Peter Rosegger
Jakob der Letzte
Peter Rosegger

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Der Mann mit den Tausendern siedelt ab

An diesem Vorabende zu Fronleichnam, da zu Altenmoos der frohe Feiertag anhub und auch im Reuthofe die knechtlichen Arbeiten schon zur Ruhe gekommen waren, hielt der Jakob noch nicht Rast. Er hämmerte an der Kapelle die letzten Dachbretter fest; nun war der Schaden wieder getilgt, den der stürzende Lindenast angerichtet hatte. Die darüber anfragende Linde prangte in voller Pracht, und man merkte im finstergrünen Buschwerk kaum mehr die Scharte, wo der Ast herabgebrochen war. So hatte der Sommer rasch und ruhmreich gesiegt über jenen tückischen Eindringling zu Pfingsten, wie solcher zur Frühsommerszeit wohl manchmal anzurücken pflegt in der hochgelegenen Gegend von Altenmoos.

Zu wahrer Erhebung gereichte es dem Jakob, daß dem Bildnisse in der Kapelle nichts geschehen war. Der roh geschnitzte, mit Farben bemalte heilige Jakobus war damals unversehrt auf seinem Altar stehengeblieben, während der gebrochene Ast unter Schnee und Splittern zu seinen Füßen lag. Dieser Heilige war der Schutzpatron des Hauses. Jakobs Vater hatte Jakob geheißen, und dessen Vater hatte auch Jakob geheißen, und so der Großvater und der Urgroßvater, und jeder Hausvater auf dem Reuthofe hatte Jakob geheißen, weil vor Jahrhunderten der Mann, welcher die Ansiedlung gegründet, den Grund urbar gemacht und die Steine ausgereutet, Jakob geheißen hatte. Jakob, der Steinreuter. Von dem frommen Sinn und der kunstreichen Hand dieses ersten Jakob stammte, den Überlieferungen der Familie gemäß, das Bildnis, und so war die Statue und der Name ein besonderes Band, das sich von Geschlecht zu Geschlecht herabflocht und jeden Jakob Steinreuter enge mit seinen Vorfahren und seiner Scholle verknüpfte.

An die innere Wand der Kapelle war in aufrechtstehender Richtung eine Reihe von etwa sechs Schuh langen Brettern genagelt. In jedes dieser Bretter waren gegen den oberen Rand hin die Buchstaben J. S. eingeschnitten, und darunter eine Jahreszahl. Das waren die Leichbretter; auf jedem derselben war ein Jakob Steinreuter ausgestreckt gelegen drin im Hause, bevor sie ihn auf den Kirchhof trugen. Dann sind zum Gedächtnisse diese schmalen Läden hier aufgestellt worden in der Kapelle des heiligen Jakobus.

An diesem Tage sollte der Heilige, gleichsam zur Urständfeier, besonders geschmückt werden. Die kleine Angerl mit den langen schwarzen Haarsträhnen, die eben aus der Schule heimgekehrt war, kam und brachte ein mit Wasser gefülltes Glas, in dem zwei Pfingstrosen staken. Und es kam der kleine Friedel mit den kugelrunden Vergißmeinnichtaugen, der brachte das andere mit Wasser gefüllte Glas, in welchem zwei weitere Pfingstrosen staken.

»Brav seid ihr!« sagte der Jakob zu seinen Kindern. Dann nahm er ihnen die Gläser aus den kleinen Händen und stellte sie zu beiden Seiten der Statue auf. Er mochte dabei vielleicht weniger an den heiligen Apostel, den das geschnitzte Bild vorstellen sollte, denken, als vielmehr an seine Voreltern, die das Bild gestiftet und bewahrt hatten und die er in ihm verehrte.

Vom Schachen herüber, barfuß, in zerfasertem Höslein, mit struppigem Haar und glühenden Wangen, kam der Jackerl, er zerrte zwei gefällte Lärchenbäumchen herbei und schrie lustig vor sich das Sprüchel hin:

»Droben auf dem Kögerle
Sitzen drei Vögerle,
Oans g'hört mein, oans g'hört dein,
Oans g'hört dem Regerle.«

Als er mit seinen Bäumchen an Ort und Stelle war, erfaßte er schnell das Beil, hieb es in die Holzwand der Kapelle, daß es darin stecken blieb. Der Vater verwies ihm dies, und alsogleich riß der Knabe das Beil wieder an sich, schleuderte es über den Angerzaun, daß es Funken gab in den Steinen und lief mit dem Geschrei: »Droben auf dem Kögerle sitzen drei Vögerle!« davon.

