Peter Rosegger
Jakob der Letzte
Peter Rosegger

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Der Jackerl ist ein Engerl worden

An dem Abende des Tages, als der Guldeisner sein Haus verkauft hatte, kamen vom Gebirge her Männer und kehrten im Steppenwirtshause ein. Sie kamen unverrichteter Sache, sie hatten ihn nicht gefunden.

Seit Tagen wurde das älteste Söhnlein des Reuthofers gesucht. Der Knabe war – wie es hieß – wegen Widerspenstigkeit in einen Moosbarren gesperrt gewesen, daraus entkommen und seither verschwunden. Man hatte bei den Nachbarn umgefragt, draußen in Sandeben gefragt, in den Wäldern gesucht, auf den Almen gesucht, man hatte ihn nicht gefunden, keine Spur von ihm entdeckt.

Weit hinten im Donnersgraben hauste ein Pechölbrenner, eines Köhlers Kind, das nie aus dem Walde fortgewesen. Dieser Pechölbrenner war voll Schnurren und Späße, er verstand allerlei Kurzweil. Er schnitt Pfeifen und spielte darauf; er machte aus trockenen Lattichblättern Drachen und Geier und ließ sie steigen; er schnitzte kleine Rädchen mit Hämmern, stellte sie ans Wasser und ließ sie klappern; er meißelte aus Föhrenrinden Hirsche und Kamele; er baute niedliche Grillenhäuschen, Mausfallen, machte Fliegenklappen, Schmetterlingsnetze und dergleichen. Diese Dinge trug er, wenn er mit seiner Pechöllagel hausieren ging, zu den Häusern, verschenkte sie an die Kinder und bekam dafür von der Bäuerin etwas zu essen. Der Pechölbrennernatz ward nie allein gesehen, wenn er über und über mit Sachen behangen in Altenmoos umging; immer folgte ihm ein Schwarm von Kindern, und manches Knäbel stieg ihm nach bis hinauf in den Donnersgraben, wo es dann in der Hütte des Waldmenschen geatzt und gehegt ward.

Der Pechölbrennernatz hatte sein Lebtag drei Weiber gehabt, aber nicht nebeneinander, das ist in Altenmoos niemals der Brauch gewesen, sondern hintereinander. Die erste hatte seinen Erwerb in bunten Wollkleidern und Seidentüchern vertan und mit dem fürnehmen Gewand ihren dürren Leib geziert, daß das Ding nur so gespensterhaft herumgeflattert war in der Gegend. Die zweite hatte seine Groschen in Schnaps vertrunken und nebstbei in den Sommerstadeln und Köhlerhütten herumgeschlafen. Die dritte war arbeitssam und sparsam, hatte aber dem Natz mitunter ein Scheit an die Füße oder an den Rücken geworfen, wenn er von seiner Hausiererei zu wenig Geld heimgebracht. Keine dieser drei Holden hatte ihm ein Kind geboren, und der Natz hätte gar gern so etwas Kleines gehabt, ein lebiges Kindel, oder deren mehrere oder viele. Sein einziger Wunsch war, ein König zu sein und ein Königreich voll Kinder zu haben. Die drei Weiber lagen nun längst draußen in Sandeben friedlich nebeneinander. Der Natz, wenn er an den Sonntagen hinauskam, betete allemal drei Vaterunser bei ihnen und ging dann wohlgemut wieder heim in seine Waldhütte. Jetzt ging ja frisch sein Leben an, er war ein altes Kind mit den Kindern und für die Kinder.

So war man auf die Vermutung verfallen, des Reuthofers Knabe, der Jackerl, sei vielleicht zum Pechölbrennernatz hinaufgegangen. Aber der wußte nichts von ihm, löschte jedoch sofort seinen Pechölofen aus und ging mit auf die Suche.

