Emilio Salgari
Pharaonentöchter
Emilio Salgari

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Die Insel der Schatten

Alle wandten sich um und blickten zum linken Ufer, wo sich auf einer Anhöhe ein massiger Bau erhob. Er bestand aus verschiedenen Türmen mit grobem Zinnenwerk. Die dicken, schräg stehenden, die Türme verbindenden Mauern glichen Bastionen.

Ata hatte aber nicht nur auf das Kastell, sondern auch auf den grausigen Anblick hingewiesen, der sich am Ufer bot: Etwa dreihundert Leichname mit fast schwarzer Haut hingen dort auf hohen Stangen. Alle hatten die Brust mit Lanzenspitzen durchbohrt. Arme und Beine waren schon halb zerfleischt von den Vögeln, die scharenweise um sie herumflatterten.

»Kriegsgefangene, die das Unglück hatten, lebendig in die Hände der Soldaten Pepis zu fallen!« flüsterte Ata mit düsterer Miene.

»Und auf diese grausame Weise hat man sie getötet?« fragte Mirinri schaudernd.

»Warum schnitt man ihnen nicht, wie es sonst Brauch ist, die Hände ab? Dann hätten sie keine Waffen mehr erheben können. Das wäre eine mildere Strafe gewesen«, sagte Unis.

»Und doch haben diese Leute vielleicht tapfer für ihr Land gekämpft«, murmelte der Jüngling.

»Wenn ich den Thron besteige, werden solche Greuel nicht mehr geschehen!«

»Du hast ein edles Herz«, sagte Nefer.

»Und wer sind die andern dort auf der Höhe?« fragte Mirinri, auf die Festung weisend.

»Ägyptisches Militär«, antwortete Ata.

Ein Trupp Soldaten stieg eben den Abhang zum Ufer hinunter. Sie hatten Leinentüchter um die Hüften geschlungen; Schurzfelle hingen ihnen bis zum Knie. Die Brust war mit breiten Binden zum Schutz gegen Spieße umwickelt. Alle trugen Lederschilde, die oben halbrund und unten viereckig waren, dreispitzige Spieße und langschäftige Streitäxte; dazu kamen bei einigen Schwerter mit breiter Klinge, bei anderen Bogen und Pfeile.

»Es sind kaum vierzig«, fuhr der Ägypter beruhigt fort. »Sollten sie uns angreifen, dann werden meine starken Äthiopier bald mit ihnen fertig werden.«

»Vielleicht sind sie durch Spione benachrichtigt worden, daß ich auf diesem Schiff bin?«

»Kann sein. Es scheint, als ob überall um uns Verrat lauert. Aber meiner Leute bin ich sicher. Seht nur, jetzt schiffen die drüben sich ein!«

»Laß sie nur herankommen! Dann können wir ihnen begegnen«, sagte Mirinri, der ebenfalls seine Ruhe völlig bewahrt hatte.

»Man verteidigt kein Königreich, wenn man das Schwert in der Scheide läßt.«

Nachdem die Soldatenkolonne hinter einer Palmengruppe verschwunden war, tauchte sie kurze Zeit danach an Bord zweier Barken wieder auf.

Diese Fahrzeuge waren plump. Ihr Bug und Heck endete in zwei Spitzen. Eine Art Kasten in der Mitte, auf dem eine Anzahl mit Bogen bewaffneter Krieger sich lagerten, nahm fast die ganze Länge ein. Die übrigen Soldaten saßen an beiden Seiten und ruderten kräftig.

Obgleich die Strömung stärker wurde, erreichten die beiden großen Barken doch bald den Segler.