Als endlich an und in der Kapelle alles in Ordnung war, nahm der Jakob den kleinen sanften Friedel an der Hand und sagte. »Wenn du Jakob hießest und der andere Friedel – wär' mir lieber. Der andere Friedel? es ist zum Lachen. Unfriedel, wenn er geheißen wär'. – Komm, Bübel.«

Er ging mit dem Knaben den ebenen Fahrweg hin gegen das Nachbarhaus des Knatschel, das dort drüben am Rande des Waldes stand. Dasselbige Haus war in Aufregung. Der Knatschel tat seit acht Tagen nichts mehr, als übersiedeln. Sein Weib, sein Gesinde, seine Ochsen halfen ihm dabei, teils mit Freuden, teils mit Schmerzen, teils mit Stumpfheit; den Ochsen freilich ist es gleichgültig, woher und wohin sie müssen, überall an den Pflug und an die Fleischbank, sie sind überall Ochsen. Das ganze Haus räumte der Knatschel aus, die rußigsten Kästen und Kübel und Pfannen und Bettstätten schleppte er auf großen Karren davon.

Der kleine Friedel blickte jetzt nicht hin, sondern auf die gegenüberstehende Berglehne, an welcher Bauernhäuser in einiger Entfernung voneinander standen.

»Vater«, fragte der wißbegierige Knabe, »wie heißt es dort?«

»Dort heißt es bei den Grubbauern«, antwortete der Vater.

»Und auf der anderen Seite, ganz oben auf dem Berg, ganz oben, wo das Weiße ist, wie heißt es dort?«

»Dort heißt es bei dem Guldeisner«, sagte der Vater und sagte es in einem schier feierlich getragenen Tone. Der Guldeisner war der größte Bauer zu Altenmoos, sein Grund war so weit, daß man – wie der Luschelpeter sich ausdrückte – mit einem guten Schustermesser daraus fünf Bauerngüter schneiden könnte. Der Guldeisnerhof mit seinen vielen Wirtschaftsgebäuden lag oben auf der Hochfläche da wie ein kleines Dorf. Das Wohnhaus war zur Hälfte gemauert und schaute mit der weißgetünchten Wand schier hochmütig herab auf die in der Gegend weitum zerstreuten Nachbarn.

»Vater«, fragte der Friedel, wie viele Häuser sind auf der Welt?«

»O Kind!« antwortete der Vater, »die Welt ist weit, nur Gott kann sie durchwandern und die Häuser und die Menschen zählen. Ich weiß nur von Altenmoos.«

»Und wie viele Häuser sind in Altenmoos?«

»In Altenmoos sind – wenn du der Lunselstina ihre Höhle und andere Hütten nicht dazuzählst – genau einundzwanzig Häuser.«

»Wieviel ist das?« wollte der Kleine wissen.

»Wenn du«, belehrte der Vater, »deine Finger zusammenzählst an beiden Händen und deine Zehen an beiden Füßen und dazu die Nase im Gesicht, so hast du einundzwanzig.«

»So viele Häuser?!« rief der Knabe verwundert. »Und welches ist die Nase?«

»Pst!« machte der Vater plötzlich, blieb stehen, legte die Hand dem Söhnlein auf die Achsel, beugte sich vor und flüsterte: »Siehst du? Guck' einmal dort zwischen die Eschen durch an den Waldrand hin – siehst du?«

»Eine rote Geiß!«

»Das ist ein Reh!« sagte der Vater.

Das Tier hatte ein wenig grasen wollen auf der Wiese, aber es witterte Menschen. Hoch hob es das Haupt, lauerte ein Weilchen und sprang dann mit großen Sätzen in den Wald zurück. Der kleine Friedel hatte sich schier seine großen Augen herausgeschaut; es war das erste Reh, das er gesehen. Selbst für Jakobs Augen waren solche Tiere eine Seltenheit. Der Guldeisner, dem die Jagd gehörte, war ein grimmiger Schütze und ließ nicht viele laufen. Drüben in den Herrschaftswaldungen soll es schon mehr Wild geben, auch schöne Hirschen darunter. Der Jakob hat sein Lebtag erst einmal einen Hirschen gesehen, und der lag draußen in Sandeben auf einem Leiterkarren, reckte noch im Tode die Herrlichkeit seiner Geweihe empor und hatte den aufgeschlitzten Bauch voll grünen Reisigs.

