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3. Nach Kijew im ukrainischen Kurierwagen.

Sdolbunowo.

 

Wie eine frische Wunde blutete die rote Fahne der Sowjets in das eintönige schmutzige Grau der Warschauer Straße. Sie hing tief hinunter vom Balkon des Hotels Victoria, dem Quartier der ukrainischen Mission.

»Um 7 Uhr früh geht der Zug,« sagte in fehlerfreiem Deutsch der Gesandtschaftssekretär, »d. h. es wird gut sein, wenn Sie wegen der Abfertigung Ihrer Koffer, die mit als diplomatisches Gepäck nach Charkow gehen sollen, bereits um 6 Uhr an der Bahn sind. Also sagen wir um 5 Uhr morgens auf der Gesandtschaft.«

Als ich am nächsten Morgen um 5½ Uhr zum Hotel Victoria ging, schloß ich aus den Erfahrungen früherer Reisen im Osten, daß ich immer noch viel zu früh daran sein würde, und tatsächlich saß ich zunächst eine gute Stunde wartend auf den großen Kisten herum, die das ganze Vorzimmer füllten. Von der Wand herunter grüßte unter blutrotem Fahnentuch der Struwwelkopf von Karl Marx, von der gegenüberliegenden Kiste wippte das elegant bestrumpfte Bein eines beschäftigungslosen Tippfräuleins.

Gegen 7 Uhr erscheint endlich, gähnend und völlig unausgeschlafen, der Kurier. Die Kisten, die Kleidung für die ukrainische Kinderhilfe enthalten, werden verladen, und es geht zur Bahn, wo wir noch über eine Stunde warten, ehe es endlich losgeht.

Meine letzte Fahrt nach Kijew hatte ich auf der Lokomotive eines improvisierten Panzerzuges gemacht, damals im Winter 1918, als die deutschen Truppen die Ukraine besetzten. Auch diesmal hat die Fahrt etwas Feldmäßiges an sich. Wir sind zwar nur unser sechs im Kupee, aber dafür reicht das Gepäck, das die Ukrainer mitgebracht haben, für sechsmal sechs Reisende. Glücklich haben wir endlich alles kunstvoll verstaut, so daß für uns zwischen den Koffern und Säcken auch noch ein wenig Platz bleibt. Da, im letzten Augenblick vor der Abfahrt, erscheint ein erhitzter junger Herr; aufgeregt verhandelt er mit den Ukrainern, und als Ergebnis dieser Unterhandlung wird das Fenster geöffnet, und nun fliegen Koffer, Kisten und Säcke in solchen Mengen ins Kupee herein, daß wir schließlich sämtlich auf den Gang hinaus gedrängt sind.

Da der ganze Zug überfüllt ist, müssen wir uns notgedrungen mit diesem Gepäcküberfall abfinden, und siehe da, unter Ausnützung jeden freien Raumes auf, unter und zwischen den Sitzen geht es schließlich auch. Es ist allerdings nur ein Minimum an Platz, das für jeden von uns übrigbleibt, und ich bewundere die Ukrainer wegen der Geschicklichkeit, ihre Gliedmaßen unterzubringen. Besonders die Dame, die mit uns fährt, leistet darin Wunderbares. Ihre Beine sind vollständig verschwunden. Wie »die Dame ohne Unterleib« kuschelt sie sich auf einen umfangreichen Reisesack neben ihren Mann und schließlich scheint sie wie ein junges Känguruh aus der Brusttasche ihres Gatten herauszusehen.

Draußen zieht die ganze Trostlosigkeit polnischer Landschaft bei widerlichem Aprilwetter und Schneetreiben vorüber.

Hinter Kowel, am Stochod und Styr, trägt das Land noch allenthalben die Narben des Krieges: gesprengte Brücken, hie und da ein Betonblock und Drahtverhaue und Gräben, die, von Schilf überwuchert, langsam in Schlick und Sumpf versacken.

