Peter Rosegger
Das Geschichtenbuch des Wanderers
Peter Rosegger

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Ein Jünger Darwin's.

Erzählung eines Geretteten.

Es möge sich unter dem Begriffe »Gott« Jeder das Seine denken – etwa das Beste und Vollkommenste, was nicht an der Erdenschwere hängt, was uns also befreien kann; wie man ihn verliert und wie man ihn findet, ich bin davon ein Beispiel aus Vielen. Ich werde nicht philosophiren – die Sache geht mir zu sehr an's Herz.

Ich bin der Sohn eines niederösterreichischen Landwirthes. Nach einigen absolvirten Gymnasialclassen in Wiener-Neustadt kam ich auf die land- und forstwirthschaftliche Anstalt in Hermsdorf. Von Haus aus hatte ich eine sehr religiöse Erziehung genossen, wozu auch noch meine weiche, empfindsame Gemüthsart kam. Daß mir bei jedem Abschiede meine Eltern unter Thränen gute Lehren gaben, brav zu bleiben und auf Gott nicht zu vergessen, bin ich jedoch nach und nach so gewohnt geworden, daß es gar keinen Eindruck auf mich mehr machte. Ich fand es im Grunde ja doch so selbstverständlich, für was hielten sie mich denn, wenn sie mir zutrauen konnten, unbrav zu werden und auf Gott zu vergessen!

Einen ganz anderen Eindruck hingegen machten eines Tages, als ich wieder in's Institut abreiste, auf mich die Worte unseres alten Pfarrers, der in der Volksschule mein Katechet und Beichtvater gewesen und dem ich als Knabe in der Dorfkirche ministrirt hatte. Der saß in einem Ledersessel und zog mich neben sich nieder auf einen Stuhl und hielt mich an der Hand – die seine war völlig kühl und zitterte – und sagte zu mir beiläufig Folgendes: »Mein Sohn, so oft Du fortgehst, befällt mich eine Bangigkeit. Wenn ich Dir in's Auge schaue, da ist so viel Vertrauen d'rin. Du gehst munter in die Welt, es ist so schön draußen, Du wirst vieles Gute lernen, sie wird Dir allerlei große Aufgaben stellen und allerlei Vergnügungen anbieten – und eines Tages wirst Du gewahr werden, daß Du den kindlichen Glauben an Gott nicht mehr hast.«

So sagte er, ich wurde hierauf fast erbost und rief: »Niemals, Herr Pfarrer, ich lasse mich nicht verführen, und meine Religion lasse ich mir nicht rauben, so wahr –«

Ich hob den rechten Arm, er drückte mir ihn sanft zurück und sagte: »So behüte Dich Gott!«

Dann ging ich hin und war ganz glücklich im Bewußtsein meiner Frömmigkeit und meiner Festigkeit, und schaute in die grüne besonnte Landschaft hinaus, wo Alles so lebendig und freudenvoll war im Blühen, Glänzen und Jubiliren, und ich erinnerte mich auf jener Wanderschaft an den Ausspruch: Die Welt ist nur schön als Transparent Gottes.

Zu jener Zeit war ich siebzehn Jahre alt. Ich hatte den Ruf eines gesitteten, fleißigen Schülers; die Collegen und die Lehrer und die Bücher und vielerlei Welt waren um mich, viele Freunde hatte ich, und ein paar kleine, kindische Feinde, aber Niemand und nichts machte den geringsten Versuch, mich vom Glauben abwendig zu machen. Im Gegentheile, weil ich strebsam und ordentlich und stets munter war, so wurde ich Anderen als Beispiel aufgestellt. Wenn ich dann allein war in meinem Zimmer, spät Abends vor dem Einschlafen oder an hohen Festtagen, gedachte ich Gottes und meiner Eltern mit dem gleichen Herzen.

