Moritz Gottlieb Saphir
Album geselliger Thorheiten
Moritz Gottlieb Saphir

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Humoristische Vorlesungen

Sympathie, Antipathie, Allopathie, Homöopathie, Hydropathie, oder: Auf wie vielerlei Weise kann man zu dem Menschen sagen: Gibs Geld her!

Gehalten im Josephstädter Theater zum Besten der verunglückten Pester.

Mit Ihrer gütigen Erlaubnis, meine hochverehrten Hörer und Hörerinnen, werde ich Sie durch diese meine Vorlesung, ganz in die Lage jener Unglücklichen zu versetzen suchen, für welche Sie mir Ihre edle und freundliche Teilnahme schenken. Meine Vorlesung nämlich wird erst Ihre etwaige Erwartung aufs Eis führen, da wird sie einen gewaltigen Stoß bekommen, und nach diesem Eisstoß kommt sogleich das ungeheure Wasser, wovor selbst der dritte Stock nicht sicher ist: rette sich, wer schwimmen kann! Jedoch findet ein großer Unterschied zwischen jenem Wasser und diesem statt, jenes Wasser hat Tausende hingerissen, dieses Wasser wird keinen einzigen hinreißen; dort fanden viele und hier nur wenige Einfälle statt, das ist aber nicht zu verwundern, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, wenn man weiß, daß dort alles auf Sand gebaut war, ich aber baue auf edle Herzen, und das ist ein fester Grund.

Schon einmal, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, haben Sie mir Ihre gefällige Aufmerksamkeit zum Besten der Abgebrannten in Wiener-Neustadt geschenkt, heute schenken Sie mir dieselbe zum Besten der Überschwemmten. Ihre Güte hat also bei mir die Feuer- und Wasserprobe bestanden, und diese meine Leseprobe ist zugleich Ihre Gold- und Geduldprobe. Aus doppeltem Grunde lese ich gerne zum Besten anderer vor Ihnen: 1) weil man nie besser liest, als wenn man für das Beste vor den Besten liest, und 2) weil man dann nicht von dem Vorleser sagen kann: er liest nicht zum besten!

Alles ergreift jetzt die Gelegenheit, alles zum besten zu haben, und alle Künste, Wissenschaften und Systeme sind nichts als gute, bessere und allerbeste Variationen auf das Thema: »Liebe Menschheit, gib das Geld hei!«

Nicht nur bei dieser leider zu traurigen Veranlassung, sondern auch sonst im Leben sind zum Beispiel alle Konzertzettel doch nichts als gedruckte Pistolen mit der Inschrift: »Liebe Menschheit, gib das Geld her!« es wird von allen Seiten blind geladen, dann geht's los. Die meisten blitzen ab! – Die so überhandnehmenden musikalisch – deklamatorischen Konzerte, das sind die Pistolen mit zwei Läufen, das Publikum lauft am Ende auch fort, das ist der dritte Lauf.

In 50 Jahren, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, wird es zum Beispiel gar keine Räuber mehr geben; wenn ein Reisender durch einen Wald fahren wird, werden sechs Räuber mit einem Konzertzettel kommen und werden ihn höflich einladen zu einer musikalisch-deklamatorischen Akademie, zum Besten einer heruntergekommenen Räuberfamilie, mit folgendem Programm:

1) Arie aus »Robert der Teufel«: »Ach, das Geld ist nur Schimäre«, vorgetragen von einem dreijährigen Räuberchen, welches seit fünf Jahren auf einer Kunstreise begriffen ist.

2) Monolog aus »Hamlet«: Gehört das Geld sein oder nicht sein, das ist die Frage!« vorgetragen von einem Mordkünstler!

3) Humoristische Vorlesung einer geladenen Flinte über das ungeladene Thema: »Schieß mir Geld vor!« – Sämtliche mitwirkende Räuber haben aus Rücksicht für den Unternehmer ihre Partien und ihren Anteil übernommen.

Überhaupt, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, sind alle neuen Systeme und Erscheinungen in Kunst und Wissenschaft nichts als ebenso viele Umlaute der Ausrufung: »Gibs Geld her!« Sympathie, Allopathie, Homöopathie, Hydropathie sind nichts als neue Fragezeichen: Wie soll der Mensch das Geld hergeben?