Den Hohlweg heraus kam etwas Holperndes, die Siedelfuhr des Knatschel. Es war die letzte. Er saß selber drauf und leitete das Ochsenpaar; hinter ihm auf einem Kornsack saß sein Weib und seine taubstumme Schwester. Die taubstumme Schwester schaute mit Befremdung um sich, sie wußte nicht, was das bedeuten soll; jetzt wegfahren, vom Hause weg, da es doch schon bald Nacht wird! – Und die Schwägerin neben ihr, die hat das Vortuch im Gesicht und weint, und der Bruder voran, der hat eine lange Wurzen im Mund und schmunzelt. Was das bedeuten mag!

Als der Wagen herankam, redete der Jakob den Knatschel zum Gruße an: »Du hast es eilig, Nachbar. Ich denke, du kommst für heute schon zu spät und für sonst immer noch früh genug nach Sandeben.«

»Heut' lieber wie morgen«, antwortete der Knatschel. »Bedien' dich, Steinreuter!«

Er hielt dem Jakob vom Karren herab eine neue, fein juchtene Zigarrentasche hin. Und den Spruch dazu: »Bedien' dich!«

Wie vornehm er sich gehaben kann! Und auch beim Schreibnamen ansprechen, wie der Amtmann! – Der Jakob ging mit seinem Knaben neben der knarrenden Fuhr des Auswanderers einher.

»Gelt, mir merkst den Altenmooser nimmer an!« sagte der Knatschel. »Na, nimm eine. Sind amerikanische.«

»Vergelt's Gott!« lehnte der Jakob ab. »Mir tät' übel werden davon. Aber schau, Nachbar, ich kann allerweil noch nicht glauben, daß es Ernst ist bei dir!«

»Reuthofer!« rief der Knatschel, »du kommst mir bald nach. Denk' daran, da bei der Torschranke hab' ich dir's gesagt: Du kommst bald selber nach hinaus!«

»In der Totentruhen«, sagte der Jakob, »sein kann's wohl, der Mensch weiß nicht Tag und Stund'.«

»Nicht in der Totentruhen!« rief der Knatschel. »Leicht wohl eher auf des Kampelherrn Kaleschwagen!'

»Ich wünsche dir ein langes Leben«, entgegnete der Jakob, »aber das wirst du nicht erleben.«

»Hast du schon gehört, daß der obere Nock auch fliegt?« fragte der Knatschel. »Den vertreiben die Schulden und muß er noch froh sein, daß ihm der Kampelherr Haus und Grund abgelöst hat. Besser verkaufen, als verganten. Allemal besser.«

»Für den Nock hätte sein Schwager, der Guldeisner, was tun sollen«, meinte der Jakob.

»Der Guldeisner?« lachte der Knatschel. »Pass' auf, der verkauft selber!«

»Was sagst du?« fragte der Jakob und hielt sein Haupt gegen den Fuhrmann hin.

»Verkauft selber! Der Kampelherr steht schon im Handel mit ihm. Der Jagd wegen, heißt's. Ihr kommt mir alle nach, Altenmooserleut'. Alle!«

Der Jakob schüttelte den Kopf.

»Besuch' mich einmal«, lud ihn der Auswanderer ein, »in der Sandeben, gleich hinter der Kirchen. Kennst es ja, das Haus, was der Kreuzbäck gehabt hat. Wirst alleweil einen guten Tropfen finden bei mir.«

»Ein Wirtshaus?«

»So was. Etwas ein Geschäftel muß der Mensch doch haben, sonst wird ihm Zeit und Weil' lang.«

»Knatschel!« sagte jetzt der Jakob, »gib Achting, daß du dich nicht verraitest! Auf der Sandeben ist der Tausender nicht soviel wert, wie in Altenmoos. Dort kostet der Brotlaib einen halben Gulden, dahier kannst, wenn du selber keinen backest, einen um zwei Sechser haben und einen größeren.«

»Bauernbrot gefressen hab' ich mir genug, mein Lebtag«, lachte der Knatschel, »jetzt will ich einmal Guglhupf (Kuchen) haben.« Und er versetzte den Ochsen eins mit der Peitsche.