In den Studien stieg ich auf: Geographie, Ethnographie, Zoologie, Botanik, Mineralogie. Hatte mir doch mein alter Pfarrer gesagt, das Studium der Schöpfung Gottes sei auch ein gutes, Gott wohlgefälliges Werk. In freien Stunden gab ich mich gerne mit Dichtern ab, mit den besten, die wir haben: mit Klopstock, Körner, Herder, Schiller, Lessing, Goethe. Wohl sah ich Manches in verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Augen an. So hatte Faust für mich nicht weniger als drei Stücke. Als ich ihn das erstemal las, ergötzte mich darin der Spuk und der possirliche Teufel, der schließlich den Doctor in die Hölle holt; bei einem späteren zweiten Lesen interessirte mich vor Allem die Liebesgeschichte mit Gretchen. Das drittemal – da war ich schon weit – sah ich nichts als den Philosophen Faust. In der Naturgeschichte weiß ich nicht, wann ich das Brücklein übersprang von den alten Gelehrten zu den modernen. Es ist ja eigentlich keine markirte Grenze, aber die schlechtgetretenen Pfade sind markirt, wie in einem Urwald. So geht es sachte hin, es ist Manches fremd. Der Katechet und der Lehrer der Naturgeschichte hatten keine Berührungspunkte mehr, das fiel mir anfangs gar nicht auf.

Einmal, als ich zu Hause auf Ferien war, kam der alte Pfarrer auf Besuch und blätterte ein wenig in meinen Lehrbüchern. Sagte aber kein Wort, sondern war herzlich wie immer. Nicht mehr war es der Pflichteifer, der mich zum fach- und naturgeschichtlichen Studium trieb, sondern das wirkliche Interesse an demselben; ich las alle einschlägigen Werke, die ich bekommen konnte, selbst wenn sie weit über das Ziel unserer Fachstudien hinausgingen. Endlich bei einem lebhaften Gespräch mit einem Collegen über Abstammung und Vererbung im Thierreiche sah ich's, wo ich war. Ich war mitten im Darwin.

Jetzt wissen Sie Vieles von mir, was ich damals noch nicht wußte. Also gut, Thiere und Pflanzen stammen aus ganz wenig Urformen her, vielleicht aus nur einer, und die Wesen züchten und entwickeln sich im Kampfe um's Dasein. Das ist was Neues, aber es leuchtet ein. Doch das höchstentwickelte Thier, bei dem knüpft ja der Mensch an! Und die ganze Organisation des Letzteren zeigt unwiderleglich, daß der Mensch in vielen Tausenden von Jahren aus dem Thierreiche herausgewachsen ist. So erzählte man mir Dinge, die nicht waren! – Die neue Lehre dehnt sich mit ihren Grundsätzen durch unendliche Zeiten und Räume. Und nirgends von Gott die Rede? Nirgends eine Spur von ihm? Was ist das? – In meiner Bedrängniß schrieb ich dem alten Pfarrer, ich sei in eine große Verwirrung gerathen, die Naturgeschichte stimme mit der Bibel nicht und im Weltall wäre mir Gott abhanden gekommen.

Der gute alte Mann that ganz harmlos und schrieb zurück, meine Beängstigung sei einerseits ein Beweis von der tiefen Religiosität meines Gemüthes, andererseits aber eine Mahnung, wie sehr ich in diesen Dingen auf der Hut sein müsse. Mein Zweifel – wenn er die augenblickliche Stimmung so nennen wolle – sei übrigens ganz grundlos. Daß man die Bibel nicht wörtlich, sondern gleichnißweise zu nehmen habe, sei oft genug gesagt worden, und so stimme sie, däuche ihm, wirklich mit dem von mir angeführten Systeme. Wissenschaftliche Forschungen könnten sich weit ausdehnen, aber endlich seien sie doch nur etwas Menschliches, also Unvollkommenes und Begrenztes. Und außerhalb dieses menschlichen Spielraumes – der im Vergleiche zur Unendlichkeit doch ganz armselig wäre – hätte Gott Raum genug, wenn es die Herren Gelehrten schon nicht zugeben wollten, daß er die Seele aller seiner Geschöpfe sei.