Meine heutige Vorlesung, der Versuch, Wasser mit Wasser zu heilen, reihet sich diesen Systemen ebenfalls an. Das Wasser, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, gleicht gewissermaßen dem Verstande. Man sagt: Kriegsnot, das heißt Überfluß an Krieg, Feuersnot, Überfluß an Feuer, Hungersnot, Überfluß an Hunger, allein Wassersnot heißt ebensogut Mangel an Wasser als Überfluß an Wasser; grade wie bei dem Verstande, Überfluß an Verstand ist ebenso ein Unglück als Mangel an Verstand, und es gäbe oft Gelegenheiten, Konzerte zu veranstalten zum Besten der Verunglückten durch Verstandesüberfluß. Es ist sonderbar, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, man bauet barmherzige Anstalten für jene, welche Mangel an Verstand haben, da braucht man große Lokale, warum bauet man keine barmherzigen Anstalten für jene Unglücklichen, welche Überfluß an Verstand haben, da braucht man nur ein ganz kleines Lokal.

Aber, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ist es denn mit dem Glücke nicht ebenso? Ist nicht Überfluß an Glück eben ein solches Unglück als Mangel an Glück? Glück und Gold müssen einen Zusatz von harten Metallen haben, wenn sie fest und dauernd sein sollen! Stehendes Unglück ist ein stehender Sumpf, in dem das menschliche Herz verwest, beständige Glücksfälle sind wie Wasserfälle, in denen das menschliche Herz versteinert. Das menschliche Leben ist ein Baum, sein Blatt will ein anderes Wetter, seine Blüte will ein anderes Wetter, und seine Frucht will wieder ein anderes Wetter. Es ist eine traurige Bemerkung, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, das Glück geht wie ein Pilger durchs Leben, allein und einsam, und klopft nur an einzelne Thüren an. Das Unglück aber zieht durch die Welt wie eine Karawane, wie ein Kranichenzug. Auch auf der Erde stehen die Glückssterne allein und entfernt auseinander, die Unsterne aber viel und dicht beisammen, so wie am Himmel die leuchtenden Morgen- und Abendsterne allein durch den Himmel wandeln, das Regengestirn aber und die Nebelsterne stehen in Massen zusammen! Ein einzelner aus Millionen gewinnt das große Los, ein einziger aus Millionen beerbt einen Onkel aus Ostindien, ein einziger aus Millionen macht eine glückliche Heirat, aber die Pest rafft Millionen hin, Feuer, Wasser, Vulkane zerstören das Glück von Tausenden. Und dennoch vergessen wir es unserem Nebenmenschen in Jahren nicht, wenn er ein Glück gemacht hat, ein Fremder und ein Unglück aber sind uns nur in den ersten drei Tagen interessant. Es gibt nur ein Unglück, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, welches alle Menschen ohne Ausnahme von Grund aus erschüttert – ein Erdbeben!

Ein jedes neue System ist ein neues Unglück. Was heißt ein System? mehrere gleichartige Begriffe in einen einzelnen Zusammenhang gebracht; oder deutlicher erklärt: mehrere einzelne zerbrochene Sessel, auf welchen niemand allein sitzen kann, in eine lange Bank zusammengenagelt, auf welcher alle miteinander nicht sitzen können.

Die Homöopathie ist ein neues System.

Die Allopathie sagt zu ihren Patienten: »Gibs Geld her mit Scheffeln.« Die Homöopathie sagt: »Gibs Geld her mit Löffeln.« Die beste Auskunft über Allopathie und Homöopathie gibt die vierte Auflage des Brockhausschen Konversations-Lexikons. Bei der Rubrik Allopathie heißt es: suche Homöopathie, und bei Homöopathie heißt es: suche Allopathie; sie sind beide mit Recht gesucht, die Homöopathie sowohl als die Allopathie, obwohl sie nicht im Leben, wie im Konversations-Lexikon, jene, die sie suchen, sich gegenseitig zu schicken.

Die Philosophie, das Jus und die Medizin sind die drei Grundstücke des menschlichen Geistes. Die Philosophie ist ein Wald, je tiefer man eindringt, desto finsterer und unsicherer. Das Jus ist ein Obstgarten, in dem die Bäume Früchte tragen; und die Medizin ist ein Kartoffelfeld, die Früchte liegen in der Erde!

