Platon
Plato's Staat
Platon

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8. All dieses demnach bedenke und erinnere dich wieder an jenes Frühere B. V, Cap. 20.: das Schöne an und für sich, nicht aber die vielen schönen Dinge, und überhaupt bei jedem Einzelnen das an und für sich Seiende, nicht aber die vielen einzelnen seienden Dinge, zu ertragen und daran zu glauben, ist dieß wohl Sache der Menge? – Gewiß am allerwenigsten, sagte er. – Also weisheitsliebend, sprach ich, kann die Menge unmöglich sein? – Ja, unmöglich. – Also müssen auch diejenigen, welche ihre Weisheitsliebe bethätigen, nothwendig von jenen Vielen getadelt werden. – Ja, nothwendig. – Und demnach auch werden sie von jenen einzeln zerstreut lebenden Mengen getadelt werden, welche im Umgange mit dem großen Haufen nur diesem zu gefallen wünschen. – Ja, dieß ist klar. – Welche Rettung demnach aus solchen Verhältnissen erblickst du für eine weisheitsliebende Begabung, so daß dieselbe in ihrer Thätigkeit verbleibe und an's Ziel gelange? Bedenke aber auch das Frühere; wir haben nemlich ja zugestanden Oben Cap. 5., daß Gelehrigkeit und Gedächtnißgabe und Tapferkeit und Großartigkeit bei dieser Begabung sich finden. – Ja. – Nicht wahr also, in Allem wird der derartige Mensch unter allen der erste sein, zumal wenn er auch einen der Seele entsprechenden Körper hat? – Warum sollte er auch nicht? sagte er. – Es werden also, glaube ich, wenn er älter geworden ist, seine Angehörigen und Mitbürger von ihm zu ihren Geschäften Gebrauch machen wollen. – Warum auch nicht? – Zu seinen Füßen also werden sie mit Bitten und Ehrenbezeigungen liegen, indem sie schon im Voraus seine künftige Bedeutsamkeit festbannen und ihr schmeicheln. – Es pflegt wenigstens, sagte er, gewöhnlich so zu geschehen. – Was glaubst du also, sprach ich, daß ein Derartiger unter Derartigen thun werde, zumal wenn er einem großen Staate angehört und in diesem ein reicher Mann und von angesehenem Geschlechte ist, und außerdem auch von schöner Gestalt und groß? glaubst du nicht, er werde von übermäßiger Hoffnung erfüllt werden, in der Meinung, er sei tüchtig genug, in alle Verhältnisse der Hellenen und der Nicht-Hellenen einzugreifen? und er werde darüber hoch sich selbst erheben, erfüllt von Großthuerei und eitlem Selbstvertrauen ohne Verstand? – Ja wohl, gar sehr, sagte er. – Und wenn denn nun zu einem Manne, welcher in diesem Zustande sich befände, ruhig Jemand hinträte und die Wahrheit spräche, daß Verstand ihm nicht einwohne, sondern er desselben erst noch bedürfe, ihn aber nicht erwerben könne, wenn er nicht völlig diesem Streben allein diene, glaubst du da, es werde wohl leicht geschehen, daß jener in Mitten so vieler Uebel ihn anhöre? – Ja, allerdings weit gefehlt, sagte er. – Falls aber, sprach ich, in Folge guter Begabung und eigener innerer Verwandtschaft doch Einer jene Gründe fühlt und sich lenken läßt und zur Weisheitsliebe hingezogen wird, was glauben wir, daß dann jene thun werden, welche meinen, es sei dieß für seine Brauchbarkeit und für den freundschaftlichen Verkehr mit ihm gefährlich? werden sie nicht in Wort und That alles Mögliche sprechen und thun, sowohl bezüglich seiner selbst, damit er sich nicht überreden lasse, als auch bezüglich des ihn überredenden, damit dieser hiezu nicht im Stande sei, indem sie nemlich sowohl im Privatleben Hinterlist üben als auch von Staatswegen Verfolgungen veranlassen? – Ja, durchaus nothwendig ist dieß, sagte er. – Wird also der Derartige seine Weisheitsliebe irgendwie bethätigen? – Allerdings nicht. –

