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37. Milliardentanz.

Eriwan.

 

Inmitten des kleinen Teepavillons auf dem Boulevard von Eriwan sitzt man wie auf einer Insel von Licht. Die großen alten Bäume, die ihn umschließen, sind dieselben geblieben all die Jahre. Ihnen haben Krieg und Revolution nichts angehabt, und sie verdecken gütig dem Blick die Verwahrlosung und den Schmutz der dahinter liegenden Straßen.

Dieser Teepavillon ist Abend für Abend übervoll, trotzdem der kleinste Imbiß Millionen kostet: ein Glas Tee 2 Millionen Rubel, ein Stück Kuchen ebensoviel; eine Portion Eis 5 Millionen. Gemessen an den Preisen in der Stadt, ist dies nicht einmal übermäßig. Denn das Pfund Brot kostet 4 bis 5 Millionen, 1 Pfund Kirschen 2 bis 3. Unter 15 bis 20 Millionen erhält man kein Mittagessen, 1 Zitrone kostet 8 Millionen. – Dagegen kann man eine Flasche ausgezeichneten Wein schon für 6 Millionen kaufen, d. h. man muß für die leere Flasche noch einmal 6 Millionen Flaschenpfand zahlen.

Allerdings hat ja Armenien, wie schon erwähnt, die jämmerlichste Valuta der Welt, und ihr gegenüber ist sogar die russische noch Edelvaluta. Allein das hindert nicht, daß der Teepavillon jeden Abend voll ist von einem eleganten Publikum. Ja: elegant; das ist kein Schreibfehler! Die kleinen Armenierinnen halten etwas auf sich. Sie sind alle in weißen Kleidern, weißen Strümpfen, weißen Schuhen – viele in Seide, alle in Schmuck; alle sorgfältig frisiert und manikürt. Auch ihre Kavaliere sind zum Teil in weißseidenen Jacken. Wirklich, wenn man hier sitzt, vergißt man ganz, in Eriwan zu sein, der Hauptstadt des ärmsten und elendesten Landes, das nur fremde Hilfe vor dem Verhungern bewahrt.

In der breiten Allee flaniert zu den Klängen der Kapelle ein nicht weniger elegantes Publikum, flirtend, blickewerfend und poussierend. Unermüdlich spielen die Musikanten, und die Kellnerinnen können gar nicht so viel Kuchen und Eis herbeibringen, wie die Gäste verlangen.

Vielleicht ist heute das Getriebe noch besonders groß, weil ein Dekret der Regierung verkündete, daß von heute ab das armenische Geld dreifachen Wert hat. Jeder Besitzer der schmutzigen Scheine, von denen man Stöße benötigt, um den kleinsten Einkauf zu machen, hat also von heute sein Vermögen verdreifacht.

Ja, es ist kein Scherz! Man dekretiert, das Geld hat den dreifachen Wert. Und um zu beweisen, daß dies kein Scherz, gibt die Staatsbank Gold um ein Drittel des bisherigen Preises ab.

Natürlich heißt das Sturm auf die Bank. Ich war heute früh dort, nicht um Gold zu kaufen, sondern um Devisen einzuwechseln. Vor dem Tore drängten sich Haufen einlaßheischender Menschen. Allein die Türen waren gesperrt, und Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett standen davor. Nur durch ein Empfehlungsschreiben des Auswärtigen Amtes kam ich hinein.

Drinnen vor den Kassen der gleiche Ansturm der Glücklichen, die durch Zufall oder Energie oder Bestechung in das Goldparadies hineingelangt sind. Auf den ersten Blick möchte man meinen, in einem Postpaketamt zu sein, denn die Leute vor den Schaltern haben alle große Pakete mit oder Säcke. Und aus Säcken und Paketen holen sie die verschnürten buntbedruckten Papierbündel, um sie gegen gleißende Goldstücke einzutauschen. Noch wilder drängt man sich hier. Gold um ein Drittel des Preises! Diese unwahrscheinliche Laune des Glücks will man nicht verpassen. Vorwärtsdrängen und Vorwärtsstoßen mit den Ellenbogen; denn lange kann der Segen ja nicht währen.

