!

Liebe, Glück und Gerechtigkeit sind nur für die Menschen blind, unter sich sehen sie sehr gut. Die Liebe sieht sich mit dem Glück sehr vor, die weise Gerechtigkeit sieht dem Glück sehr viel nach, und das Glück sieht, daß einem bei Liebe und Gerechtigkeit Hören und Sehen vergehen kann.

Vier Augen, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, sehen mehr als zwei, und das ist sonderbarerweise auch bei diesen Blinden der Fall.

Wenn die blinde Liebe mit dem blinden Glücke sich vereinigt, so sieht das entstandene »Liebesglück«, daß diese Liebe keine Liebe und dieses Glück kein Glück ist, und wenn die Gerechtigkeit mit der Liebe zusammenkommt, so sieht die »Gerechtigkeitsliebe«, daß man unter vier Augen dem Glück zuerst auf die Hand und dann durch die Finger sehen muß.

Die Liebe, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, hat verbundene Augen, und das ist eine weise Einrichtung der Vorsehung, denn über jeder Minute der Liebe hängen tausend gezückte Schwerter im Leben. Die Menschen alle sind jede Minute bereit, den Henker der Liebe zu machen, und man bindet ja allen, die hingerichtet werden sollen, die Augen zu.

Die Liebe, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ist das große Theaterstück des Lebens, mit dem Unterschiede vor allen andern Theaterstücken, daß in der Liebe diejenigen Stücke, in denen sich die Liebenden am Ende nicht bekommen, die Lustspiele sind, die Stücke aber, in welchen sich die Liebenden am Ende glücklich bekommen, die Trauerspiele werden.

Die Liebe ist ein Schauspiel, bei welchem die Proben nicht vorhergehen, sondern in den Zwischenakten gespielt werden, und bei welchen die Generalprobe, die Ehe, erst dann stattfindet, wenn man die Rolle schon zu Ende gespielt hat.

Zum Liebhaben gehören Zwei, – sowohl zwei Personen, als zwei Sachen: »Liebe« und »Haben«; – Er muß lieben, Sie muß haben, – wenn sein Lieben Gegenhaben findet, findet ihr Haben Gegenlieben.

Die Liebe ist blind, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, und dennoch fängt sie, wie das Zeichnen, stets beim Auge an. Der Augapfel ist der Reichsapfel der Liebe, der Stechapfel der Gefallsucht, der Gallapfel der Sehnsucht und der Zankapfel der Eifersucht, und hat der Mensch erst einmal den süßen Augapfel der Liebe gekostet, so muß er in alle andern sauern Äpfel auch beißen. Die Thränen sind der süße Apfelmost vom Augapfel der Liebe.

Der blinden Liebe hat die gütige Gottheit die Thränen gegeben und sagte ihr: »Siehe damit!« und durch diese Thränen sieht die blinde Liebe das Morgenrot der aufgehenden Sehnsucht und das Abendrot der Trauer um die untergehende Neigung.

In der Trauer, nicht in der und um die Liebe, sondern in der Trauer nach der Liebe, da, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, unterscheiden sich die Männer von den Frauen. Die Frauen trösten sich über den Verlust der Liebe bei Wasser, bei Thränen, die Männer bei Wein. Das Mädchen sitzt am Sterbebette der Liebe, um mit ihr zu beten, der Mann sitzt an ihrem Sterbebette, um zu erfahren, ob sie ihm etwas vermache. Das Mädchen senkt in das Grab der Liebe bloß ihre Hoffnung, aber nicht die Erinnerung ein, der Mann begräbt mit seiner Liebe auch die Geliebte und die Erinnerung. Die Natur des Mädchens feiert den Untergang der Liebessonne, wie die Natur den Sonnenuntergang, durch eine wehmütige Ruhe, es wird eine klare, stille Nacht in ihrem Herzen, – der Mann aber sagt in der Liebe wie König Philipp: »In meinem Reiche geht die Sonne nicht unter!«

