Emilio Salgari
Pharaonentöchter
Emilio Salgari

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Die Fürstin der Schatteninsel

Ein entsetzliches Schauspiel bot sich den Zurückgebliebenen in dem riesigen Grabgewölbe: Die Grabdeckel kreischten und öffneten sich langsam.

Kehrten die toten Könige wieder, die Nefer in ihre Särge zurückgebannt hatte – jene Schatten, vor denen es allen Nilanwohnern grauste?

Ata und seine Leute, die sich an die Tür gelehnt hatten, starrten mit weit aufgerissenen Augen auf die Särge.

Dann klangen aus den jahrhundertealten Mumienbehältern sanfte Töne, die sich zu einer wunderbaren Harmonie vereinten, Töne wie von Flöten, Doppelflöten und Harfen. Alle Sargdeckel waren geöffnet, und eine Schar schöner, mit leichten Schleiern bekleideter Mädchen schlüpfte heraus. Sie waren mit kostbaren Ketten, Armbändern und Ringen geschmückt und von Wohlgerüchen umweht. Jede hielt ein Instrument in der Hand.

»Wer seid ihr?« rief Mirinri und sprang mit dem Ungestüm eines jungen Löwen in die Mitte des Saals. »Seid ihr Tänzerinnen oder Schatten?«

Ein silbernes Lachen aller war die Antwort. Musizierend liefen die Mädchen jetzt zum anderen Ende der Zella, wo sich Stufen befanden.

Mirinri wollte ihnen nachstürzen, doch Unis und Ata hielten ihn zurück.

»Glaube uns, es sind Schatten! Hier ist eine seltsame Zauberei im Spiel.«

»Die ich zerstören will!« Mit einer heftigen Bewegung hatte er sich aus Atas Arm befreit.

Da öffnete sich die schwere, zum Gang führende Bronzetür, und es erschien auf der Schwelle ein junges, ganz in goldgestickte Schleier gehülltes Weib mit schwarzen, über die Schultern fallenden Haaren. Vier Mädchen mit brennenden Lampen in der Hand begleiteten die wunderbare Erscheinung.

Es war die Zauberin Nefer, schöner und verführerischer denn je. Sie hatte ihre flammenden Augen auf den jungen Pharaonensohn gerichtet.

»Nefer, du ...?« schrie Mirinri auf. »Elende, du hast uns verraten! Willst du mein Leben? Gut, so nimm es!«

Tiefer Schmerz lag auf dem Gesicht des Mädchens. »Verraten?« sagte sie bitter. »Ich, die ich mein Herzblut für dich geben würde? Ich habe dich gerettet vor deinen Verfolgern, die dich als Gefangenen nach Memphis schleppen wollten!«

»Du mich gerettet? Dann bin ich also nun dein Gefangener?«

»Wenn du es verlangst, werde ich dir und deinen Gefährten die Tempelpforten öffnen. Aber was wollt ihr unternehmen, nachdem des Königs Krieger euer Schiff zerstört haben und ihr nicht einmal eine Waffe zur Verteidigung habt?«

Der Pharaonensohn schaute mit wachsendem Erstaunen die Zauberin an, die hochaufgerichtet in ihrem leichten Gewand vor ihm stand. Ata und Unis blieben stumm vor Staunen.

Nach kurzem Schweigen fragte Mirinri: »Was rätst du mir?«

»Du sollst die Gastfreundschaft annehmen, die dir die Fürstin der Schatteninsel darbietet, bis deine Feinde sich zurückgezogen haben. Komm, Herr, das Mahl ist bereitet!«

»Also war der Schatz der nubischen Könige nur ein Märchen«, spottete jetzt Unis, der die Sprache wiedergefunden hatte.

»Sei zufrieden, daß du noch am Leben bist und den Sonnensohn an deiner Seite hast, dem du dein Leben widmest!«

»So erkläre mir doch ...«

»Später! Jetzt wollen wir glücklich sein!«

Sie stieg die Stufen hinunter, gefolgt von ihren vier Begleiterinnen, nahm Mirinri, der sich nicht sträubte, von neuem bei der Hand und führte ihn in einen großen Saal, dessen marmorner Fußboden hell glänzte. Zwischen breiten Säulenreihen waren etwa dreißig niedrige Tischchen aufgestellt. Statt Sesseln lagen Tierfelle ausgebreitet, und vor jedem Tisch standen große Tonamphoren mit langem Hals. Sie enthielten Sträuße aus weißen, roten und blauen Lotosblumen, die wunderbaren Duft ausströmten.