Auf diesem Karren schleifte ich meine Religiosität noch eine Weile fort. Doch als es immer weiter in die Erkenntniß und immer tiefer in's Leben hineinging, sah ich endlich ein, es wäre umsonst. Der kindliche Glaube war nicht mehr zu halten. Der Gott, der sich denken ließ, war nicht der Gott meiner Väter.

Ich dachte viel an das Oberhaupt der neuen Schule. Alt-England ist ein gut katholisches Land, Darwin's Familie hat einen hochgeachteten Namen, der Gelehrte selbst ist ein makelloser Charakter, von dessen Seelenadel so Manches erzählt wird. Wie kann es möglich sein, daß solch ein Mann eine Lehre ausbildet, die das Dasein Gottes ignorirt und den Menschen die Religion nimmt! Das kann nicht möglich sein.

In einem persönlichen Gespräche mit dem alten Pfarrer theilte mir dieser zu meinem Troste mit, daß er vernommen habe, Darwin sei ein guter katholischer Christ, seine Lehre werde nur schlecht verstanden und falsch ausgelegt. Für den Augenblick leuchtete mir das wieder ein. –

Meine Fachstudien waren beendet. Ich kam auf ein großes Gut in Mähren als Praktikant. Das war im Jahre 1880. Kurze Zeit darauf starb meine Mutter. Noch sterbend hatte sie gesagt, sie lasse mich, den fernen Sohn, grüßen und bei Gott im Himmel wollten wir uns Alle wieder zusammenbestellen.

Was nun in mir für ein Leid anhub, das ist unbeschreiblich. Meinem priesterlichen Freunde klagte ich Alles. Er war erschüttert und wußte mir nichts mehr zu sagen, als ich solle beten und arbeiten.

Arbeiten, ja, Tag und Nacht, bis zur Erschöpfung. Draußen auf den Feldern und in den Wäldern ging ich umher, so lange ein Licht am Himmel, und legte selbst Hand an den Pflug, an das Schnittscheit, und in den Nächten saß ich bei meinen Rechnungen und theoretischen Ausarbeitungen. Aber beten?! Gebete sagen kann man, wann man will, aber beten nicht. O Mutter, Mutter, daß Du mir auf ewig solltest genommen sein!

Und in einer solchen Nacht, da draußen ein leiser Nachtwind rieselte in der Linde, und im Hause Alle so ruhig und süß schliefen, als wäre Himmel und Erde für sie eine sanft schaukelnde Wiege – da kam mir plötzlich der Gedanke: Bei Bibel und Priestern klopfe ich vergebens an. Nur der mir den Glauben geraubt hat, kann mir ihn wieder zurückgeben.

Ich zündete das ausgelöschte Licht wieder an und schrieb an Charles Darwin zu Down in England.

Ich stellte ihm meine Vedrängniß vor und bat ihn um Aufklärung, was er von Gott halte, was er von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele denke? Den Brief sandte ich am nächsten Tage ab. Zwei Wochen darauf hatte ich Antwort, die aber so kalligraphisch geschrieben war, daß ich die Handschrift des großen Gelehrten darin nicht vermuthen konnte. Darwin entschuldigte sich durch eine zweite Person mit seinem Alter, mit seiner Kränklichkeit, mit der Bürde seiner wissenschaftlichen Arbeiten; er sei außer Stande, die schwierige Frage zu beantworten.

Also, er läßt mich sitzen. Er hat mich beraubt um meine Labniß und läßt mich in der Wüste verschmachten. Er hat seine Weltberühmtheit – die tausend Herzen, die da brechen, kümmern ihn weiter nicht.

Als ich jedoch – denn das war mir wie angethan – wieder in den Schriften des Forschers las, stellte ich mir die Frage: Ist es bei ihm die Lockung des Ruhmes? Soll es nicht vielmehr – so wie ja auch bei mir – der Drang nach Wahrheit sein? Und wie wäre es möglich, daß ein Forschergeist so groß und so tief sein kann, wenn nicht Gott mit ihm ist? Und war in seinem Schreiben nicht von einer schwierigen Frage die Rede? Er müsse über diesen Punkt also doch was zu sagen haben und sehr viel, wenn es sich in einem gewöhnlichen Briefe nicht beantworten ließe. – Es mag seine Kränklichkeit noch so groß sein, wenn es ein Seelenheil gilt, da muß er die Frage beantworten und sollte es ein Buch werden.