Die Liebe ist die Weltgeschichte des weiblichen Herzens und zugleich ihr Weltgericht, in dem männlichen Herzen hingegen ist die Liebe bloß eine Weltfabel, aber eine Fabel, bei welcher die Moral fehlt. Die Liebe ist bei den Frauen eine Himmelsleiter, bei den Männern ist sie zuerst eine Sturmleiter hinauf, und dann sogleich eine Feuerleiter, auf welcher man sich bloß herab rettet. Die Frauen hüllen ihre glückliche Liebe in einen jungfräulichen Schleier und ihre unglückliche Liebe in einen Witwenschleier, – die Männer verhüllen ihre glückliche Liebe in einen Weinnebel und ihre unglückliche Liebe in eine Tabakwolke. Auch in der Ehe, dieser Akademie der Liebe, in welcher man, wie in allen Akademien, bloß durch Disputieren seinen Grad erhält, steht der Mann freilich unter dem Pantoffel, aber die Frau steht unter dem Stiefel.

Man hört oft sagen: »das ist ein Pantoffelmann!« Niemand sagt: »das ist eine Stiefelfrau«, und doch gibt es gegen einen Pantoffelmann wohl zwanzig Stiefelfrauen, denen der häusliche, heimliche Ratsstiefel im stillen jede blühende Saat des Herzens und jedes Blümlein der zartem Empfindung hart und gebieterisch niederdrückt. In dem Herzen der flachsten Frauen findet der Mann immer ein Echo, aber in dem Herzen der erhabensten Männer finden die Frauen höchstens eine Antwort.

Am Traualtar, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, nimmt der Mann dem blinden Gotte seine Binde ab und bindet sie seiner Frau um die Augen, und die duldende, still leidende Frau nimmt diese Binde nur wieder ab, um sie als Wundbinde um ihr verwundetes Dasein zu binden.

Nicht das ist das Unglück, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, daß die Liebe blind ist, sondern daß die Ehe ein Augenarzt ist und ihr den Star sticht. Gott Hymen sagt: »Es werde Licht!« der Liebe geht ein kurioses Licht auf, sie löscht die Fackel aus und läßt dem Gotte der Ehe auf allerhöchsten Befehl die freiwillige Beleuchtung des äußern Schauplatzes über.

Das Glück, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ist auch blind; die Liebe hat sich bloß die Augen blind geweint, aber das Glück ist blind geboren. Man sagt: »Der hat mehr Glück als Verstand«, – das ist unmöglich, – das Glück ist ja selbst der Verstand, der Verstand aber ist kein Glück, und das ist das Unglück.

»Unglück im Spiel ist Glück in der Liebe«, das ist sehr richtig; wer unglücklich spielt, macht keine Partie, und wenn er alle Honneurs hat, und das ist ja eben das Glück in der Liebe, daß man am Ende mit allen Honneurs die Partie doch nicht macht.

»Wer das Glück hat, führt die Braut nach Hause«, wenn das Glück nicht blind wäre, so würde es die Braut nach ihrem Hause zurückführen, das wäre erst das wahre Glück. Glück und Unglück wandern miteinander, im Unglücke wird der Mensch erprobt, im Glück wird der Unmensch erprobt. Dieselbe Sonne des Glückes, die im Aufgehen und ersten Erscheinen das Herz des Menschen wie eine Rose aufschließt und mit zarter Empfindung übergießt, dieselbe Sonne, wenn sie hoch steigt, versengt sie dieses Herz, macht es bleich und welk.

»Glück und Glas, wie bald bricht das«, man muß eigentlich sagen: Glück, Glas und Herz, wie bald bricht das, – allein der Mensch geht am zertrümmerten Glücke, am zerschlagenen Glase und am zerbrochenen Herzen gleichgültig vorüber, und doch sind Glück, Glas und Herz nicht ergreifend, wenn sie ganz sind, und nur wenn sie gebrochen sind, schneiden sie das Leben wund und blutig.