Nefer führte den Sonnensohn zu einem der Tischchen und setzte sich neben ihn auf ein Löwenfell. Unis und Ata wie die Äthiopier machten es sich, je zu zweien, an den andern Tischchen bequem, während die Musikantinnen sich um die Säulen lagerten und leise ihre sanften Weisen ertönen ließen.

»Du bist eine Göttin, Nefer, keine Sterbliche!« rief Mirinri bewundernd aus. Er schien wie berauscht von dem süßen Duft, der ihr leichtes Gewand umwehte.

Sie lächelte und sah ihn sehnsüchtig an.

»Was hast du vollbracht?« fuhr er fort. »Ich verstehe dein immer wechselndes Wesen nicht. Erst bist du eine ärmliche Zauberin, dann eine Pharaonin, und jetzt?«

»Die Fürstin der Schatteninsel.«

»Und morgen vielleicht Königin von Ägypten?«

»Das wäre mein Wunsch, um mit dir, Herr, die Macht zu teilen! Leider wird dieser Traum nie in Erfüllung gehen«, sagte sie traurig.

In diesem Augenblick stürmte eine Schar nubischer Tänzerinnen in den Saal, mit Blumenkränzen im Haar und mit goldenen Amphoren und Bechern in den Händen. Eines dieser reizenden Mädchen näherte sich dem Tischchen, wo Nefer mit Mirinri saß, und bekränzte sie beide. Kopf und Hals wurden geschmückt, wie es bei Gastmählern Brauch war. Dann goß das Mädchen aus einem der Krüge rubinroten, honigsüßen Wein in zwei goldene Becher und reichte sie ihnen.

»Trinke zugleich auch das Licht meiner Augen!« rief Nefer feurig. »Ich trinke die Kraft, die von dir, Sonnensohn, ausgeht!« Nach kurzem Zögern leerte der Jüngling seinen Becher.

Auch Unis und Ata erhielten Kränze und Wein, der den Äthiopiern ebenfalls gespendet wurde.

Alle tranken. Die Musik ging jetzt zu lebhaften Weisen über. Die Tänzerinnen stellten sich in Positur. Ihre Tänze unter Harfen-, Flöten und Tamburinbegleitung bestanden bald in Drehungen und schwindelerregenden Windungen des Körpers, bald in zügellosem Umkreisen der Säulen. Zuweilen schien es, als ob sie sich wild auf die Gäste stürzen wollten, dann hielten sie mit erhobenen Händen jäh inne und gingen mit langsamen Bewegungen zurück.

»Was sind das für Mädchen?« fragte Mirinri.

»Sie kommen vom oberen Lauf des Nils.«

»Wohl von der Insel, die nur von Frauen bewohnt wird? Unis erzählte mir davon. Bist du vielleicht ihre Königin?«

Nefer überhörte die Frage. »Trink, Herr, das Leben ist kurz, und der Tod kann uns jeden Augenblick überraschen! Genuß ist das einzig Wahre, Rausch ist das wahre Leben!«

»Nefer, mir graut vor dir, wenn du so sprichst! Sage mir, wer du bist – ich habe dich schon oft danach gefragt.«

»Weiß ich es denn? Über meinem Dasein schwebt ein Geheimnis, das ich selbst nicht zu enträtseln vermag. Ich bin eine Pharaonin und zugleich eine Zauberin. Ich habe göttliches Blut in mir wie du, was die Tätowierung an meiner Schulter bezeugt, und doch bin ich ein armes Mädchen, eine Musikantin und Tänzerin, die das Sistrum schlagen und wahrsagen muß. Heute bin ich die Fürstin der Schatteninsel – was werde ich morgen sein?«

»Warum so traurig, Nefer? Hast du nicht ein Ziel, einen Wunsch, den dir das Leben erfüllen kann?«

»Wohl habe ich einen Wunsch in meinem Herzen, aber er ist unerfüllbar!«

Das Mädchen hielt einen Augenblick inne, dann fuhr sie mit langsamer, monotoner Stimme fort: »Gestern abend, als ich durch den Wald ging, hatte ich eine Vision. Ich stand in einem großen Saal, wo ich eine Menschenmenge versammelt sah: hohe Würdenträger, Priester, Soldaten und – einen König, einen Pharao. Aber diesen nicht auf dem Thron: Er lag wie ohnmächtig auf dem kalten Mosaikfußboden. Ein Greis stand mit drohend erhobener Hand vor ihm, Schmähungen kamen aus seinem Mund. Und ein Mädchen, schön wie ein Sonnenstrahl, kniete bittend zu seinen Füßen. Auf dem vergoldeten Thron dagegen saß ein Jüngling, stolz und kräftig, der dir ähnelte ...«

»Mir?« warf Mirinri, der gespannt zuhörte, dazwischen.