In unserm Abteil aber ist es ganz gemütlich. Mittels eines gemeinsamen Angriffs auf das Gepäck ist jeder in den Besitz seiner Vorräte gelangt, und wir haben zusammen getafelt. Die Unterhaltung ist allerdings nicht ganz einfach. Der Kurier lernt erst Deutsch und er ist in der Warschauer Berlitz-Schule nicht über die schönen Übungen vom Bleistift, vom Zimmer und den Gliedmaßen hinausgelangt. Er führt mir seine Kenntnisse gewissenhaft vor, aber damit ist unsere Unterhaltung auf deutsch erschöpft, und ich muß nun meinerseits zeigen, was ich bei Herrn Berlitz gelernt habe.

Immerhin geht es leidlich, bis sich schließlich herausstellt, daß der aufgeregte Herr mit dem vielen Gepäck ausgezeichnet deutsch spricht. Er verwickelt mich in eine angeregte Unterhaltung über das Leben in Charkow, in deren Verlauf er die Verhältnisse dort nicht gerade wohlwollend schildert.

Als er mir erklärt, in den ukrainischen Städten lebe jedermann von Schiebung und Spekulation, mischte sich einer der Ukrainer mit einem energischen: » Eto bil« – »Das war« in die Unterhaltung und bittet ihn, er möge als Ausländer doch nicht einen fremden Journalisten in solch entstellender Weise über sein Vaterland informieren.

Ich erfahre, daß mein Gegenüber der Kurier der polnischen Vertretung in Charkow ist, der trotz des gespannten Verhältnisses zwischen den beiden Staaten friedlich mit den Ukrainern in demselben Abteil reist.

Der Pole ist einen Augenblick verlegen, gibt dann aber zu, daß er seit langer Zeit nicht in der Ukraine war, und der Mißton, der aufkeimen wollte, ist gebannt. Mit sinkendem Tag schläft schließlich alle Unterhaltung ein, und wir dösen zwischen unsern Koffern, bis wir um 10½ Uhr in Sdolbunowo, der polnischen Grenzstation, ankommen.

Der Schaffner kam, das Licht erlosch, ich wollte aussteigen. »Es hat viel Zeit«, sagte mir der Ukrainer und legte sich wieder schlafen. Ich glaube, ich kann diesen Satz »Es hat viel Zeit« direkt als Motto über meine weitere Reise setzen. Nach einer Stunde gingen wir erst zur Station, nach einer weiteren Stunde fand die Übersiedlung in den ukrainischen Kurierwagen statt. Es war keine einfache Expedition, über zwei Güterzüge hinweg, durch Pfützen und grundlosen Schlamm. Die Beförderung des Gepäcks erfordert in der Dunkelheit noch besondere Vorsichtsmaßregeln, und mit jedem Trägertransport geht einer von uns als Wache.

Mein persönliches Gepäck ist übrigens nicht mitgekommen. So ärgerlich das ist, denn irgendeine Nachsendungsmöglichkeit ist bisher nicht abzusehen, so habe ich doch längst verlernt, mich über derartiges Reisemißgeschick aufzuregen. Ich gebe ein Telegramm nach Warschau auf und richte mich im Kurierwagen ein, der uns für die nächsten acht Tage – so lange wird die Reise wohl dauern – als Wohnung dienen soll.

Der Kurierwagen ist einer jener bequemen russischen Schlafwagen, schön geheizt und leidlich sauber. Noch in der Nacht soll es weitergehen, und mein Kupeegenosse, der Zollinspektor oder dergleichen in Charkow ist, bleibt der polnischen Zoll- und Paßabfertigungen wegen noch auf. Ich habe heute jedoch bereits genug gewartet, darum ziehe ich mich ruhig aus und krieche in meinen mit Kampfer und Insektenpulver wohlgefütterten Schlafsack. Ich höre noch, wie jemand von mir 5 Millionen Rubel für die Platzkarte verlangt, und schlafe dann friedlich ein, ohne mich über Abfahrtszeiten, Zoll- oder Paßkontrolle weiter aufzuregen.


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