Andere Staaten suchen durch schwere finanzielle Opfer ihre Valuta zu heben. Armenien, ausgerechnet Armenien, dekretiert einen höhern Wert und schenkt seinen Untertanen Milliarden! Allerdings nur einigen wenigen Bevorzugten, denen, die rechtzeitig Wind von den neuen Maßnahmen erhielten, die Stöße Papiergeldes zur Verfügung hatten, den Spekulanten und Wucherern, die heute nirgends in der Welt solche Gewinnchancen haben wie im Sowjetstaat. Man brauchte sich nur die Gesichter derer anzusehen, die sich vor den Kassen drängten.

Ein paar Dämchen, die keinen Platz finden und sich neben meinen Tisch drängen, lassen mich aufsehen. Dabei fällt mein Blick zum ersten Male auf eine Reihe Gestalten, nein Gespenster, die sich um den Pavillon drehen. Ich erschrecke, ich habe wieder Fieber. Den ganzen Tag bin ich mit schwerem Fieber in meinem Quartier gelegen, in dem schmutzigen, verwanzten und verlausten Raum, den mir das Auswärtige Amt angewiesen. Als ich mich beklagte, sagte der liebenswürdige Beamte, sie hätten keinen andern und ich würde in ganz Eriwan kaum eine ungezieferfreie Wohnung finden. Ich glaube, das war keine Ausrede und er hat nicht übertrieben. Ich habe ein paar Wohnungen gesehen. Die meisten eleganten Kavaliere und Dämchen, die hier sitzen, hausen nicht anders.

Gegen Abend wurde ich fieberfrei und ging unter die Bäume des Boulevard, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Aber nun muß das Fieber wieder eingesetzt haben. Das, was sich um den Zaun drängt, müssen Phantasiegebilde, kann nicht Wirklichkeit sein.

Schmutzstarrende, gierige, schwarze, knochige Hände bewegen sich aus dem Dunkel in das Licht des Pavillons. Gekrümmte Hände, sich öffnende und schließende, sprechende Hände, bittende, flehende. Verelendete Arme strecken sich empor, wie die der verdammten Seelen aus dem Fegefeuer. Die Gesichter liegen im Schatten, sie tauchen nur ab und zu im Licht auf, Masken des Hungers und des Todes.

Wann werde ich das Fieber los! Ich muß es doch loswerden, ich muß doch weiter nach Turkestan, ins heißeste Zentralasien.

Phantome des Fiebers! Gleich werden sie verschwinden und andern Platz machen, vielleicht glühenden Feuerbränden, die mir um den Kopf wirbeln. Doch nein, sie bleiben, all die schwarzen, knochigen, sich krümmenden Hände, sie bleiben um mich. Und da faßt eine nach mir, zupft bittend an meinem Rock.

Ich falle in die Wirklichkeit, wie man im Traum in bodenlosen Abgrund fällt. Diese Hände des Grauens sind Wirklichkeit. Im Handumdrehen habe ich mein Kleingeld verteilt. Die Hände verschwinden, aber neue strecken sich aus, langen durch die Stäbe des Geländers. Ich drehe mich um, ich kann sie nicht mehr sehen, und da bin ich wieder mitten im Licht, auf unserer Insel, die auf dem Elendsmeere schwimmt. Welch vergnügte frohe Gesichter! Die Unterhaltung schwirrt. Geschäft, Milliardentanz.

Milliardentanz! Der Starke, der Unbedenkliche, der Gewissenlose holt sich seinen Teil. Nur um sich stoßen, nur oben bleiben! Heute regnet es Geld, fällt mühelos in den Schoß. Nur die rechte Witterung haben! Milliardentanz! Leicht rollt wieder leicht verdientes Geld.

Wie flott die Musikanten spielen! Da die Schwarze mit dem Lockenkopf und dem aparten Halsschmuck wiegt den Takt mit. Sie blickt von der Glücksinsel hinunter in das Gespenstermeer, gar nicht erschreckt, nein, sie lacht, amüsiert sich über irgendeinen komischen Krüppel.