So habe ich dem Gelehrten noch einmal geschrieben, habe ihm vorgestellt, daß mein Heil von seiner Antwort abhänge, daß er es seinem Jünger schuldig sei, das Gewissen zu beruhigen, daß der Forscher, nachdem er so viel gesagt, nicht zurückschrecken dürfe davor, das letzte Wort auszusprechen, daß ich dieses letzte Wort für eine Offenbarung halten wollte, und daß es, fiele es aus, wie immer, mich aus der peinigenden Ungewißheit reißen und beruhigen würde. Ich bat inständig, wie der Verschmachtende um einen Trunk Wasser bittet, mir wie ein sterblicher Mensch dem sterblichen Menschen offen und treu anzuvertrauen, was er von Christus und seinen Offenbarungen, und also auch von der Unsterblichkeit der Seele halte.

Am eilften Tage nach der Absendung dieses meines zweiten Briefes kam ein Schreiben, dessen Schriftzüge und Namensunterschrift als die des großen Forschers erkannt werden. Das Schreiben lautet:

»Down, 5. November 1880.

Lieber Herr!

Ich bin sehr beschäftigt, ein alter Mann und von schlechter Gesundheit, und ich kann nicht Zeit gewinnen, Ihre Frage vollständig zu beantworten, vorausgesetzt, daß sie beantwortet werden kann. Wissenschaft hat mit Christus nichts zu thun, ausgenommen insoferne, als die Gewöhnung an wissenschaftliche Forschung einen Mann vorsichtig macht, Beweise anzuerkennen. Was mich selbst betrifft, so glaube ich nicht, daß jemals irgend eine Offenbarung stattgefunden hat. In Betreff aber eines zukünftigen Lebens muß Jedermann für sich selbst die Entscheidung treffen zwischen widersprechenden, unbestimmten Wahrscheinlichkeiten.

Ihr Wohlergehen wünschend, bleibe ich, lieber Herr,

Ihr hochachtungsvoller

Charles Darwin.«

Seine Meinung hatte ich nun. Was half sie mir? Sie setzte seinen Werken die Krone auf. Er war gottlos.

Was wäre schließlich aber daran gelegen? Hätte ich mich von ihm nur freimachen können. Das konnte ich nicht. Seine Lehre hielt mich gefesselt, wie eine geschehene unerbittliche Thatsache. Ich versuchte mich mit Studium wieder auszugleichen, ging sogar auf eine berühmte deutsche Universität, um zu sehen, wie Andere mit der Sache fertig werden. Ich hielt es aber nicht lange aus, kehrte zurück und suchte in meiner unerleuchteten Trostlosigkeit einen andern Weg. Das Gegengewicht, das mich bisher vor dem Niedersinken zur Erde bewahrt hatte, war verloren, ich war ein Leib ohne Seele. Nun kamen schon die Stunden, in welchen ich solche Menschen beneidete, die im Stande sind, des Nächsten Glück spielend zu ihrem eigenen Vortheile auszunützen. Das eben sind ja die wohlorganisirten Menschen, die den Kampf um's Dasein siegreich bestehen und in ihrer Gattung den Egoismus zu immer größerer Vollkommenheit ausbilden.

Ich trachtete zwischen meinem Wissen und Leben eine Harmonie herzustellen, nämlich indifferent in moralischen Dingen, also grundschlecht zu werden. Aber hierin hatte der Alte ja auch wieder recht: Du kannst nicht besser und nicht schlechter sein als Du bist.