Jakob der Vater war am ersten Tage der Suche arg zornig gewesen auf seinen ungeratenen Sohn; am zweiten Tage kam er ins Bedenken, ob die Behandlung mit dem Moosbarren wohl das rechte Mittel gewesen sei, den Knaben zu bändigen; am dritten Tage hub eine heimliche Angst an, sein Herz zu zerfleischen. Seinem Weibe – der Maria zu – tat er wohl immer noch, als sei er gegen den Knaben aufgebracht, denn die Maria tat nichts mehr als weinen und beten. Sie hatte sich mattgelaufen und heiser geschrien in der Gegend, und daß das Kind so lieblos und verblendet gewesen und seinen Eltern und Geschwistern entflohen sein sollte, als wären sie seine grimmigsten Feinde, das tat ihr am meisten wehe. Seine besonderen Wege war der Knabe von erster Kindheit an gern gegangen, mit fremden Leuten war er mehrmals fortgezogen und als fünfjähriger Knabe hatte er sich draußen in Sandeben einmal einer Zigeunerbande angeschlossen. Es hieß damals, die Landstreicher hätten den Knaben verhext und ihm ein Tränklein beigebracht, daß er seither keine Lab' und Lieb' daheim mehr empfinden könne. Die Maria bekannte nun, es sei ihr immer vorgegangen, mit diesem Kinde würde es eine andere Wendung nehmen als mit gewöhnlichen Kindern, sie behauptete, es habe immer ein ganz besonderes unerforschliches Wesen gehabt und es sei ihr oft beigekommen, Gott müsse mit ihm etwas Eigenes im Sinne haben. Wenn sich das Weib ausgeweint hatte, dann kam plötzlich wieder die Zuversicht, es müsse mit dem Jackerl zu einem großen Glücke ausschlagen. Wenn er nur so viel gewesen und zu mir gekommen wäre! rief der Pechölnatz häufig aus, wir wollten uns schon unterhalten haben miteinand'. Und hätt's sein müssen, das Umlaufen, so hätt' ich ihm die Pechölbutten auf den Buckel geschnallt: Jetzt lauf' um zu den Leuten, jetzt weißt warum!

Am vierten Tage des Suchens brachte jemand die Nachricht, oben am Fuße des Hochgebirges, im Gottesfrieden, am Rande des kleinen Sees, seien zwei Knabenschuhe gefunden worden. Als man diese Schuhe der Maria zeigte, wendete sie sich rasch davon ab, wankte in den Winkel der Stube und sank dort zu Boden. Es waren die Schuhe des Jackerl. Sie waren handgerecht aufgeriemt und von den Füßen gezogen worden, und das erklärten sich die Leute so: Der Knabe sei auf seiner Wanderung im Gebirge von Hunger befallen worden und habe in dem See Forellen fangen oder sich die wunden Füße baden wollen. Er habe die Schuhe ausgezogen, sei in das Wasser gestiegen, habe sich zu weit vorgewagt und sei in der Tiefe versunken. Etliche meinten, es könne auch anders gewesen sein: Der Knabe habe sich der Schuhe entledigt, um mit bloßen Füßen leichter die Felswand hinanzuklettern, und wenn sein Leichnam im Hochgebirge nicht gefunden werde, so sei er nach dieser Richtung hin davon und werde wohl so leicht nicht eingeholt werden können. Der Untergang im See war übrigens weitaus glaubwürdiger.

Da bis an den fünfundzwanzigsten Juli, als an dem Tage des heiligen Apostels Jakobus, keine Spur gefunden und keine Kunde von dem Knaben gekommen war, begingen sie in der Pfarrkirche zu Sandeben die Totenfeier für den verunglückten Jackerl.

Das Elternpaar war ruhig und ergeben. Der Schmerz hatte ausgetobt, jetzt war der Tag zum Gebet und frommen Gedenken. Es war ein düsterer Hochsommertag mit Regen und Donner. Die Kerzen des Altars widerstrahlten an der Vergoldung und legten ein trübes Rot an die Kirchenwände. Die Kirche war voll von Menschen, die Altenmooser hielten zusammen in Leid wie in Freude. Die Maria kniete in ihrer Bank und schloß die Augen. Frohe Bilder aus Jackerls Kindheit dämmerten in ihrer Seele auf; alle Unarten und Wildheiten des Knaben waren vergessen, heiter, schön, sanft, kindlich und zärtlich, wie man sich das Anbild eines Kindes denkt, so stand der Knabe nun vor dem schöpferischen Mutterauge, und schließlich versammelten sich alle ihre Gedanken und Empfindungen im Gottesfrieden, wo der See ist. Dort stand ihr Herz wie am Eingange der Ewigkeit, und sie klopfte an. Aber der Jackerl wollte nicht kommen, um zu öffnen. Und die Mutter weinte still in sich hinein.

