Emilio Salgari
Pharaonentöchter
Emilio Salgari

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Erfüllung des Schicksals

Fast zu derselben Zeit, als sich König Pepi in das Nilbecken begab, um seinen letzten Trumpf gegen den Bruder auszuspielen, hatte eine Sänfte, begleitet von einem Trupp Bogenschützen, den Pharaonenpalast verlassen. Sie wurde von vier starken nubischen Sklaven getragen. Unter ihrem Zeltdach befanden sich Nitokris und Nefer.

Die Prinzessin hatte, nachdem sie Mirinris Begnadigung erlangt, den ihr zugeteilten Soldaten Befehl gegeben, sie zu begleiten, um den Unglücklichen zu befreien. Sie war zuversichtlich und heiter. »Bald werden Mirinris Qualen ein Ende haben!« sagte sie frohlockend. »Mein Vater wird nichts mehr gegen ihn unternehmen.«

»Wirst du ihn schützen vor jeder Gefahr?« fragte Nefer.

»Vor jeder!«

»Auch wenn er sich des Throns bemächtigt?«

»Wenn mein Vater gestorben ist, wird er Pharao von Ägypten werden.«

»Den Tod des Königs wird er nicht abwarten. Um den Thron zu erobern, hat er die Wüste verlassen!«

»Er wird sich meinem Wunsch fügen, denn er liebt mich.«

Nefer verstummte und senkte das Haupt, und ein schmerzvoller Ausdruck lag erneut auf ihrem schönen Gesicht.

Als die Sänftenträger außerhalb der Stadt waren, beschleunigten sie ihre Schritte, bis nach den Ausläufern der libyschen Bergkette die zahlreichen Pyramiden der Nekropolis von Memphis sichtbar wurden.

Die Mädchen entdeckten inmitten des riesigen Geländes sofort die aus grauen Basaltblöcken gebildete Mauer, die den Eingang zum unterirdischen Teil der Totenstadt kennzeichnete. Sie erschraken bei diesem Anblick.

»Dort werden wir ihn finden«, sagte Nefer, »aber wird er noch am Leben sein? Wird er sich nicht aus Verzweiflung getötet haben?«

Auch Nitokris' Herz erbebte.

»Schweig, Nefer!« bat sie. Voller Ungeduld rief sie den Nubiern zu, noch mehr zu eilen.

Jetzt hielt die Sänfte bei den Grabstätten, die der Wüstensand zum Teil bedeckt hatte. Kein menschliches Wesen ringsum.

Nitokris und Nefer stiegen aus. Voller Beklommenheit folgten sie den Bogenschützen, die den fünften Stein an der Mauer als denjenigen bezeichneten, der Mirinri eingeschlossen hatte. Die Soldaten machten sich sogleich ans Werk, den Block wieder zu entfernen. Sie hatten das Handwerkszeug dazu, schwere, keilförmige Hämmer und Treibpfähle, mitgebracht. Aber es war eine schwierige Arbeit; erst nach Stunden gelang es, den Rand des zwei Meter hohen Steines zu entfernen.

Als der Block schließlich unter großer Anstrengung fortgerückt war, horchte die Prinzessin eilig, ob irgendein Ton im Innern der Höhle vernehmbar war.

Alles blieb still.

Vielleicht hatte sich der Unglückliche in den dunklen Gängen verirrt? Warum lockte ihn der Lichtschein nicht an? Eine grenzenlose Angst überfiel sie.

»War der Serdab unversehrt, oder könnten sich Steine abgelöst und den Gefangenen getötet haben?« fragte sie die Bogenschützen.

»Es war kein Einsturz zu befürchten«, antwortete man ihr.

»Hat sich der Gefangene gesträubt, als ihr ihn hier eingemauert habt?«

»Nein.«

»Zündet die Fackeln an! Wir wollen ihn suchen!«

Hinter dem Eingang befand sich eine aus mächtigen Stufen bestehende Treppe, die unter die Erde führte, und zwar in einen langen, gewölbten Gang. Zu beiden Seiten dieses Ganges erblickte man eine Unzahl einbalsamierter Tiere: Katzen, Ibisse, Krokodile und andere, die vom Volk verehrt wurden.