Statt schlecht zu werden, wurde ich krank. Ich vermochte in eine Welt, in der nichts dahintersteckt, keinen Werth zu legen. Wo Andere sich balgen um die Früchte des Augenblickes, dort wurde ich gleichgiltig gegen alle Genüsse, deren letztes Ziel die Enttäuschung ist. Die Nervenspannungen wurden lax; ich begann abzuwelken. Weil just der Winter war, so sagten gutmüthige Menschen, das Frühjahr würde mir Besserung bringen. Andere flüsterten – und die hörte ich am liebsten – bis die Bäume ausschlügen, würde ich's überstanden haben.

Es kam das Frühjahr. Und zwar nicht an Einem Tage, aber in einer und derselben Woche starb in meiner Heimat der alte Pfarrer und zu Down bei Kent in England Charles Darwin. Ich lebte weiter. Meine Phantasie wurde noch einmal thätig, ich stellte mir vor, wenn sich der alte Gentleman doch geirrt hätte und wenn die beiden Hingeschiedenen in der Ewigkeit sich begegneten, was sie wohl sagen würden zueinander?

Mein Zustand verbesserte sich nicht, ich fühlte wirklich, daß ich keine Seele mehr hatte, nur mitunter Nervenstimmungen, die mir bitter wehe thaten. Wer mich sah, der gab mir einen guten Rath, um gesund zu werden, und einer meiner ehemaligen Collegen rieth mir geradezu – und pries es als das sicherste Mittel meiner Rettung – ich sollte mich verlieben. Das Weib würde mich schon wieder Gott erkennen lernen. Einstweilen sollte ich in's Gebirge gehen, um in der reinen kräftigen Luft körperlich zu erstarken.

Den letzteren Vorschlag, den auch mein Vater, ein geborner Tiroler, sehr unterstützte, befolgte ich in der That, ich zog in's Pusterthal und habe dort den Sommer zugebracht. An flache Gegenden gewohnt, fühlte ich mich anfangs im engen Gesichtskreise zwischen hohen Bergen noch mehr gedrückt, hingegen thaten mir die Menschen wohl. Zuerst überkam mich freilich eine unbeschreibliche Wehmuth, als ich bei ihnen die liebe Gottesgläubigkeit und die Harmonie des Gemüthes wiederfand, die mir verloren gegangen war, aber allmählich bekam ich Anwandlungen, daß ich das Glück meiner Person überhaupt nicht mehr als Hauptsache in Betracht zog, sondern leidlich zufrieden war, wenn ich's an Anderen sah.

Als die kalte, regnerische Zeit des Septembers kam, wurde mir übler und ich trachtete milderen Gegenden zu. Da begab sich außer und in mir ein Ereigniß.

Auf einem Bahnhofe des Etschthales harrte ich gerüstet auf den nächsten Zug, der mich nach Italien bringen sollte. Als der Zug im Bahnhofe stillstand, wurden alle Passagiere aufgefordert, auszusteigen, der Zug könne nicht abgelassen werden, da südlich von Trient das Hochwasser einen Damm zerstört habe. Wie lange Verspätung? fragte man. Der Verkehr nach dem Süden überhaupt eingestellt! war der Bescheid.

So wollte ich nach Norden, der Heimat zufahren, was konnte ich dabei verlieren? Der Zug gegen Innsbruck wurde abgelassen. Er war groß und sehr überfüllt. Alle Fenster waren besetzt, denn da konnte man interessante Dinge sehen. Der Regen floß in Strömen und immer von neuem sank schweres, finsteres Gewölke an den Berghängen nieder, wallte, braute und staute sich in den Kesseln, als wolle es die Felsen sprengen. Jede Wand hatte ihre schneeweißen Adern, die hundertfältig niedergingen. Das waren die Wasserfälle. Hier sprangen sie in Bogen, dort in breiten Bändern, dort in dünnen Schleiern. Aus den Schluchten donnerten braune Fluthen, die dort und da mit beängstigender Gewalt an den Bahnkörper schlugen. Der Fluß war an den meisten Stellen ausgetreten, die Thalsohle glich streckenweise einem trüben See, aus welchem Bäume, Hügel, einzelne Gebäude, Zäune und Wegsäulen ragten. Hier stand das Wasser ruhig, dort schoß es in breiten, verzweigten Adern heftig dahin. Mitten durch führte unser Bahndamm, auf welchem der Zug langsam und heftig pustend dahinfuhr. Ich war gegen meine Reise gleichgiltig gewesen, aber je zweifelhafter nun das Weiterkommen wurde, desto lebhafter wünschte ich es.