Das Traurigste im Leben, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ist, daß das Glück blind ist, das Unglück stumm und die Glücklichen taub. Das Glück ist blind, und es ist ein Blinder, dem nicht einmal die Thräne gegeben ist, das Unglück aber hat Thränen, Thränen, die das blinde Glück nicht sieht und daher auch nicht trocknet. Die Thränen sind das Rosenöl des Unglücks, es muß gepreßt werden. Niemand trocknet die Thräne der Rose, sie wird zum Honig in ihrem Kelche und heilt die eigenen Wunden, so auch die Thräne im Auge des Unglücks, die niemand trocknet, sie kühlet heilend den eigenen Schmerz.

Das Auge, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ist der einzige Demant, den der Mensch nur nach seinem Feuer und nicht nach seinem Wasser schätzt, und dennoch wird die Göttlichkeit des Auges nicht in der Feuerprobe seiner Blitze, sondern in der Wasserprobe seiner Thränen erkannt. Wenn so ein Auge brennt, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, besonders ein schönes weibliches Auge, da werden augenblicklich alle Männer Schornsteinfeger und Feuerkommissäre und stürzen sich mitten ins Feuer; – wenn aber ein Auge von Thränen überschwemmt wird, da ist kein einziger Wasserkommissär, der mit einem Rettungsboote kommt. »Wem das Glück zu wohl will, den macht's zum Narren«, und in dieser Hinsicht sehen wir erst, wie blind das Glück ist, es sieht oft nicht, daß einer schon ohnehin ein Narr ist und kommt und macht ihn noch einmal zum Narren, darum ist der Mensch, der ein Narr war, und den das Glück noch einmal zum Narren machte, ein gemachter Mensch, der gar kein Narr ist.

Aber nicht nur das Glück, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, sondern auch die Gerechtigkeit ist blind. Die Gerechtigkeit hat die Augen verbunden, das eben ist das Übel, daß die Augen mancher Gerechtigkeit der ganzen Welt verbunden sind.

Die Augen mancher Gerechtigkeit sind wie die Augen im Schweizerkäse, wo nichts ist, da sind diese Augen, wo etwas ist, da hat sie keine Augen.

Wenn die Augen mancher Gerechtigkeit sind wie die Augen im Schweizerkäse, so sind die Augen mancher Anwälte und Sachwalter wie die Augen auf den Suppen – ist die Suppe recht fett, so machen sie große Augen, ist die Suppe aber mager, so machen sie kleinwinzige Äuglein.

»Was dem einen recht ist, ist dem andern billig«, das heißt, wenn zwei einen Prozeß haben, so findet es immer der eine billig, daß der andere recht bezahlen muß.

»Thue recht, scheue niemand«. – Kein Wort, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, hat bei den Männern und bei den Frauen eine so verschiedene Bedeutung als das Wort »niemand«. Die Männer verstehen unter jemand: niemand, die Frauen unter niemand: jemand. Man fragt einen Mann, »von wem haben Sie diese saubere Geschichte?« sagt er: von jemand, so heißt das: von niemand. Wenn man ein Frauenzimmer fragt, »an wen denken Sie?« sagt es: an niemand, so heißt das: an jemand – so sagt auch die Gerechtigkeit: »Thue recht und scheue niemand«, das heißt: »Thue recht und scheue jemand.«

»Liebe, Glück und Gerechtigkeit«, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, jedes dieser drei hat so seine eigene Sucht. Die Liebe ihre Eifersucht, das Glück seine Prahlsucht und die Gerechtigkeit ihre Sportelsucht. Die Liebe hat oft schon aufgehört, doch die Eifersucht dauert noch fort, und die Gerechtigkeit hat auch oft schon aufgehört, und die Sportelsucht dauert noch fort.

Ein guter Rechtsfreund ist wie ein guter Schachspieler, er gewinnt am Ende seine Partie, aber auf dem ganzen Brett ist nichts geblieben als ein paar Bauern.

Ein Rechtsfreund ist mitunter wie ein Hausfreund – der Hausfreund meint das Haus nicht, und der Rechtsfreund meint das Recht nicht. Der Hausfreund heißt Hausfreund, weil er kommt, wenn der Freund nicht zu Hause ist, und der Rechtsfreund heißt Rechtsfreund, weil er nicht selten dann kommt, wenn der Freund nicht beim Recht ist.