Der Allopath sagt zu seinem Kranken: »Friß Vogel oder stirb!« Der Homöopath sagt zu seinem Kranken: »Iß Vogel nicht oder stirb!« Und der Hydropath sagt: »Trink Vogel oder stirb!«

In der Allopathie sind die Kranken wie die schlecht verwalteten Theaterkassen: sie nehmen viel ein, aber es gibt nicht viel aus. In der Homöopathie sind die Kranken wie die reisenden Geschäfts-Kommis: sie nehmen wenig ein, aber sie erhalten sich von den Diäten. Die Allopathie gibt Medizin, die Homöopathie gibt Versicherungen; die Allopathie braucht Apotheken, aber die Homöopathie braucht Hypotheken.

Unsere Schriftsteller, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, sind fast alle Homöopathen, sie wollen die kranke Zeit kurieren und geben ihr solche Mittel, von denen eine gesunde Zeit krank werden muß.

Die Mehrzahl jedoch unserer Schriftsteller sind nicht nur Homöopathen, sondern auch Hydropathen, jede Buchhandlung ist ein Gräfenberg und jeder Buchhändler ein Prießnitz.

Allopathie, Homöopathie und Hydropathie sind die drei Mahlmühlen der Medizin. Allopathie die Windmühle, Homöopathie die Pulvermühle und Hydropathie die Wassermühle. Allopathie und Homöopathie zusammen machen die Zwickmühle. Im Genre der Hydropathie, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, wäre ein litterarisches Gräfenberg für schreibkranke Schriftsteller eine wohlthätige Anstalt. Ein Schriftsteller, der an der Schreibsucht leidet, müßte folgendermaßen kuriert werden: Des Morgens gießt man ihm erst einen gestandenen Roman von der Frau von Chézy über den Kopf, gleich darauf bringt man ihm zwölf Seidel frische Journale bei, dann wird er in nasse Makulaturmatratzen aus Preisnovellen eingewickelt und tüchtig durchgewalkt, dann führt man ihn in ein Bad aus Briefen von Verstorbenen und Lebendigen, sodann bekommt er ein Douchebad aus Musenalmanachen und Albums, dann kommt er unter die dramatische Brause, und vor dem Schlafengehen trinkt er vier Gläser moderne Humoristik. Wenn der Patient diese Kur sechs Wochen aushält, ist er kuriert und schreibt sein Lebtag nicht wieder.

Woran liegt es aber, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, daß man jetzt so viel allopathische, homöopathische und hydropathische Kuren hat und gar keine sympathische? Das kommt daher, weil sich jetzt unsere Männer und Frauen ohne alle Sympathie die Kur machen. Bei den Frauen, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, findet die Homöopathie den meisten Anklang, weil sie, was Scherz und Ernst auch gegen sie sagen mag, auf jeden Fall eine geistreiche Erscheinung bleibt und die Frauen im allgemeinen alles Geistreiche schneller und lebhafter erfassen als die Männer. Die Homöopathen mögen daher wie die geistreichen Männer viel geliebt werden, aber vielleicht auch wie jene selten geheiratet, weil sie beide – wenig verschreiben.

Die Liebe, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ist eine allopathische Krankheit, die von der Ehe homöopathisch kuriert wird. Was heißt denn eine »Heirat aus Liebe?« das heißt: »Heirat, und aus Liebe.« Unsere Liebhaber sagen zu den Töchtern reicher Eltern: »Mädchen, nimm mein Herz hin!« das ist wieder eine Variation auf das Thema: »Vater, gib dein Geld her!« Plato sagt: »Wenn sich zwei Herzen lieben, so haben sie sich schon einst in einer andern Welt geliebt und haben sich hier bloß wiedergefunden.« Das ist ein Finden, bei dem der redliche Finder nicht immer belohnt wird; allein, wie kommt es, daß man in einer andern Welt gewiß nur ein Herz geliebt hat, und hier mehrere wiederfindet? Dieses Wiederfinden, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, erinnert an eine bekannte Anekdote. Es fand einmal jemand einen Dukaten; als er ihn zum Wechsler brachte, sagte dieser: »Der Dukaten ist nicht vollwichtig, Sie müssen zwölf Kreuzer daran verlieren,« – Einige Zeit darauf fand er wieder einen Dukaten, er ließ ihn aber liegen und sagte: »Ich heb' dich nicht auf, soll ich wieder zwölf Kreuzer verlieren?« so geht es vielen mit den vielen Herzen, die sie wiederfinden, sie lassen es am Ende liegen, indem sie ausrufen: »Soll ich wieder zwölf Kreuzer verlieren?«

