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9. Deutsch-ukrainische Wirtschaftsmöglichkeiten.

In deutschen industriellen und kaufmännischen Kreisen steht man nicht unberechtigterweise der Frage des Exportes und der Investierung größerer Kapitalien zunächst skeptisch gegenüber, und es wird bei Aufwerfung dieser Fragen sofort die Gegenfrage auftauchen: Was kann die Ukraine als Gegenwerte liefern?

Jede unvoreingenommene Prüfung der heutigen ukrainischen Volkswirtschaft muß von der Erwägung ausgehen, daß die Ukraine im Frieden bei einer mittleren Ernte von einer Milliarde Pud, also über 16 Millionen Tonnen Getreide, einen Überschuß von 300 Millionen Pud (4 900 000 Tonnen) für die Ausfuhr verfügbar hatte. Dazu muß man noch in Ansatz bringen die im Jahr auf 200 Millionen Pud (3 300 000 Tonnen) zu veranschlagende Durchschnittsernte an Kartoffeln und die Zuckerrübenernte.

Nun kann bei Unkenntnis der wirklichen Verhältnisse die Hungerkatastrophe leicht den Eindruck machen, als ob die Revolutionskriege und vielleicht auch das bolschewistische Regierungssystem das Land so heruntergewirtschaftet hätten, daß es von einem Exportland nunmehr zu einem Einfuhrgebiet von Getreide wurde.

In Wirklichkeit liegt die Sachlage jedoch derart, daß im Jahre 1921 81 Prozent der Anbaufläche des Jahres 1914 bestellt waren, so daß man bei einer normalen Durchschnittsernte bereits mit einem Ausfuhrüberschuß von 100 Millionen Pud (1 640 000 Tonnen) hätte rechnen können. Dann kam jedoch die anormale Trockenperiode, die vom April bis zum August ohne Unterbrechung dauerte und die alle in die Ernte gesetzten Hoffnungen vernichtete.

Nach dem Bericht des Vertreters der Nansenhilfe in der Ukraine, des norwegischen Kapitäns Quisling, handelt es sich bei der Hungerkatastrophe in der Ukraine um ein Naturereignis größter Dimension. Der Kapitän, der bolschewistenfreundlicher Neigungen keineswegs verdächtig ist, führt in seinem Bericht aus, daß seiner Ansicht nach keine Regierung die Katastrophe hätte verhindern können, und erkennt ausdrücklich die Anstrengungen der Sowjetregierung zur Behebung der Not an.

Selbstverständlich ist, daß die vorhergegangenen Kriege, Requisitionen und ähnliche Vorgänge einen besonders günstigen Boden für die Ausbreitung des Hungers schufen. Aber die Hauptschuld fällt auf die alle Vorstellungen übertreffende Mißernte. In zahlreichen Bezirken ernteten die Bauern noch nicht ein Drittel des in den Boden gesteckten Samens.

Diese Feststellungen sind von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung deutsch-ukrainischer Wirtschaftsmöglichkeiten. Denn sie zeigen, daß nach Überwindung der Hungerkatastrophe die Ukraine in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder Getreide wird ausführen können. Hiesige landwirtschaftliche Sachverständige rechnen damit, daß man bereits nach zwei normalen Ernten an die Ausfuhr denken kann.

Deutschland ist an dieser Ausfuhr in hohem Maße interessiert, denn aus keinem andern Getreideausfuhrland wird es zu ähnlich günstigen Bedingungen seinen Einfuhrbedarf decken können. Man ist ukrainischerseits auch durchaus bereit, seinen eventuellen Überschuß in erster Linie an Deutschland abzugeben, unter der Voraussetzung, daß deutsches Kapital sich an dem Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft beteiligt.

Soweit man nach kurzem Aufenthalt im Lande urteilen kann, sind die Bedingungen für ein erfolgreiches Arbeiten fremden Kapitals in der Ukraine gegeben. Die ganze Wirtschaftspolitik der Sowjets ist ja seit dem Einsetzen des sogenannten »neuen Kurses« auf Heranziehen der privaten Initiative sowie des fremden Kapitals aufgebaut.

