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6. »Renaissance.«

Charkow.

 

Die Zigeunerkapelle spielt mit fabelhaftem Schmiß, fiedelt in hinreißendem Rhythmus ungarische und russische Melodien herunter.

Ja, es gibt bereits wieder Zigeunerkapellen in Charkow, im innersten Herzen der Ukraine, in der Hauptstadt der »Ukrainischen Sozialistischen Räterepublik«. Und das Café ist übervoll. Ich mustere das Publikum. Es ist schwer zu definieren. Viele, denen man die Angehörigkeit zur Sowjetbureaukratie ohne weiteres ansieht, Militärs mit dem Revolver im Gurt, aber mindestens ebenso viele rein bourgeoise Typen. Der Druck, unter dem die Bolschewiki bisher die Bourgeoisie gehalten, ist ja aufgehoben. Im Zug konnte ich es mit eigenen Ohren hören, daß ein reisender Händler es wagte, vor Sowjetbeamten offen über die »schmutzige Revolution« zu schimpfen. Ja, man macht wieder Unterschiede nach dem Äußeren, klassifiziert nach dem Geldbeutel. Wenigstens verweist der Wirt zwei ärmlich gekleidete Männer, die sich mit einem großen Brotlaib niedergelassen und augenscheinlich nicht viel verzehren werden, von den Polstersofas, auf die sie sich gesetzt, an ein Tischchen mit Holzstühlen.

Die rasenden Rhythmen der Musik wirbeln mir die Eindrücke der letzten vierundzwanzig Stunden durcheinander: die Ankunft gestern abend auf dem spärlich erhellten Bahnhof. Durcheinander und Geschrei. Ängstliches Im-Auge-Behalten der Träger, immer wieder Überzählen der Gepäckstücke. Am Ausgang vor der Billettkontrolle ist der Trubel besonders schlimm. Die Träger drohen fortgeschwemmt zu werden. Man brüllt ihnen nach: » Kuda, tawarischtsch? Sjuda, sjuda! Wohin, Genosse? Dorthin, dorthin!«

Dann Warten im Regen. Das Auto, das mir der Narkomendiel, das Außenministerium, an die Bahn schicken wollte, ist noch nicht da. Inzwischen schüttet es vom Himmel.

Nach etwa einer Stunde kommt der Wagen. Auf holprigen Wegen rasseln wir in die Stadt. Wie mit Kübeln schüttet es ins offene Auto. In mächtigen Pfützen spiegeln sich die Bogenlampen.

Trotz der späten Stunde – es ist kurz vor Mitternacht – ist noch Leben in der Stadt. In hell erleuchteten Schaufenstern sieht man Orangen, Äpfel und Kuchen. Die stockwerkhohen Glasscheiben des Cafés Metropole werfen zwei breite Lichtbahnen auf die ehemalige Nikolajewskaja, die jetzt, nach dem von Denikin erschossenen ukrainischen Revolutionär, Tewelewa heißt.

Wir fahren gute drei Viertelstunden. Dreimal haben wir Panne. Dreimal springt der Pneumatik vom linken Hinterrad ab. Dreimal legt ihn der Chauffeur mit unermüdlicher Geduld wieder um.

Endlich halten wir vor einer großen Villa. Auf langes Klopfen öffnet eine Frau in etwas derangierter Toilette, verwuscheltem Haar, aber elegantem Schuhwerk.

Wie sie mich in ein hohes, saalartiges Zimmer führt, mit breitem Bett, großen Spiegeln und Polstermöbeln, kommt mir plötzlich der Gedanke: Dies hast du doch schon soundso oft erlebt. Es ist nicht anders, als wenn ich während des Weltkriegs von der Front in irgendein weit zurückliegendes Stabsquartier kam. Und jetzt weiß ich, woran dies heutige bolschewistische Rußland in so vielem erinnert: an die Etappe während des Kriegs.

Das Zimmer, das man mir angewiesen hat, ist zwar sehr elegant, aber das Bett enthält außer dem Kopfkissen nur zwei Leinentücher. Da mein Schlafsack mit dem großen Gepäck auf der Bahn geblieben ist, lege ich mich angekleidet auf das Bett und decke mich mit dem nassen Mantel zu; in der bitter kalten Nacht ein zweifelhaftes Vergnügen.

Meine Gedanken springen über zu all dem, was ich im Verlauf des gestrigen Tages erlebt: den langen Verhandlungen auf der deutschen Fürsorgestelle, dem stundenlangen Laufen durch die Stadt und all den Gesprächen mit deutschen Kolonisten, Flüchtlingen aus dem Hungergebiet, Kommunisten und Antikommunisten. Die vielfachen Eindrücke des Tages verwirren sich fast wie die futuristischen Gemälde an den Wänden des Restaurants, in dem ich sitze. In symbolischem Durcheinander zeigen sie den Gang der sozialistischen Revolution: Jünglinge im Granatregen kämpfend, gesprengte Ketten, dann die Segnungen des sozialen Friedens, Handwerker und Landwirte bei der Arbeit, und endlich eine Art Apotheose der erlösten und befreiten Menschheit.

Die Bilder sind übrigens gar nicht schlecht, der ekstatische Glanz auf den Gesichtern ist geradezu ausgezeichnet. Ich mustere die Gesichter der Daruntersitzenden. Sie hocken vor Tellern voll Kaviar oder Gerichten, deren Preise nahe an die Millionen grenzen. Auf ihren Stirnen ist nichts zu lesen von dem Glanz, der von den Wänden strahlt.

Wenn man das Treiben der Spekulanten im heutigen Rußland sieht, jene krassen Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen Hungernden und Prassenden, liegt es nahe zu sagen: die soziale Revolution hat sich überschlagen, der Kommunismus ist tot, und alles ist wie früher.

Allein so stark dieser Eindruck auch ist, werde ich doch das Gefühl nicht los, daß es sich dabei um einen gefährlichen Trugschluß handelt. Immer wieder drängt sich einem der Gedanke auf, daß die Anrede: » Tawarischtsch (Genosse)«, die auch der Ärmste gegenüber dem Mächtigsten braucht, doch mehr ist als eine leere Form. Bei stärkerem Auf-sich-wirken-Lassen der Atmosphäre in diesem noch immer chaotisch bewegten Lande erkennt man doch, daß es ebenso lächerlich ist, aus diesen üblen Nebenerscheinungen des »Neuen Kurses« auf das Ende des Kommunismus zu schließen, wie lediglich aus dem Aussehen der Straßenfassaden die Bilanz des Bolschewismus zu ziehen.

Bei einigermaßen objektiver Einstellung gewinnt man in Rußland den Eindruck, daß wir den großen Vorgängen zeitlich noch viel zu nahe stehen, um sie auch nur einigermaßen in ihren letzten Auswirkungen richtig abschätzen zu können. Zur Zeit des ersten französischen Kaiserreiches mochte man wohl auch wähnen, der Säbel habe der Revolution endgültig ein Ziel gesetzt, und man konnte nicht ahnen, daß ihre Ideen noch ein Jahrhundert lang über die ganze Welt hin Wirkungen auslösen würden.

Wie die Zigeuner mit einem rasenden Csardas einsetzen, zahle ich die 80 000 Rubel für mein Glas Tee und gehe. Vor der Tür drängt sich eine junge Frau an mich heran. Aus ihrem Antlitz schreit der Hunger, aus ihren Augen stiert die Seuche. Wie ich halte und in der Tasche nach einigen Tausendrubelnoten krame, fällt mein Blick zufällig auf das Schild über dem Kaffeehaus. In großen goldenen Lettern prangt da »Renaissance«!


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