»Ohe!« rief der Kommandant der Barken. »Hathor beschütze euch, und Typhon halte euch die Krokodile fern! Aber sagt mir, wer seid ihr und wohin wollt ihr?«

»Wir sind Handelsleute, die nach Dendera fahren«, antwortete Ata, während seine Äthiopier sich hinter der Schiffswand kampfbereit hielten, um ein etwaiges Entern zu verhindern. »Was willst du von uns?«

»Ich wollte euch fragen, ob ihr einen Schreiber an Bord habt. Wir wollen vierhundert Hände abschneiden, und keiner von uns kann die Namen der zu dieser Strafe Verurteilten aufschreiben. Wir sollen die Liste an den König senden.«

»Was sind das für Männer?«

»Nubier. Wir haben sie gefangengenommen, haben schon viele aufgespießt, aber es sind noch eine Menge, die den Kriegsgesetzen unterliegen!«

In diesem Moment ertönte aus der Palmengruppe am Ufer entsetzliches Geschrei, das nicht von menschlichen Wesen, sondern von wilden Tieren zu stammen schien. Es war ein Brüllen und Röcheln, das den Zuhörern das Blut in den Adern erstarren ließ.

Alle Vorsicht vergessend, drängte sich Mirinri mit der Waffe in der Hand an die Schiffs wand und rief mit drohender Stimme: »Was geschieht dort?«

»Nun, wenn man ihnen die Hände nicht abschneidet, wird ihnen die Haut von der Brust gerissen«, erwiderte ruhig der Kommandant.

»Ihr seid ja keine ehrlichen Krieger mehr, ihr seid elende Schakale!« rief ihn Mirinri wutentbrannt zu.

Die Soldaten in den beiden Barken sahen sich erstaunt an. Eine solche Sprache hatten sie bisher noch nicht gehört.

»Jüngling, in wessen Namen sprichst du?« fragte der Führer.

»Wenn du den Mut dazu hast, so komm aufs Schiff und sieh dir den Sprecher aus der Nähe an, es steht dir frei! Aber wenn du ihn gesehen hast, so laß ich dich in den Fluß vor die Krokodile werfen und all deine Leute töten!«

»Unvorsichtiger, was tust du?« zischte Ata.

Mirinri hörte ihn nicht, sondern rief den Äthiopiern zu: »Los, Freunde!«

Die dreißig Seeleute richteten sich wie ein einziger Mann hinter der Schiffswand auf und spannten ihre Bogen.

Die entschlossene Haltung des kühnen Jünglings und die Zahl der Äthiopier schien die kriegerische Neigung des Kommandanten zu dämpfen. Nach kurzer Beratung mit seinen Leuten ließ er die Barken umkehren.

»Herr, du hast zuviel gewagt«, sagte Ata. »Wir wissen nicht, wieviele Soldaten auf der Festung sind und über wieviele Schiffe sie verfügen!«

»Sie sollen nur kommen!«

»Du hast Mut«, sagte Unis. »Du wirst eines Tages ein mächtiger Fürst werden. Ich habe dir den Kometen gezeigt, der einen baldigen Wechsel auf Ägyptens Thron ankündigte. Vertrauen wir der Zukunft!«

»Jetzt schnell außer Schußweite!« rief Ata und gab seinen Leuten Befehl, das Segelschiff wieder in Fahrt zu setzen.


Der Nil war weiter angeschwollen und bedeckte inzwischen die Felder. Wo er eine Niederung fand, überschwemmte er das Land und befruchtete es mit seinem kostbaren Schlamm.

Die im Gebüsch lebenden Tiere flohen. Man sah Rudel leichtfüßiger Gazellen, Antilopen mit langen, dünnen Hörnern und Scharen von Raubtieren. Schwärme von weißen und schwarzen Reihern, Ibissen und Enten erhoben sich in die Lüfte.

Der Wind war dem Schiff günstig. Es flog am linken Ufer dahin, auf dessen Anhöhen hier und dort gewaltige Ruinen erschienen, vielleicht alte Tempel oder zerstörte Festungen, vielleicht auch Trümmer von Städten aus der Zeit der ersten Pharaonendynastien. Letztere hatten ihre Macht weit über das Nildelta ausgedehnt und die Ureinwohner, die Nubier, daraus vertrieben.