Der Mensch, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ist das widersinnigste Geschöpf in der Natur, der unedelsten Triebe schämt er sich nicht, den Mund und den Magen speist er öffentlich, sein Herz aber, seine Liebe, seine Sehnsucht zu nähren, das schämt er sich und sucht das Geheimnis, gerade im Gegensatze mit der gewiß zarten Blumenwelt. Die Lilie erschließt ihren weißen Schoß und die Rose ihren glühenden Busen frei dem Hauch der Liebe, die Wurzel aber, mit der sie speist und trinkt, verschließt sie schamhaft in der Nacht der Erde. So unterscheiden sich auch in der Liebe die Männer von den Frauen. Die Frauen, diese Phantasieblumen der Putzmacherin Natur, verhüllen ihre glückliche Liebe in stille Schwärmerei und ihre unglückliche Liebe in durchsichtige Wehmut. Die Männer aber verhüllen ihre glückliche Liebe in undurchdringlichen Egoismus und ihre unglückliche Liebe in undurchdringlichen Tabakdampf. Die Männer nennen die Frauen ihre Gottheit, aber die Opfer soll man ihnen selbst bringen, und in Hinsicht der Opfer sind die Frauenzimmer oft umgekehrte Isaaks. Isaak erkaufte sein Opfer mit einem Schaf, viele Frauenzimmer müssen ihr Schaf noch mit einem Opfer erkaufen! Unter den Männern gibt es mehr falsche Liebhaber und mehr falsche Freunde, unter den Frauenzimmern gibt es bloß mehr falsche Thränen und mehr falsche Ohnmachten. Die falschen Liebhaber, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, sind wie die schlechten Wettergläser, sie stehen auf Veränderlich, zeigen auf Beständig, steigen auf Blutwärme und sinken unter Null. – Die falschen Freunde sind wie die Ferngläser, auf der einen Seite vergrößern sie ihren Gegenstand bei Nahe, und auf der andern Seite verkleinern sie ihn bei weitem. – Die falschen Ohnmachten der Frauen sind auch nichts als Bittschriften mit geschlossenen Augen und sagen im Grunde wieder nichts anders als: »Lieber Mann, gibs Geld her!« Die falschen Frauenthränen aber sind bald zu erkennen; wenn die Frauen weinen und schweigen, so sind das stille Wasser, sie sind tief und quellen aus dem Herzen; wenn die Frauen aber weinen und reden, dann hat es nichts zu bedeuten, denn Frauenthränen mit langen Reden und Kölner Wasser mit langen Empfehlungen sind niemals echt! – Frauen, die weinen und sprechen auf einmal, sind Wolken, die unter dem Regen donnern, beides schadet nicht. Überhaupt sind im menschlichen Leben die Frauen die Wolken, die Männer der Wind, der ihnen nachjagt.

Jedes einzelne Frauenzimmer und jedes einzelne Wölkchen dienet nur dazu, unsern Lebenshimmel zu verschönern, seine Einförmigkeit zu unterbrechen und seinen Reiz zu erhöhen; wenn aber viele Frauen und viele Wolken zusammenkommen, wenn sie sich gegenseitig entleeren, dann ist das Ungewitter fertig. Von den Frauenzimmern und den Wolken sind die schwarzen und die brünetten die Blitz- und Feuerwolken; die gelben und blonden, die näselnden und schmollenden, sie grollen ganz still fort, bis sie uns das Haupt gewaschen haben; die grauen sind die Donnerwolken; die edlen, die lautern, die erhabenen der Frauen, das sind die hochgehenden Wolken, sie kommen dem Himmel am nächsten, durch sie fällt Mondenschein und Sternenlicht milder auf die Erde, durch sie allein vermag das Aug' in die Sonne zu schauen, und wenn diese hochgehenden Wolken regnen, so sind es segensreiche Thränen. Diese Wolken sind die Töchter der Sonne, und wer die Töchter haben will, der muß der Mutter klar ins Auge sehen können! So, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ist auch die schönste, die herrlichste Frau im Leben: »die Wohlthätigkeit«, die Tochter des Unglücks, und wir müssen der Tochter halber uns mit dem Unglück befreunden. Und wächst denn nicht im ganzen Leben jedes Glück an der Grenze eines Unglücks, jede Freude am Rande eines Kummers, jedes Blümchen an den Lippen eines Abgrundes und das Leben selbst am Saume des Grabes?