Immer weiter führte der Gang. Den Eindringenden strömte Modergeruch entgegen, von den Mumien armer Leute, deren Einbalsamierung lange nicht so sorgfältig war wie die der Reichen und Fürsten.

Auf Befehl der Königstochter ließen die Soldaten schließlich einen lauten Pfiff ertönen, der bis in die entlegensten Winkel der Höhle dringen mußte.

Nach wenigen Augenblicken bangen Wartens wurde ein schwacher Laut hörbar.

Nitokris und Nefer fuhren zusammen. »Das war eine menschliche Stimme!« riefen sie beide, »Suchen wir weiter!«

Der Gang schien kein Ende zunehmen. Ab und zu verzweigte er sich in verschiedene Richtungen. Wieder riefen die Suchenden nach dem Gefangenen. Diesmal noch lauter und länger.

»Er ist tot«, seufzte Nefer. »Jener Laut wird nur ein Echo gewesen sein.«

»Halt!« sagte da der Führer der Eskorte. »Ich höre Schritte!«

»Mirinri!« riefen beide Mädchen wie aus einem Mund.

Nach einer Pause waren Worte aus der Ferne vernehmbar. »Wer hat den Mut, mich zu suchen?«

Dann hörte man erneute, deutlichere Schritte auf dem Steinboden.

»Laßt zwei Fackeln hier und erwartet uns am Ausgang der Grabstätte«, befahl die Prinzessin ihren Begleitern, und tatsächlich waren die Soldaten kaum hinter der Gangbiegung verschwunden, als auch schon Mirinri erschien.

»Ihr hier?« rief er beim Anblick der beiden Retterinnen aus.

»Träume ich, oder hat sich meine Seele vom Körper getrennt?«

»Nein, es ist Wirklichkeit – wir sind gekommen, dich zu erlösen.«

»Und mit mir zu sterben?«

»Du bist frei! Du wirst im Pharaonenpalast erwartet!« jubelte die Königstochter. »Niemand wird uns mehr voneinander trennen!«

Er schlang seinen Arm um sie und nahm die Fackel aus ihrer Hand. So legten sie beide den langen Weg zurück bis zum Ausgang der Höhle.

Keiner von beiden dachte an Nefer, die ihnen still folgte. Obwohl sie seit langem wußte, daß sie auf Mirinris Liebe verzichten mußte, litt sie unsäglich.

Als sie sich dann dem Eingang in der Mauer näherten, erinnerte das eindringende Tageslicht Mirinri wieder an die Oberwelt und die vorausgegangenen Ereignisse. Besorgt fragte er, ob man etwas von Unis wisse.

»Erkläre mir, wer Unis ist«, bat Nitokris.

»Mein Erzieher, der mir Freund und Vater war.«

Nun brach Nefer ihr Schweigen. »Er ist verhaftet worden«, sagte sie.

Der Jüngling erschrak. »Wehe, wenn diesem Mann ein Haar gekrümmt wird!« rief er drohend. »Der König müßte es büßen!«

»Nefer«, wandte sich die Prinzessin an ihre Gefährtin, »ich bitte dich, geh du voraus und erwirke Gnade für ihn. Sag meinem Vater, daß er Unis freigeben muß, wenn er seine Tochter je wiedersehen will.«

»Ich gehe.«

Nachdem sie aus der Höhle hinausgetreten waren und wieder freie Luft atmeten, bestieg also Nefer die Sänfte, während die Prinzessin mit Mirinri den Weg zum Palast eiligst zu Fuß zurücklegen wollte.

Bald hatten die Sänftenträger die ersten Häuser der Stadt erreicht. Diese lag wie ausgestorben. Nefer wußte aber noch nichts von dem Schauspiel im Staubecken, das König Pepi seinen Untertanen hatte bieten wollen. Vor dem Palast angelangt, entstieg sie rasch dem Tragsessel, um sich zum König zu begeben.

In diesem Augenblick vertrat ihr der Oberpriester den Weg. Sie erschrak heftig.

»Du hast nicht vermutet, mich wiederzusehen?« spottete er.