Auch dieser Tag verlief, ohne daß der Obelisk sichtbar wurde, der die geheimnisvolle Insel bezeichnen sollte. Auf Unis' und Atas Fragen antwortete Nefer nur: »Wartet! Habt Geduld!«

Zwei weitere Tage verstrichen. Der Nil glich jetzt einem großen See. Am vierten Tag signalisierte Ata gegen Sonnenuntergang vier große, schwarze Punkte. Es waren sicher Schiffe, die ziemlich dicht nebeneinander den Strom hinunterfuhren.

In demselben Augenblick rief auch Nefer: »Die Kantatek-Insel ist da! Seht dort den Obelisk!«

Am klaren Horizont hob sich aus dem in der Sonne schimmernden und gleißenden Wasser eine dunkle Linie ab.

»Siehst du die Insel?« fragte das Mädchen den jungen Pharao. Ihre Stimme hatte dabei einen seltsamen Klang.

Mirinri schaute sie an. »Was hast du, Nefer, du bist so erregt?« Das Mädchen wandte den Kopf, um seinen Blicken auszuweichen. »Nein, Herr, du irrst.«

Da trat Ata zu ihnen. Tiefe Besorgnis lag auf seinem Gesicht. »Herr, ich sagte dir ja, du hast eine große Unvorsichtigkeit begangen! Ich sehe dort vier große Schiffe den Fluß hinunterfahren. Man wird uns anhalten!«

»Kriegsschiffe?« fragte Unis erschrocken.

»Sicherlich.«

»Woraus schließt du das?« fragte Mirinri.

»Aus der Masthöhe und dem Takelwerk.«

»Meinst du, daß sie mit den Festungssoldaten bemannt sind?«

»Ich vermute es.«

»Aber was fürchtest du jetzt noch, wo die Kantatek-Insel in Sicht ist?« mischte sich Nefer ein. »Welcher Ägypter wird es wagen, sich dem Ort zu nahen, wo die Geister der nubischen Könige umherirren! Seht, da liegt sie vor uns und bietet uns Schutz. Es wird uns keiner zum Obelisken folgen.«

»Werden wir auch nicht noch gefährlichere Feinde dort finden?« fragten Unis und Ata wie aus einem Mund.

»Wie ich die Brandtauben beschwor, so beschwöre ich auch die Geister der Nubier!« sagte Nefer zuversichtlich. »Bin ich nicht eine Zauberin? Mit meiner Zauberformel zwinge ich sie, in ihre Gräber zurückzukehren, wo sie seit Jahrhunderten schlafen.«

»Bist du denn deiner Macht so sicher?«

»Bald werde ich sie euch beweisen! Damit aber meine Beschwörung wirksam wird, muß ich zuerst allein auf der Insel landen.«

»Das alles willst du für uns wagen?« fragte Mirinri.

»Ich tue es, um meinen künftigen König zu retten!«

»Gibt es am Ufer der Insel eine Bucht, in der wir unser Schiff verankern können?« fragte Ata.

»Ja, dicht vor dem Obelisken.«

Der Ägypter lief an das hintere Deck und ergriff das lange Ruder, das gleichzeitig als Steuer diente. Der Segler flog jetzt mit der reißenden Strömung vorwärts, und bald zeichneten sich die Umrisse der Insel scharf ab. Der Obelisk wuchs zusehends am Horizont, der vom Sonnenuntergang in feurigem Rot erstrahlte. Die Säule warf blendende Reflexe um sich, als ob sie ganz in Gold getaucht wäre.

»Birgt der Obelisk die Reichtümer der nubischen Könige?« fragte Mirinri.

»Nein«, erwiderte Nefer. »Aber ich weiß, wo sie versteckt sind.«

»Du bist schon öfters hier gewesen?«

»Nur ein einziges Mal!«

»War es nur in der Einbildung des wahnsinnigen Schiffers, oder hüten wirklich Priester die Tempelschätze?«

»Fürchte nichts, auch deren Geister kann ich beschwören.«

Schon waren sie angelangt. Das Segelschiff lief in die Bucht ein, deren Ufer mit hohen Palmen bedeckt war. An ihrem äußersten Ende ragte der vergoldete Obelisk mit seiner vierzig Meter hohen Spitze majestätisch in die Höhe.


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