»Er schaute das bittende Mädchen wie gebannt an, während er eine andere, die weinend daneben stand, keines Blickes würdigte ...«

»Wer waren die beiden Mädchen?«

»Ich kann es nicht sagen.«

»Bist du nicht eine Wahrsagerin? Du kannst Dinge erraten und voraussehen. Wer war jener Greis?«

»Sicher ein König, denn er trug das Symbol der Macht über Leben und Tod an der Stirn. Auch der Jüngling trug es.«

»Sprich weiter«, sagte Mirinri erregt.

Nefer dachte einen Moment nach, dann fuhr sie fort: »Während es laut im Saal von Hunderten von Stimmen widerhallte: ›Es lebe der König von Ägypten!‹ lag eines der beiden Mädchen ausgestreckt am Boden und hauchte den Geist aus.«

»Wer war es? Die junge Pharaonin?« fragte Mirinri voller Angst.

»Immer nur sie!« murmelte Nefer.

Ohne auf ihre Worte zu achten, fragte er weiter: »Erinnerst du dich ihrer Augen, ihrer Haare? Sprich!«

»Die Augen waren wie Flammen.«

»Also wie die deinen, Nefer!«

»Laß uns die Vision vergessen«, rief die Zauberin mit veränderter Stimme. »Trinke! Du bist heute mein Gast. Der Wein des heißen Libyen gießt Blut in die Adern. Seien wir heute noch glücklich und denken nicht an die Zukunft! – Sieh, da kommen die Speisen. Du hast seit vielen Stunden nicht gegessen und mußt dich stärken!«

Die Nubierinnen hatten ihre Tänze unterbrochen. An ihrer Stelle waren andere, ebenfalls leicht gekleidete Mädchen mit Blumenkränzen im Haar erschienen. Sie trugen in goldenen Schüsseln appetitlich duftende Leckerbissen herbei.

Das Mahl, das die Fürstin der Schatteninsel ihren Gästen bot, war einer Königin würdig. Speise folgte auf Speise, eine immer köstlicher als die andere. Ebenso die Weine, feurig wie das Land ihrer Herkunft. Die Helferinnen schienen nicht müde zu werden, die goldenen Gefäße immer wieder zu füllen und die Blumensträuße in den Vasen zu erneuern. Gleichzeitig fielen von der Decke unaufhörlich Lotosblumen herab, während die Musik mit Harfenklängen zu sanfter Ruhe einlud.

Die äthiopischen Schiffer, die an solchen Überfluß nicht gewöhnt waren, wurden bald übermannt von all den genossenen Getränken und dem starken Blumenduft, der den Saal durchwehte. Die meisten schliefen ein oder lallten vor sich hin.

Bei Ata und Unis brachte der Wein eine andere Wirkung hervor. Sie wurden beredter und fröhlicher und hatten für den Augenblick das Bewußtsein ihrer schwierigen Lage verloren.

»Trink!« rief Nefer ihrem Gastfreund immer wieder zu. »Trinke mehr! Der Rausch ist süß und läßt uns träumen!« Dabei goß sie ihm selbst den Becher voll.

»Ich trinke das Licht deiner Seele, den Glanz deiner wunderbaren Augen«, sagte er feurig. Und es schien, als ob er nun im Anblick von Nefer die Pharaonin vergessen hätte.

Die schleierumhüllten Tänzerinnen begannen von neuem, sich im Kreis zu drehen. Sistren und Flötentöne begleiteten sie. Helles Lachen erklang zum Tamburin.

Der Jüngling war nicht mehr fähig, sich den Blicken Nefers zu entziehen.

»Schau mich nicht so an«, bat er. »Die seltsame Flamme in deinen Augen verbrennt mich. Sie wird mir das Bild rauben, das ich in meinem Herzen trage!«

»Das Bild der Prinzessin?« fragte sie triumphierend.

Mirinri sah in seinen Becher, nachdem er ihn geleert hatte.

»Fürchtest du, daß ich einen Zaubertrank in den Wein gemischt habe?«

»Nein, aber es war, als ob mir vom Grund des Bechers Augen entgegenleuchteten, die nicht den deinen glichen!«

Rasch goß ihm Nefer von neuem ein, um das Bild verschwinden zu lassen.


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