Die Züge der wahren Menschheit sind nicht aus dem Glücke zu erkennen, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, denn das Glück ist ein Porträtmaler, es schmeichelt; die Züge der wahren Menschheit erkennt man nur aus dem Unglücke, denn das Unglück ist ein Steckbrief, der den Menschen verfolgt, und Steckbriefe zeichnen gräßlich, aber wahr!

Die Freude sieht auf dem menschlichen Antlitze aus wie ein weltliches Lied, der Schmerz aber wie ein Gebet; in den Freudenthränen spiegelt sich bloß die Erde ab, in den Schmerzensthränen aber der Himmel!

Das ganze Unglück der Welt, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, kommt von drei schlechten Einrichtungen der Welt her:

1) Daß man die Häuser von unten hinauf bauet und nicht von oben hinab.

2) Daß in unsern Lust- und Trauerspielen der letzte Akt nicht zuerst spielt.

3) Endlich, daß die Menschen ihre Leichenreden und Leichensteine erst nach dem Tode bekommen, und nicht sogleich, wenn sie geboren werden.

Bedenken Sie, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, wenn unsere Hausherren anfingen, von oben hinab zu bauen, so würden sie sogleich sehen, daß ihnen der Bau zu hoch kommt; wenn der Hausherr, bevor sein Haus gebaut ist, schon auf dem Dache desselben stände, so bekäme er eine Übersicht über das Ganze; überhaupt müssen die Hausherren schon vor dem Bau auf dem Hause stehen, denn bevor sie noch bauen, nehmen sie doch schon Gelder darauf auf, und bis sie von Grund aus zum Hause kommen, gehen sie vom Hause aus zu Grund. Jeder Hausherr ist das Jahr hindurch viermal eine Variation auf das gewohnte und bewährte Tema: »Liebe Partei, gib unparteiisch dein Geld her«, oder: »Der Mensch muß immer höher hinauf!« und jeder Einwohner ist das ganze Jahr nichts als eine stets gesteigerte Erwartung.

Wie angenehm wäre es nicht, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, wenn in unsern Lustspielen der letzte Aufzug zuerst käme! Ich will damit nicht sagen, daß die andern Akte dadurch besser würden, sondern, daß sie überhaupt dann gar nicht kämen; denn in einem Lustspiele sollte man in den ersten Akten den Knoten schürzen und in dem letzten Akte ihn lösen; in unsern Lustspielen aber handelt es sich nie um einen Knoten, sondern nur um Schürzen!

Das Schlimmste aber, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ist das Dritte, daß die Menschen ihre Leichenreden und Leichensteine erst nach dem Tode erhalten und nicht nach ihrer Geburt! – Man sollte jedem Menschen sogleich wie er geboren wird seinen Leichenstein vor die Thüre setzen, ganz mit der Inschrift, die er nach seinem Tode bekäme. Eine Stadt von solchen Leichensteinen wäre eine große Schule der Moral, sie würde das Leben nicht zum Gottesacker, sondern zum Acker Gottes machen und jedes Haus zum Friedhof; an diesen Leichensteinen sollte man die Kinder lesen lernen, so würden sich die Menschen gewöhnen, im Leben das zu werden, was von ihnen nach dem Tode gesagt worden ist! Ein jeder Mann würde alle Tage von sich lesen: »Hier liegt der edle, gerechte, wohlthätige Herr so, so; sein Herz war lauter, sein Wandel gerecht, er war der Erde und des Himmels wert, Friede seiner Asche!« – Jede Frau würde von sich lesen: »Hier ruht die Blume der Frauen, das edelste Herz, die getreueste Geliebte, die zärtlichste Gattin, die liebevollste Mutter u. s. w. u. s. w,«; dann würden sich alle Lebendigen vor sich selbst als Tote schämen und so leben, daß sie ihrer Grabschrift wert werden. Überhaupt sollte man jedem Manne am Tage seiner Heirat einen Leichenstein setzen mit der Inschrift:

»Hier unter diesem Leichenstein
Ging dieser Mann zu Prüfung ein,
Er wartet auf die ewige Ruh',
Er drückt erst ein, dann beide Augen zu!«