Bei einer nächsten Station gewannen wir die tröstliche Versicherung, daß die oberen Gegenden weniger gelitten hätten und die Bahn durch und durch intact sei. Wir kamen in der That glücklich in's Pusterthal, doch hier wurde es grauenhafter und endlich waren wir glücklich an einem Punkte, wo wir nicht vorwärts und nicht mehr rückwärts konnten. Vor uns hatte die rasende Rienz den Bahnkörper durchbrochen und die Schienen standen wie eine Riesengabel in die Luft hinaus. Hinter uns sahen wir eine Brücke niederbrechen. Ein mächtiger Fichtenstamm sammt Astwerk und Wurzel mit Erdballen hatte sich herangewälzt und schmiegte sich an einen der Brückenpfeiler fest. Alsbald staute sich weiteres Gestämme, das empörte die Wasser, die heute keinen Widerstand kannten, und einer der Pfeiler begann zu krachen, das hielt noch ein paar Minuten Stand, endlich aber wankte es und brach Joch um Joch langsam nieder.

Der Zug stand. »Wir haben Rasttag,« rief einer der Conducteure. Zur einen Seite hatten wir die Berglehne, zur andern die überfluthete Thalschlucht. Wir konnten einige Männer beobachten, Touristen mochten es sein, die jenseits am Felshange hinkletterten, weil die Straße unter Wasser war. Wir mußten, ob jammernd, lachend oder fluchend, unsere Behausung endlich auch verlassen und in Wind und Regen unser Fortkommen suchen. Der leere Zug schob sich langsam zurück auf eine gesichertere Stelle. Ich kroch den Berg hinan, und insoferne der Nebel Ausblick gestattete, sah ich neue und grauenhafte Verwüstungen. Da unten war ein Seitenthal, in welchem gerade ein Haus zusammenfiel. Aus dem Trümmerhaufen stob zuerst Rauch, es schien sich ein Feuer zu entwickeln, welches aber gar bald gedämpft war, weil Alles in's Wasser niedersank und sich auf demselben knackend auseinander legte. Am Ufer schossen Menschen hin und her, schlugen die Hände zusammen, hantirten planlos mit langen Stangen herum, und ein Weib wollte in's Wasser springen, um eine ertrinkende Ziege zu retten, wurde aber noch rechtzeitig zurückgehalten.

Ich trieb mich einen Tag lang herum, immer von Wasser und Erdbrüchen verhindert und abgelenkt und selbst am Leben bedroht. Ich hatte damals begreiflicherweise keinen Sinn für die wilde Großartigkeit der Natur, die mich Würmchen mit ihren ungeheuren Gewalten umgab. Heute weiß ich, daß mir eine solche Größe und Göttlichkeit in diesem Leben wohl kaum mehr begegnen wird. Endlich kam ich zu einem Hofe, der auf solidem Grunde einer Höhung stand. Aber er war angepfropft von Leuten, die im Thale ihr Haus und Habe verloren hatten. Das war ein Weinen und Klagen! Die Einen kauerten halb nackt in den Winkeln, daß ihre Kleider trocknen mochten; die Anderen verschlangen in Heißhunger Nahrung, die ihnen die gastlichen Bewohner reichen konnten. Aber die Bäuerin sagte: »Helf Gott, wir werden bald selber nichts mehr haben!«

Hier konnte ich also nicht bleiben.