»Dein Dolchstoß war nicht tief genug!« Mit diesen Worten zerrte er sie in ein neben dem Thronsaal liegendes Gemach und verriegelte die Tür. »Was wolltest du hier? Was ist dein Begehr?«

»Den König sprechen«, antwortete Nefer, die sich schnell wieder gefaßt hatte, mit trotzigem Ausdruck.

»In wessen Auftrag?«

»Die Prinzessin schickt mich!«

»Also ist es gelungen, Mirinri zu befreien?«

»Er wird bald hier sein und den ihm gebührenden Platz einnehmen!«

»Und wenn das geschähe, Nefer, was würde dann aus dir? Könnte sich die stolze, leidenschaftliche Fürstin der Schatteninsel damit begnügen, auf einer der Thronstufen zu sitzen und dem Liebeswerben der beiden zuzusehen?«

Das Mädchen stutzte.

»Du liebst den Sohn Tetis; ich weiß es. Aber er hat dich verschmäht – welche Schande ... Er wird auch niemals die vielen Opfer lohnen, die du ihm gebracht hast. Sein Werben gilt allein der Königstochter, die ihm zum Thron verhilft.«

»Halt ein!« schrie Nefer auf.

Er lachte höhnisch. »Hast du mich etwa geschont?«

»Es ist aber wahr, was wird dann aus mir?« sprach sie kaum hörbar vor sich hin. »Sehend verzichten ist schlimmer als sterben...«

Mit blitzenden Augen hob Her-Hor einen Vorhang, hinter dem an der Wand Schwerter und Dolche mit blitzender Spitze hingen. »Du hast nur zu wählen«, sagte er kalt.

Plötzlich vernahm man einen dumpfen Lärm, wie das andauernde Rollen eines Donners, aus der Ferne. Der Oberpriester horchte gespannt; dann eilten beide zum Fenster und schauten die lange Allee hinab.

Da sahen sie König Pepi in seiner Sänfte. Sie schwankte, denn die Sklaven, die sie trugen, eilten fluchtartig den Weg hinauf. Nur wenige Soldaten umgaben ihn. Das prunkvolle Geleit von Würdenträgern, Priestern, Wachen, von Musikanten und Tänzerinnen hatte sich aufgelöst.

»Was ist geschehen? Eine Revolte?« rief der Priester heiser. »Der König flieht vor der Menge!«

Immer näher kam das Getöse. Es war, als wälzte sich ein langer Zug durch die Straßen. Schon unterschied man einzelne Rufe: »Es lebe Teti der Große!«

Ein gräßlicher Fluch entrann sich der Brust Her-Hors. Er konnte einfach nicht glauben, daß die Ausführung des teuflischen Plans, den er ersonnen hatte, nicht gelungen war. Wie erstarrt stand er und schaute.

Inzwischen flüchtete alles, was sich im Palast aufhielt: Leibwächter, Diener und Dienerinnen eilten in wilder Hast in die Gärten. Gleichzeitig kam die tausendköpfige Menge heran, einen Greis an der Spitze.

»Alles ist verloren«, murmelte der Oberpriester. »Mir bleibt nur noch dies eine. – Komm, unsere letzte Stunde hat geschlagen«, wandte er sich an Nefer. »Vollenden wir das Werk.« Und er drückte ihr einen Dolch in die Hand.

»Mein Schicksal muß sich erfüllen, wie ich es vorhergesehen habe!« sagte sie tonlos.

Teti und sein Gefolge waren jetzt in den Thronsaal nebenan eingetreten. Als er dem Usurpator die Uräusschlange, das Recht über Leben und Tod seiner Untertanen, entriß und ihn zu Boden zwang, verlor die Majestät des Throns ihre Glorie, und das Volk stand wieder fest zu Teti. Es erinnerte sich noch einmal, daß ihr ehemaliger tapferer König, der sie einst zum Sieg gefühlt hatte, beinahe einem schändlichen Brudermord zum Opfer gefallen wäre.

Da stürmten die Prinzessin und Mirinri in den Saal. Sie bahnten sich gewaltsam einen Weg durch die Menge.

»Rettet den König!« rief Nitokris.

