Moritz Gottlieb Saphir
Album geselliger Thorheiten
Moritz Gottlieb Saphir

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Va banque, den Thränen!

Es gab eine schöne Zeit, eine himmlische Zeit, eine Zeit, wo ich an Märchen, an Knecht Ruprecht, an Liebestreu' und an Thränen glaubte! Nur Thränen, Thränen waren mir die Beglaubigungsurkunde der Wahrheit, die beeidigten Zeugen der Empfindung, die Rechtsbeistände jedes edlen Gefühls!

Ach, ich wußte dazumal nicht, was Thränen sind; ich glaubte, sie seien ein Vorzug des wahren Schmerzes, des heiligen Unglücks, der innigen Liebe; ich glaubte, sie strömten gerade aus dem Herzen in die Augenwinkel; ich war ein Ignorant! Jetzt weiß ich aber, daß die Thränen bloß aus der Mündung der Thränenröhrchen kommen, daß sie ins Auge treten durch Verstopfung des Thränenkanals; jetzt weiß ich, daß auch die Hyäne und der Schakal Thränen vergießen, und die Heuchelei auch, und die Bosheit auch, und der Neid auch, und der Wahnwitz auch, und daß die Thränen nichts sind als willige, stets dienstfertige Augendienerinnen und Allerweltsgeschäftsträger!

Va banque, den Thränen!

Und kennt denn der Mensch, und sieht er denn jene Thränen, welche die echten Boten des zerdrückten Herzens, der eingesunkenen Brust, der zermalmten Empfindung, der zu Grabe getragenen Hoffnungen, der ausgebrannten Wünsche, der betrogenen Hingebungen und des vernichteten Schamgefühls sind?! Kennt er denn und sieht er denn jene Thränen, die in finsterer Nacht aus dem verschwiegenen Kissen vergossen werden? Jene heißen, ätzenden Thränen, die stehender Gram mit der hohlen Hand verhüllt?! Jene salzreichen Thränen, welche oft beim vollen Becher mit Champagnerschaum heimlich geschlürft werden? Jene Thränen, die ein edler, aufbäumender Stolz im gezwungenen Aufgeben dieses Stolzes in der Wimper zerdrückt? Jene Thränen, welche im Verborgenen die Wangen von tausend und abermal tausend in ihren edelsten Empfindungen Getäuschten die blassen Wangen furchen?

Nein, diese Thränen sieht und kennt der Mensch nicht! Er kennt nur die Thränen, welche Leidenschaft und Aufregung, nasser Jammer und all die offenen Schäden des Schicksals auf dem lauten Markte des Lebens vergießen!

Weil der Mensch aber die wahren Thränen nicht sieht und die Thränen, die er sieht, nicht wahr sind, darum:

Va banque, den Thränen!

Da ist ein blitzendes Auge, ein Feuerrad im flammenden Umschwung, es füllt sich mit Thränen, sie strömen über das schöne Antlitz in rollenden Perlen herab! Das schöne Weib weint, sie weint entsetzlich! Sie weint unstillbar! Warum weint sie? Der Herr Gemahl ist ein Tyrann! Er mißhandelt sie! Wie mißhandelt er sie? Er will ihr zu Weihnachten den Hut um neunzig Gulden nicht kaufen!

Da wiederum rinnen große Thränen über ein blühendes Angesicht; die klaren Tropfen strömen stets von neuem aus der unversiegbaren Quelle! Welch ein Unglück traf dieses liebliche Haupt? Welch ein Jammer drückt diese empfindsame Brust? Der Vater will nicht, daß sie einen Ball besuche, auf dem einige leichtfertige Gäste die schlichte Tugend zum Tanz aufziehen.

Da perlen große Tropfen über ein erglühtes Antlitz! Es sind Thränen der Freude über den Korb, den eine Freundin erhielt!

Da weint ein ernster Mann, ein bejahrter Mann weint und knirscht mit den Zähnen! Welch ein Unglück muß dieses Haupt ergriffen haben?! Sein Freund erhielt das Amt, um welches er sich gleichzeitig beworben!

Hier vergießt eine Theaterprinzessin Thränen, ganze Bäche rollen auf ein Zeitungsblatt in ihrer Hand herab, es sind »Thränen der Wonne«! In diesem Blatte steht:

»Sie übertraf sich selbst« – »Sie errang die höchste Stufe« – »Sie ist die Priesterin der Muse« u. s. w.

Wiederum vergießt sie Thränen, ganze Bäche rollen auf ein Zeitungsblatt in ihrer Hand, es sind »Thränen des unsäglichen Schmerzes«! In diesem Zeitungsblatte stand: ihre Kunstschwester »errang die Palme« u. s. w. Da stießen die gesalzensten Thränen auf den riesigsten Knoten der reizendsten Krawatte des elegantesten Jünglings! Welch einen Schmerz hat diese Brust erfahren? Die Königin des Balles hat einem andern Jüngling, mit einem andern Knoten an einer andern Krawatte, den Vorzug gegeben!

Da geht gebückt ein graues Haupt, eine langentbehrte Thräne preßt sich aus seinem tiefen Augenwinkel! Was mag dieses greise Haar für Jammer erfahren haben? Die Tänzerin, die gestern im Ballett solche reizende Pirouettes machte, hat den schmachtenden Schäfer von ihrer Thüre gewiesen! Va banque, den Thränen!

Es gibt nichts so Kleinliches, nichts so Geringfügiges, nichts so Albernes, nichts so Heuchlerisches, nichts so Unwürdiges, worüber nicht schon alle Menschen, zu allen Zeiten, allerlei Thränen vergossen haben und noch vergießen!

Es ist nichts auf Erden so gemißbraucht, so schändlich gemißbraucht worden als eben die Thränen! Nichts auf Erden ist so gleich und so gerne und so vollauf bereit, Falschheit und Bosheit und jede leise Regung des Herzens mit falschem Zeugnis zu unterstützen, als eben die Thränen!

Va banque, den Thränen!

Mit erheuchelten Thränen wird das Herz des Mächtigen unter Wasser gesetzt; mit erheuchelten Thränen wird ein großes Publikum zur Rührung gestimmt; mit erheuchelten Thränen wird das eiserne Herz, die eiserne Tugend erschüttert; mit erheuchelten Thränen wird Vergebung und Versöhnung erwinselt; mit erheuchelten Thränen wird Entsagung und Aufopferung vorgelogen; mit erheuchelten Thränen wird Treue und Liebe ersäuft; mit erheuchelten Thränen werden Herzen und Legate gewonnen!

Va banque, den Thränen!

Geht von mir, ihr Botenläufer und Lohnlakais aus allen Gasthöfen und Schlupfwinkeln der menschlichen Leidenschaften! Geht von mir, ihr Larventräger und Komödiantinnen aus dem Lust- und Trauerspiel des Lebens! Geht von mir, ihr Glasperlen und bunte Kügelchen aus der großen Galanterie und Quinquailleriehandlung der menschlichen Kunstempfindungen, ihr täuscht mich nicht mehr, ich kenne euch, ich durchschaue euch!

Va banque, den Thränen!


 << zurück weiter >>