In dem großen Konzerte, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, welches das Leben diesen Blinden veranstaltet, wirken diese selbst auch mit. Die Liebe und die Gegenliebe spielen die vielhändige Ouvertüre zu jeder innigen Empfindung, die Gerechtigkeit deklamiert, recitiert und citiert, und das Glück singt seine große Bravourarie mit Begleitung des vollen Orchesters. Ja, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, das Glück ist ein großer Bravoursänger, seine Stimme hat das meiste Metall, allein dieser Sänger wird auch oft plötzlich heiser, und diese Heiserkeit ist kein Repertoirefieber, denn ein plötzlich heiser gewordenes Glück ist ein plötzlich laut gewordenes Unglück, denn der Mensch verliert dabei Stimme, Klang und Metall, aber die Methode bleibt ihm, und es ist sehr traurig, mit der Methode des Glücks in die Schule des Unglücks zu gehen.

Das Glück in jedem Unglücke ist, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, daß in jedem menschlichen Herzen eine Blume blüht, die, wie viele Blumen, gerade unter Wolken und Gewittern den reinsten Wohlgeruch aussendet: – es ist die Blume der Wohlthätigkeit.

Das Feuer ist stark, Wasser verlöscht es, Wasser ist stark, die Erde verschlingt es, die Erde ist stark, das Eisen durchwühlt sie, das Eisen ist stark, der Mensch zerbröckelt es, der Mensch ist stark, das Unglück überwältigt ihn, das Unglück ist stark, die Wohlthätigkeit bezwingt es, – die Wohlthätigkeit ist also stärker als Schicksal, Mensch und Unglück!

Die Wohlthätigkeit und die Dankbarkeit sind zwei Prediger, die aus allen Elementen zu dem Menschen predigen; – aus der Luft, denn die Luft gibt als Tauperlen wieder, was sie aus Qualm und Dunst empfangen hat; aus dem Feuer, denn es gibt als geläutertes Gold wieder, was es mit Schlacken empfing; aus der Erde, denn sie bezahlt mit Blüten, was sie als Moder empfangen, und aus dem Wasser, denn es trägt auf seinem wundgepeitschten Rücken seinen Peiniger ans Ziel!

Erhaben ist der Anblick der Luft, wenn das Morgenrot das Antlitz des Himmels übergießt und die erwachende Schöpfung aufruft zur heiligen Frühmesse in dem Heiligtume der Natur!

Erhaben ist die Erde, wenn die Fackel des Abendrotes ihr zur Ruhe leuchtet und die goldenen Bettgardinen von den Bergen über ihr niederhängen; – erhaben ist der Anblick des Feuers, wenn es in beneidenswerter Freiheit mit glühendem Odem wegschmilzt die Werke des Hochmuts, und erhaben ist der Anblick des Wassers, wenn in seinen tiefen und lautern Schoß der Himmel ausgeschüttet hat seine funkelnden Sterne, – erhabener aber ist der Anblick des Menschen, der seine volle Brust legt an eine leere Brust, und seine volle Hand in eine leere Hand, und sein volles Auge an ein leeres Auge, und am erhabensten ist der Anblick einer gebeugten Menschengestalt, die sich an einer andern emporrichtet, deren Blick zum Himmel und deren Thräne zu Boden fällt, und um deren zuckende Lippen die Wehmut zum Danke wird, der Dank zum Schweigen und das Schweigen zum Gebet!

Sie, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, haben sich heute zu einem solchen Zwecke hier versammelt. Sie haben sich und der Wohlthätigkeit einen neuen Kranz um das Haupt gewunden; aber auch mein Dank, mein inniger, herzlicher Dank für die rührende, hochherzige Teilnahme, die Sie der Sache der Menschheit schenken, unter welcher Form sie vor Ihnen erscheine, auch dieser mein Dank werde zum Schweigen, ein Schweigen, wofür Sie mir gewiß wieder Dank wissen werden. Ich kann bei dem Anblicke von so vielen Herzen, die für Wohlthätigkeit schlagen, nicht anders als auch wohlthätig werden, ich schließe also diese Vorlesung, und das wird Ihnen sehr wohl thun!


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