Die ganze Agrarpolitik des ukrainischen Kommissariats für Volkswirtschaft zielt darauf ab, einmal die Anbaufläche zu vergrößern, zum andern den bäuerlichen Betrieb zu intensivieren. Mit der alten kommunistischen Wirtschaftsform ist völlig gebrochen. Der Bauer hat nur eine Naturalsteuer von durchschnittlich 10 Prozent der Ernte zu entrichten und hat im übrigen völlig freie Hand.

Diese Steuer wird übrigens nicht nur nach dem Ernteerträgnis, sondern auch nach der jedem Bauern zugewiesenen Bodenfläche berechnet. Der Bauer hat also das größte Interesse daran, sein gesamtes Feld zu bestellen. Ist er dazu nicht imstande, so verpachtet er meist den Überschuß gegen Übernahme der Naturalsteuer. Die einzelnen Bauernwirtschaften betragen normalerweise 2, 5 bis 12 Desjatinen (1 Desjatine ist etwas größer als 1 Hektar). Bauern, die besonders gut wirtschaften, werden jedoch bis zu 21 Desjatinen überlassen. Außerdem gibt es in der Ukraine 72 Sowjetgüter, die teilweise an Genossenschaften verpachtet sind, insbesondere an Fabriken. Es besteht die Tendenz, möglichst jeder Fabrik ein Gut zur eignen Versorgung ihrer Arbeiter mit Lebensmitteln zuzuweisen.

Die Beteiligung fremden Kapitals ist in der Weise gedacht, daß landwirtschaftliche Konzessionen auf 24 Jahre verteilt werden sollen, und zwar handelt es sich um jene nationalisierten Güter, die noch nicht aufgeteilt sind. Als Pachtschilling sind 20 bis 25 Prozent der Ernte geplant. Nach Ablauf der Konzession sollen die Güter in Staatswirtschaft übergehen. Besonders aussichtsreich erscheint die von ukrainischer Seite vorgesehene Form der gemischten Wirtschaft, bei der die Einlage von seiten des fremden Kapitals in Form von Maschinen und landwirtschaftlichen Geräten erfolgen würde, während die ukrainische Regierung das flüssige Betriebskapital beisteuert.

Unter Umständen ergibt sich hier eine geeignete Zusammenarbeit zwischen ehemaligen deutschen Domänenpächtern und Fabriken landwirtschaftlicher Maschinen. Der Bedarf an landwirtschaftlichen Maschinen ist, nebenbei bemerkt, außerordentlich groß, da einmal sehr viel durch Krieg und Revolution zerstört ist und zum andern eine intensive landwirtschaftliche Schulung der Bauern, insbesondere in Winterkursen, auf die Verwendung von Maschinen hinarbeitet. Diese Maschinen kamen vor dem Krieg so gut wie ausschließlich aus Amerika. Der deutschen Industrie bietet sich heute die Gelegenheit, die Amerikaner von ihrem frühern Absatzgebiet gänzlich zu verdrängen.

Während das oben Gesagte bis zu einem gewissen Grad Zukunftsmusik ist, hat der Ukrainer andrerseits eine ganze Reihe Ausfuhrartikel verfügbar. Die Ukraine ist Produzent zahlreicher viehwirtschaftlicher Rohprodukte, die Deutschland benötigt.

In erster Linie handelt es sich um Häute, Felle, Därme und Schweinsborsten. Diese Produkte liegen teilweise bereits in Lagern, zum großen Teil aber noch verstreut bei den Bauern. Es wäre Sache einer gemischten deutsch-ukrainischen Gesellschaft, die großen Vorräte zu sammeln und zu exportieren. Die Bezahlung könnte in Form von deutschen Maschinen, Werkzeugen, Textilwaren, Medikamenten erfolgen, an denen teilweise ein großer Mangel ist und für die groteske Preise bezahlt werden. Auch hier ist daran gedacht, durch eine besondere Gesellschaft Warenlager über das ganze Land zu verteilen.


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