Nach einer schlechten Nacht, die ich in einem Heustadl zubrachte und in welcher ich inne wurde, was eine gute Nacht werth ist, kam ich wieder zum See der Rienz hinaus, man konnte nicht mehr sagen: Thal, denn es war ein See, der heute, da ich dieses schreibe, noch nicht abgelaufen ist und vielleicht gar nicht ganz ablaufen kann, weil die unzähligen Lawinen die Schluchtpässe verlegt haben. Mitten im See, aus dem die Dächer von Hütten, Mühlen und Holzsägen ragten, wovon Eins um's Andere verschwand, mitten in diesem weiten Gewässer auf einer schmalen, langgestreckten Insel sah ich ihrer sechs oder acht Männer, die mit verzweiflungsvollen Geberden um Hilfe riefen. Ich fand nach langem Suchen Leute zusammen, die mit einem kleinen Floße jene Männer retteten. Dieselben hatten einen Tag früher den Flußdamm vertheidigt und waren dabei, indem weiter oben eine Wehre brach, plötzlich vom Wasser eingeschlossen worden. Eine furchtbare Nacht hatten sie verlebt auf dem schmalen Damm, von welchem Stück für Stück weggeschwemmt wurde. Zwei weitere Genossen, die bei ihnen waren, hatten sich in der Finsterniß der Sturmnacht von ihrer Seite verloren, waren zu Grunde gegangen, ohne daß es von den Uebrigen bemerkt worden.

Nun erfuhr ich auch, daß diese Gegenden von aller Welt abgeschnitten waren. Alle Thäler bis hinaus nach Lienz, bis Defreggen und Oberdrauburg wären verheert. Aus dem Eisackthale brachte Einer, der auf Umwegen über's Gebirge kam, Nachricht von den schrecklichen Verwüstungen, die dort und südlicher im Etschthale bei Bozen, Trient und in der Meraner Gegend angerichtet seien. Und alle Straßen und Eisenbahnen vernichtet, alle Telegrafenleitungen zerrissen. Ganze Dörfer und Städte überschwemmt, zum Theile eingestürzt, fortgerissen. Wie viele Menschen schon um's Leben gekommen und bei dem fortwährenden Steigen der Wasser noch um's Leben kommen würden, das sei nicht annähernd zu sagen. Aus manchen Engthälern sei gar keine Nachricht gekommen, aber das Wasser hätte unerhörte Massen von Getrümmer hervorgeschwemmt. Wie es den Leuten ergehe, das wisse Gott. Man begreife nicht, woher all das Wasser kommen könne, die Regenfluthen allein könnten es nicht ausmachen. Allerdings gehe ein Wind, als wären die Dolomiten lauter heiße Oefen, der schmelze den Schnee auf den Gebirgen. Aber es scheine, als sei in den Tauern und in den weißen Bergen (Dolomiten) und in den Trientiner Alpen und im Ortlergebirge und überall die Fluth aus der Erde hervorgebrochen, wie es bei der Sintfluth gewesen, und es sei nicht abzusehen, was daraus noch werden solle!

Während die Leute zusammenstanden, um diese Posten zu hören, läuteten sie in den Nachbardörfern, die theils im See standen, fortweg Sturm, und es vergrößerte sich auch für diesen Ort, der hart am Berghange lag, die Gefahr. Man räumte die Häuser aus, aber plötzlich kam die Dorfgasse herauf das braunrothe Wasser gewallt. »Das Wasser rinnt aufwärts!« riefen die Kopflosesten, »da ist Alles aus.«

Aus den Häuserräumen hörte man das Quirln und Gurgeln des Wassers, das Niederbröckeln von Mauerwerk; dann wieder ein Knattern und Schmettern einstürzender Wände und Dächer. Bei den Häusern schrien die Leute, auf den Anhöhen röhrten und blökten die Hausthiere, und über Alles hin war das dumpfe Tosen.