Früher, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, heiratete man aus Sympathie, jetzt heiratet man aus Homöopathie, Sympathie und Antipathie. Die Homöopathie gibt den Kranken jene Mittel, welche bei gesunden Menschen dieselbe Krankheit hervorbringen. Wenn also zwei Menschen eine gegenseitige Antipathie gegen sich haben, so muß diese Antipathie dadurch geheilt werden, daß sie sich heiraten, denn die Heirat bringt bei gleichgiltigen Menschen eine Antipathie hervor. Das Gesetz der Herzenshomöopathie heißt also: »Liebe aus Sympathie und heirate aus Antipathie.« – Hufeland sagt: »Die Sympathie besteht in der Wechselwirkung zweier Dinge oder Wesen, die Antipathie aber besteht in der Atmosphäre, die sich um ein gewisses Wesen bildet, und die wir nicht ertragen können.« Die zarteste Sympathie besteht also zwischen Schuldnern und Gläubigern, denn diese stehen in beständiger Wechselbeziehung, wenn aber der Wechsel fällig ist, bildet sich um den Gläubiger eine Atmosphäre, die der Schuldner nicht ertragen kann. Die Sympathie des Gläubigers ist also nur eine Variation auf das Thema: »Gib mir mein Geld schon!« und die Antipathie des Schuldners eine Variation auf das Thema: »Laß mir dein Geld noch!«

Die Menschen, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen sagen oft: »Ich weiß nicht, warum? aber gegen diesen Menschen habe ich eine Antipathie!« Aber selten sagt jemand: »Ich weiß nicht, warum? aber für diesen Menschen habe ich eine Sympathie!« Für die Antipathie hat der Mensch ein Augenmaß, aber nicht für die Sympathie. – So räumen viele Menschen leider in ihrem Herzen der Liebe bloß die gesetzgebende Gewalt ein, dem Hasse aber die vollstreckende Gewalt. Überhaupt hat von den Leidenschaften in den Herzenskammern das Haus der Gemeinen leider das Übergewicht über das Haus der Edlen.

In unserem Herzen, in diesem Konzertsaale der Leidenschaften, deklamieren stets drei große Schauspielerinnen auf einmal: die Erinnerung deklamiert den Epilog der Vergangenheit, die Täuschung den Monolog der Gegenwart und die Hoffnung den Prolog der Zukunft; aber Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind bloß drei Silben der großen Scharade der Zeit, welche uns in dieser Welt aufgegeben wird, deren Auflösung aber erst in einer andern Welt folgt.

Der Mensch, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, geht wie ein Kabinettskurier des Himmels durch das Leben, er trägt seine Sendung versiegelt mit sich, er kennt den Inhalt seiner Depesche nicht, bloß derjenige edle Mensch, dessen Herz schon auf dieser Erde magnetisch wach geworden ist, der legt diese Depesche gläubig auf die Herzgrube und liest ihren Inhalt mit geschlossenen Augen. Die Kunst, glücklich zu sein, besteht, möchte ich sagen, in den Sympathiemitteln, zu dem Leben zu sagen: »Dasein, gib dein Geld her!«

Das Geld des Daseins, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, besteht darin: der Vergangenheit den Glanz, der Zukunft den Duft und der Gegenwart den Geschmack abzugewinnen.

Jede gegenwärtige Stunde im Leben ist bloß die Erzählung der gewesenen Stunde und das Programm der kommenden Stunde, zwischen Erzählung und Programm dämmert unser Leben hin wie ein Traum zwischen der entschwindenden Nacht und der kommenden Morgenröte und sammelt wie die Biene in der Dämmerung den süßesten Honig für seine Herzenszelle.

Das Leben ist süß, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, aber es gibt etwas, das noch süßer ist, es ist die Liebe. Die Liebe ist süß, aber es gibt etwas, das noch süßer ist, es ist die Versöhnung. Die Versöhnung ist süß, aber es gibt etwas, das noch süßer ist, es ist das Bewußtsein. Das Bewußtsein ist süß, aber es gibt etwas, das noch süßer und das Süßeste ist, es ist das Lächeln der Dankbarkeit unter den Thränen des getrösteten Unglücks. Nur der Sehende kann den Blinden begreifen, nur der Gläubige den Ungläubigen bemitleiden und nur der Glückliche sich an dem dankbaren Lächeln des getrösteten Unglücks erfreuen.

Und so möge Sie denn, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, dieses Lächeln heute begleiten und Ihnen widerstrahlen aus dem Lächeln eines geliebten Angesichts, aus dem Lächeln eines geliebten Freundes, aus dem Lächeln eines zärtlichen Gatten, aus dem Lächeln eines holden Kindes oder aus Ihrem eigenen Lächeln, wenn Sie abends auf Ihrem Kissen, auf diesem Erdgeschoß aller Träume und Luftschlösser, im Bewußtsein einer edlen That entschlummern.


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