»Thomas«, sagte jetzt sein Weib und stupfte den Knatschel am Rücken, »tu' mir den Gefallen und halt' ein bissel still. Wir sind bei unserer Rainsäulen. Schau, wenn sie eine Leich' haben hinausgetragen vom Knatschelgut, dahier haben sie die Truhen abgesetzt zum Urlaubnehmen. Und da will ich auch absteigen und dem Heimboden behüt' Gott sagen.«

»Dummheiten!« schrie der Knatschel und hieb noch schärfer auf das Ochsenpaar drein. Ein Ruck, und da waren sie auf fremdem Boden.

»Fahret gut!« rief der Jakob und hielt seine Hand über den Karren hin, »ich wünsch' euch Glück!«

Ohne anzuhalten schüttelte der Knatschel die gebotene Rechte kurz. Das Weib hatte sie auch gefaßt und wollte sie nicht loslassen, so daß der Reuthofer noch eine Strecke nebenherlaufen mußte.

Als er endlich ledig war, stillstand und dem Gefährte nachblickte, sah er, wie das Weib des Thomas, das Gesicht in die vorgehaltene Schürze pressend, heftig schluchzte. Der Knatschel knallte mit der Peitsche, daß es widerhallte in den Wäldern.

»Ist das der Mann mit den Tausendern gewesen?« fragte der Knabe, als das Gefährt hinter der Talbiegung verschwunden war.

Der Jakob wendete sich und ging mit dem Knaben zwischen den grünenden Haferfeldern hin. Er war verstimmt. Nun hob er eine Erdscholle auf und betrachtete sie sinnend.

»Was ist denn das?« fragte der Friedel.

»Das ist unser Tausender, mein Kind«, sagte der Vater. »Der kann nicht zerreißen und nicht verbrennen. Zu Mehl kann ich ihn zerreiben, in die Luft kann ich ihn streuen und ist doch nicht umzubringen. Und wenn ihn der Mensch pflegt und Gott gibt Sonnenschein und Regen vom Himmel, so ist er ein wohlversichertes Gut und bringt alle Jahr' seine Zinsen, es mag im Land Krieg oder Frieden sein.«

»So einen Tausender«, sagte jetzt der Kleine, »hat der Jackerl gestern der Kuh nachgeworfen, daß er auseinandergespritzt ist.«

Der Vater entgegnete: »Dem Erdklumpen hat das nicht geschadet, der tut sich schon wieder zusammen, aber der Kuh kann es geschadet haben. Und dem Jackerl wird es geschadet haben. Ja! Dein Bruder wird mir neuding ein so arger Wildfang, daß ich ihn morgen auf den ganzen Tag in den Moosbarren sperren muß.«

Nun war es, daß der Wildfang an jenem Abende gar nicht ins Haus kam. Zuerst wurde nach ihm gepfiffen, er kam nicht. Dann ging die Angerl hinaus auf den Hügel und schrie: »Jackerl!« so laut sie konnte, auch der Wald half ihr schreien. Der Knabe kam nicht. Als es schon finster war, ging der Reuthofer mit einem Haselstock bei den Nachbarn um und fragte, ob sein Bub nicht gesehen worden sei. Die Dreisambäuerin schlug ihre Hände zusammen und jammerte, das arme Kind sei sicherlich ins Wasser gefallen! Ganz Altenmoos wollte sie aufstöbern, um den Knaben zu suchen. Dem Reuthofer machte der Jammer des Weibes nicht viel Herzleid, er kannte seinen Jungen.

Als der Jakob Steinreuter auch zum Stindel im Stein kam – in den Hof, der hoch am Berge unter einem massigen Felsblock stand, welcher kurzweg der Stein genannt wurde – erfuhr er zwar auch dort nichts von seinem abhandengekommenen Jackerl, hingegen eine Neuigkeit, die eigentlich keine mehr war. Der Guldeisner sei mit dem Kampelherrn in Unterhandlung und wolle sein Gehöfte denn wahrhaftig verkaufen.

In der darauffolgenden Nacht konnte der Jakob nicht schlafen. Wenn der Guldeisner verkauft, dann verliert die Gemeinde Altenmoos ihren Grundstock. Wenn die Guldeisnerleute mit Mann und Magd, mit Kind und Knecht auswandern, dann wird es langweilig werden hierum. Wenn die Guldeisnergründe zu Wald anwachsen – und die hohen Herren lassen alles Wildnis werden – dann – –

Es wird ja nicht wahr sein, tröstete sich der Jakob, es kann ja nicht wahr sein. Das Haus vertun und davonzigeunern! Nein, es ist nicht, es ist nicht. – Wenn ich nur ein Stündel schlafen könnte, bevor es tagt!


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