Ein Weib kam durch's Wasser gesprungen: das Spital sei hin, die Kranken müßten ertrinken, wenn man ihnen nicht zu Hilfe käme. Jetzt fiel es mir ein: da könntest Du ja helfen! Wir trugen die Kranken in die Kirche hinauf, die höher stand. Aber auch einen Todten schleppten sie jetzt herbei, einen jungen, hübschen Burschen, der seine mühselige Großmutter aus der überschwemmten Kammer gerettet und dabei den Tod gefunden hatte. Die Gerettete war ohnmächtig, die übrigen Mitglieder der Familie erhoben ein lautes Klagen. Da trat ein alter Mann zur Gruppe und rief: »Was beweint Ihr Den da! Der ist der Glückliche. Wir sind die Unglücklichen!« Wer einen Blick in die Gegend hinaus that, der konnte wohl verstehen, wie's gemeint war.

Der Himmel war finstergrau, aber die Berge standen jetzt rein bis zu ihren weißen Gipfeln. Im dunkelbraunen See spiegelte sich ihr Bild. Von den entwaldeten Lehnen gingen ununterbrochene Erdlawinen nieder, als wäre »die Erde rinnend geworden«, wie sich Einer ausdrückte.

Kaum hatten sie den Ertrunkenen in die Todtenkammer gelegt, erscholl – so gut es durch das Tosen der Wasser hörbar war – neues Jammergeschrei. Ein Kind hatten die Wellen fortgerissen, die Mutter desselben lief mit herzbrechenden Hilferufen und Weinen hin und her, Keiner wollte sich in's wallende Wasser wagen, und das Leiblein wogte schon dem reißenden Hauptstrome zu.

Jetzt kam's über mich. Kannst Du schwimmen? rief ich mir selber zu, nicht? So lern's! – Und stürzte mich in's Wasser. – Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einer steinernen Treppe, und um mich waren Leute und vor mir kniete ein Weib und beschwor mit gerungenen Händen, unter Thränen schreiend, alles Glück des Himmels auf mich herab. Andere Weiber beschäftigten sich mit dem geretteten Kinde, einem Mädchen von fünf bis sechs Jahren. Und während auf das unselige Dorf immer neue Wassermassen anbrausten von allen Seiten, und die Leute in heller Verzweiflung um ihre Existenz rangen, war ein überglückliches Wesen da, dem seine ganze kleine Habe zu Grunde gegangen, das als Bettlerin saß an den Stufen des Kirchenthores und das nimmer satt werden konnte, sein wiedergefundenes Kind jubelnd zu herzen und zu küssen.

»Das ist er!« schrie sie und zeigte auf mich, »o, schaue ihn an!«

Und der Blick, den das kleine Mädchen auf mich geworfen, ist mir tief gegangen.

Ich habe es dann nicht mehr gesehen. Ich trug noch mein Weniges zu den Schutz- und Rettungsarbeiten bei, bis am dritten Tage das Wasser zu fallen begann, und wir Alle tief erschöpft zur Rast sanken. –

Später habe ich nach Tagen mühevollen Wanderns in Kärnten den Punkt erreicht, wo das Eisenbahncoupé die versprengten und verschlagenen Reisenden und Touristen wieder in Empfang nehmen konnte.

Und als ich glücklich daheim in meinem Hügellande saß, da machte ich die Wahrnehmung, daß ich nicht mehr krank war. Nicht mehr krank und nicht mehr schwermüthig, sondern so jung und munter, als ich's einst gewesen.

Jetzt prüfte ich mich, was denn die furchtbare Leere, die Darwin in mein Gemüth gerissen, wieder ausgefüllt haben möchte. Ich fand's nicht, so sehr ich nachdachte. Vielleicht, daß das große Unglück, welches ich miterlebte, mich wieder in's Gleichgewicht gebracht, wie es ja bisweilen geschehen soll, daß Pessimisten und Verzweifler gerade durch eine schwere Gefahr und Noth wieder zur Achtung des Lebens bekehrt werden. Aber wenn ich mitunter so vor mich hinträumte, da sah ich in der Dämmerung meines Herzens, wo einst das »ewige Licht« wie vor dem Altare gebrannt hatte, zwei blaue Sternlein schimmern – und das waren die Augen des geretteten Kindes.



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