Aber niemand rührte die Hand.

»Es lebe Teti der Große!« schrien alle. »Heil, Heil!«

Mirinri starrte auf Unis. »Mein Vater ...?« stammelte er. »Also ist es doch wahr! Mein Herz hatte mich nicht getäuscht!« Und er eilte auf ihn zu, kniete nieder und küßte den Saum seines Gewandes.

Teti hob ihn empor. Eine unsägliche Freude strahlte aus seinen Augen. »Mein Sohn!«

»Laß Nitokris' Vater leben – vergib ihm«, kam es innig von Mirinris Lippen. »Auch ich verzeihe ihm, daß er mich lebendig begraben wollte, denn seine Tochter hat mich gerettet.«

»Es sei! Um derjenigen willen, die du liebst!« Und Teti warf das Schwert von sich, das auf den Usurpator gerichtet war.

Während aber all dies geschah, hatte Nefer sich in dem Gemach nebenan lautlos den Dolch ins Herz gestoßen.

»Du hast deine Strafe und ich – wenigstens einen Teil meiner Rache«, sagte Her-Hor, befriedigt auf sein Werk blickend. Triumphierend nahm er das sterbende Mädchen in seine Arme, stürzte mit ihr in den Thronsaal und legte sie Teti zu Füßen.

»Hier, deine Tochter!« rief er unter gellendem Hohngelächter.

»Sie will dir Glück wünschen zu deinem Triumph!«

»Schwester!« schrie Mirinri.

Teti stand wie erstarrt.

»Nefer – meine Tochter?« stöhnte er auf, indem er sich über das bleiche Gesicht des Mädchens beugte und ihr Haar streichelte. »Schurke, erkläre mir, wie ...«

»Sie hat sich das Leben genommen, das sie ohne Mirinris Liebe nicht ertragen wollte!«

»Ist es wahr, mein Kind?« fragte er die Sterbende. Mit letzter Kraft brachte sie ein »Ja« hervor; dann sank ihr Haupt zur Seite. Mirinri und die Prinzessin knieten schmerzerfüllt bei ihrer Leiche nieder.

Schweigen trat ein.

Dann aber richtete Teti sich wieder auf. »Und nun zu dir, Elender!« wandte er sich mit flammenden Blicken an den Oberpriester. »Ich weiß, daß du alles darangesetzt hast, diesen erhabenen Augenblick zu vergiften, wo es mir vergönnt war, wieder zu meinem Volk zu sprechen.«

»Hast du Mitleid mit mir gehabt? Tue, was du willst! Seitdem du mich aus dem Tempel gejagt hast, hat mich nur der eine Gedanke beherrscht, meine Rache an dir zu kühlen. Ja, deshalb habe ich deine Tochter auf Mirinris Spuren geschickt!«

Mirinri wollte sich auf den Priester stürzen, doch Teti hinderte ihn daran.

»Laß ab – er soll das Schicksal haben, das man dir zugedacht hatte. Sobald Nefer in der Pyramide unserer Dynastie feierlich beigesetzt ist, soll er in einer Totenkammer lebendig begraben werden! Ich aber verzichte auf den Thron um deinetwillen, mein Sohn, und kehre in die Wüste zurück.«

Und Teti nahm die Uräusschlange, die er seinem Bruder abgenommen hatte, und befestigte sie an Mirinris Stirn. »Volk Ägyptens«, rief er, »vernimm meinen letzten Willen! Ich übergebe die Herrschaft meinem Sohn Mirinri, der würdig ist, mein Nachfolger zu werden. Er wird euch gütig und weise regieren. Sein Charakter bürgt mir dafür. Pepi, mein Bruder, wird begnadigt, da er der Vater eurer künftigen Königin ist. Er soll in die Verbannung gehen. Ata, das tapfere Haupt meiner Anhänger, soll dem jungen Pharao als Ratgeber zur Seite stehen. Lebt wohl und gedenkt meiner, der ich mit meiner toten Tochter jetzt in die Wüste ziehe!«

Als er geendet hatte, hallte der Ruf aus tausend und abertausend Kehlen wider: »Es lebe Mirinri, der neue König von Ägypten!«


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