Der Jakob kniete neben seinem Weibe. Sein Auge war tränenlos, sein Gesichtszug fast herb. Das Gedächtnis an sein Kind war nicht rein geworden von Bitterkeit und Vorwurf. Oft stand der körperlich so schön gewesene Knabe wie eine Mißgeburt vor ihm. Der trotzige Junge, dem der Zug aller Jakob Steinreuter, die Anhänglichkeit an Eltern und Heimatserde so ganz und gar mangelte, der das Vaterhaus mißachten und treulos verlassen konnte – war das wirklich ein Altenmooser Kind, war es kein Wechselbalg gewesen? Nichts war von jeher den Steinreuterleuten verächtlicher vorgekommen, als ein Stromer; ohne festen Grund und Halt wie seine Füße sind, ist der Charakter eines Vagabunden. Der rechte, echte, feste und treue Mensch muß irgendwo wurzeln, nicht anders wie ein Baum, ein Kornhalm. – Im Kirchenschiff flogen ein paar Schwalben umher. Selbst die losesten Geschöpfe, die beflügelten, wenn sie auch fortziehen, sie kommen alljährlich wieder zurück in ihre heimatlichen Dachfirste. Und so ein junger Nichtsnutz! Ein Steinreuterkind in Altenmoos davonlaufen! Davonlaufen! – Es hat ihm das Leben gekostet! – Wenn er sich's freiwillig genommen hätte! Wenn er in der Heimat sterben wollte, weil er, vom bösen Zauber gehetzt, in der Heimat nicht leben konnte! – Die Tat wäre eines Jakob Steinreuter würdig. Gott schütze uns! Warum hätte er das Wasser gewählt, welches die Teile seines Leibes der Heimatserde entführt und in das weite Weltmeer hinausträgt! – »Er ruhe im Frieden!« betete der Priester am Altar. Wo? fragte sich Jakob. Er hat im Leben keine Statt gehabt, er hat im Tode keine. Und das ist mein Kind gewesen! – So sann Jakob. Der Bauer zu Altenmoos konnte freilich keine Vorstellung davon haben, daß auch das Geschlecht der Steinreuter seinen Anteil hat an dem Geschicke des Ewigen Juden, daß auch dieses Geschlecht seinen friedlosen Weltpilger gebären muß, und daß solcher Sprößling um so ungebärdiger seine weiten Wege suchen muß, je enger und fester sich der Kreis dieser Familie gehalten hatte. Wenn ein Geschlecht sehr einseitig ist, so steht in ihm plötzlich ein Mitglied auf, das nach der entgegengesetzten Seite ausartet.

Heiterer als der stillblutende Schmerz der Mutter, als die zornige Liebe des Vaters, war bei dem Gedächtnisamte die kindliche Andacht der kleinen Geschwister. Sie saßen neben der Mutter und schauten in das Schiff der Kirche empor, ob mit den Schwalben denn nicht auch ihr Bruder dort umherfliege. Es war ihnen gesagt worden, daß der Jackerl ein Engelein des Himmels geworden sei. Der störrische, tollwitzige Bruder ein Engelein! Es ließ sich zwar nicht gut reimen, und ein Kinderkopf ist mitunter zu klein, als daß viel Ungereimtes darin Platz hätte. Die kleine Angerl schlichtete aber den Zwiespalt, indem sie dem kleinen Friedel zuflüsterte, es gebe halt auch wilde Engel, so wie es wilde Tauben gibt, und wenn der Jackerl im Himmel Flügel habe, so brauche er nicht durchzugehen, so könne er durch fliegen. Es war den Kindern nicht denkbar, daß der Jackerl in seiner ewigen Heimat ruhig sitzen bleiben würde.

Der Pechölnatz blickte in der Kirche fortwährend auf die zwei Kinder und freute sich sehr, daß sie nicht traurig waren; die Kinder müssen mit allem spielen können, auch mit dem Tode, und wenn sie einem Knochen Federn anbinden, so ist der Engel fertig.

Als sie nach dem Gottesdienste aus der Kirche traten, gerade unter dem Tore, gab der Jakob seinem Weibe etwas unsicher die Hand und sagte: »Es ist vorbei. Machen wir das Kreuz darüber.«

Von diesem Tage an wurde im Reuthofe über den Jackerl kein Wort mehr gesprochen. Wenn dem Vater irgendwo ein Kleidungsstück des verlorenen Knaben in die Hand kam, so schleuderte er es fast unwillig von sich, und doch krümmten sich seine Finger, daß es daran hängen bliebe. Die Maria aber barg solche Stücke in ihrem Gewandkasten und an den langen Sonntagsvormittagen, wenn alle anderen in der Kirche zu Sandeben waren, öffnete sie den Kasten, herzte und küßte die Kleider des Knaben und netzte sie mit ihren heißen Tränen.


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