Es geht nichts über reinliche Scheidung. Wer Geld hat, gehört hier oben hinauf; wer keines hat, hinunter in den Sumpf. Es wagt sich auch keiner hinauf, denn ein robust aussehender Mann in weißer Jacke sorgt dafür, daß die hier oben nicht gestört werden.

Aber nun wird er fortgerufen, zum Büfett, und zwei Krüppel wagen sich doch hinauf. Einbeinig humpeln sie. Sie kommen nur bis an den ersten Tisch, da ist der Mann mit der weißen Jacke schon zur Stelle. Eilig, schuldbewußt, humpeln sie die Treppe wieder hinunter.

Wie flott die Musik spielt! Man könnte ganz vergnügt werden und alles Elend in der Welt vergessen. Ach nein, man vergißt es ja auch wirklich, man stumpft so ab, wenn man es täglich vor Augen hat. Und man hat ja selber so viel durchgemacht die letzten Jahre. Nie war Menschenleben so billig wie Brombeeren. Wie sagte jener Polizeikommissar, der gebeten wurde, nach einem verlorenen Kinde forschen zu lassen: »Wir suchen nicht einmal nach einem verlorengegangenen Stück Großvieh, wie sollten wir nach einem Kinde ...!«

Die Dame mit dem schwarzen Lockenkopf lacht in den Höllenbreugel da unten hinein, lacht einem verelendeten Jungen zu, der unter ihren aufmunternden Blicken nach den Klängen der Kapelle zu tanzen anhebt. Vielleicht wirft die freundliche Dame ihm ein paar Brosamen dafür hinunter.

Es ist wirklich eine freundliche Dame, und ein anderer Junge, ein Bengel von kaum sechs Jahren, faßt sich ein Herz und huscht rasch auf die Terrasse. Ohne ein Wort zu sagen, stellt er sich vor der Dame auf und streckt seine Hand aus. Es wäre eigentlich eine süße kleine Kinderhand, hätten Not und Hunger sie nicht zu einer schmutzigen Schale des Grauens gemacht. Er sagt kein Wort, hält nur seine Hand hin und lächelt das junge Mädchen an, aber es ist ein grauenhaft verzerrtes, in sein Gegenteil verzerrtes Lächeln.

Nein, so hatte die Dame es nicht gemeint. Sie wendet sich ab, sagt ein Scheltwort. Aber der Junge bleibt stehen, hält die Hand ausgestreckt und schaut sie mit dem gleichen grauenhaften Lächeln an.

»Geh, mach, daß du fortkommst!« Der Kavalier des jungen Mädchens hebt den Stock. Aber sie hat doch ein gutes Herz. Sie nimmt einen Löffel voll Eis und leert ihn in die kleine Schmutzpfote. Der Junge sieht sie entgeistert an. Wie viele Abende steht er nicht schon vor der Terrasse und starrt hinauf und träumt den unwahrscheinlichen Traum, einmal von dem süßen Eis schlecken zu dürfen, und nun hält er es kaltbrennend in der Hand. Wie ein Wiesel will er damit fort. Da hat ihn schon der in der weißen Jacke gesehen. Ein Fußtritt trifft ihn. Er fällt der Länge nach hin. Doch seinen Schatz hält er unversehrt in der ausgestreckten Hand.

Ich sehe ihm nach. Am Fuße der Treppe sitzt ein noch jüngerer Knabe, vielleicht sein Bruder oder sein Freund. Dem bringt er die köstliche Leckerei, läßt sie ihm aus seiner Hand schlecken.

Glückselig leckt der Kleine von dem Eise, aber nur die Hälfte. Dann weist er die Hand ab; den Rest muß der Große essen. Und der schleckt und leckt, bis die kleine Schmutzpfote fast rein ist.

Jetzt sitzen beide still nebeneinander, einer dicht neben den andern geschmiegt, und auf beiden Gesichtern liegt der Ausdruck grenzenlosen Glückes.


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