9. Siehst du also, sprach ich, daß wir nicht unrichtig sagten Oben Cap. 6., daß selbst ja auch die eigenen Theile der weisheitsliebenden Begabung, wann sie eine schlechte Pflege finden, gewissermaßen Ursache eines Abfalles von der Bethätigung derselben sind, und ebenso auch die sogenannten Güter, nemlich Reichtum und all die derartige äußere Einrichtung? – Allerdings nicht unrichtig wurde dieß von uns gesagt, sondern richtig. – Dieß demnach, du Wunderlicher, sagte ich, ist die Gefahr des Unterganges und derartig und so bedeutend ist das Verderbniß der besten Begabung bezüglich der trefflichsten Thätigkeit, einer Begabung, welche ohnedieß nur, wie wir sagen, in geringer Anzahl vorkömmt; und aus diesen Männern demnach entstehen sowohl jene, welche die größten Uebel sowohl den Staaten, als auch den Einzelnen zufügen, als auch diejenigen, welche das größte Gute, woferne nemlich ihre Strömung diese Richtung hat; eine unbedeutende Begabung aber leistet niemals irgend Großes weder für einen Einzelnen, noch für einen Staat. – Völlig wahr ist dieß, sagte er. – Indem denn nun diese auf solche Weise von jenem abfallen, was ihnen am meisten gebührt, lassen sie die Weisheitsliebe verödet und ohne Erreichung ihres Zweckes zurück, und sie selbst führen ein Leben, welches ihnen nicht gebührt und keine Wahrheit in sich hat; in die Weisheitsliebe aber, welche gleichsam von allen ihren Verwandten verwaist ist, traten sofort dann Andere, ihrer Unwürdige, ein und schändeten sie und fügten ihr jene Schmach zu, welche, wie du behauptest, auch jene aussprechen, die sie darüber schmähen, daß ihre Anhänger theils ohne Werth, theils aber ihrer größeren Zahl nach an vielem Schlechten Schuld seien. – Es ist ja auch, sagte er, wenigstens was angeführt wird, wirklich dieß. – Ja, und aus guten Gründen, erwiederte ich, wird dieß angeführt; denn es erblicken hinwiederum irgend andere Menschlein, daß jener Platz leer geworden, dabei aber voll herrlicher Worte und Vorwände sei, und wie diejenigen, welche aus dem Kerker entlaufend in Tempel sich flüchten, so hüpfen auch diese gar bereitwillig aus ihren Kunstfertigkeiten in die Weisheitsliebe hinüber, nemlich gerade jene, welche in ihrem eigenen Künstlein immer die feinsten sindDaß Plato mit den sämmtlichen derartigen Bemerkungen jene Rede-Künstler meint, von welchen auch im »Phädrus« (Cap. 50 f.) die Rede ist, versteht sich von selbst.; denn dennoch bleibt ja im Vergleiche mit den übrigen Künsten die Geltung der Weisheitsliebe, wenn gleich es mit ihr so schlimm steht, immerhin eine großartigere, und hiernach eben streben viele, sind aber dabei in ihrer Begabung ohne allen Keim, durch den Betrieb aber ihrer Künste und Handwerksthätigkeit ebensosehr, wie sie körperlich verkümmert sind, auch in ihren Seelen gebrochen und aufgerieben in Folge ihrer niedrigen Beschäftigung; oder muß dieß nicht nothwendig so sein? – Ja wohl, gar sehr, sagte er. – Glaubst du also, sprach ich, daß sie sich ihrem Anblicke nach von einem kahlen und unansehnlichen Schmidgesellen unterscheiden, welcher irgend zu Geld gekommen ist und erst kürzlich aus dem Gefängnisse sich auslöste, in einem Bade dann sich wusch und ein neues Kleid anzog, angethan wie ein Bräutigam, indem er im Begriffe ist, die Tochter seines Herrn wegen ihrer Armuth und Verlassenheit zu heirathen? – Nicht sehr, sagte er, unterscheidet er sich von einem Solchen. – Welche Sprößlinge also ist zu erwarten, daß die Derartigen erzeugen werden? nicht sicher unechte und schlechte? – Ja, durchaus nothwendiger Weise. – Wie aber ist es mit jenen, welche der Bildung unwürdig sind, sobald sie derselben sich nähern und unverdienter Weise mit ihr Umgang pflegen? welcherlei Gedanken und Meinungen sollen wir von diesen sagen, daß sie erzeugen? nicht in Wahrheit solche, welche gebührender Weise als sophistische Reden sich hören lassen, aber durchaus nichts Aechtes und Nichts, was in würdiger Weise an wahrhaftes Nachdenken sich anreihen könnte? – Ja, völlig so, sagte er. –

10. Also ein ganz kleiner Theil, o Adeimantos, sprach ich, bleibt von denjenigen übrig, welche in verdienter Weise mit der Weisheitsliebe Umgang pflegen, sei es, daß irgend durch Verbannung ein edler und wohlerzogener Charakter betroffen wird, indem er dann aus Mangel an Verderbern gemäß seiner Natur bei der Weisheitsliebe verharrt, oder sei es, wenn in einem kleinen Staate ein großer Geist geboren wird und derselbe die staatlichen Verhältnisse verachtet und über sie hinwegsieht; irgend ein kleiner Theil aber möchte es wohl auch sein, welcher von anderen Künsten hinweg in gerechter Verachtung derselben mit guter Begabung zur Weisheitsliebe sich wenden würde; es möchte aber vielleicht auch jener Zügel, welchen unser Freund TheagesEin treuer Anhänger des Sokrates; nach seinem Namen erhielt ein Dialog die Ueberschrift, welcher den platonischen eingereiht wurde, aber als unächt zu bezeichnen ist. an sich trägt, im Stande sein, Jemanden festzubannen; denn auch bei Theages ist alles Uebrige in einem solchen Zustande, daß er von der Weisheitsliebe abfallen würde, aber die Pflege seines kränklichen Körpers hält ihn von staatlichen Dingen ferne und bannt ihn fest; von unserem eigenen Zustande aber zu sprechen, ist nicht der Mühe werth, nemlich von jener dämonischen WarnungsstimmeUeber das Dämonion des Sokrates s. m. Uebers. d. gr. Ph. S. 51 f.; denn eine solche ist unter den Früheren entweder nur einigen Wenigen oder vielmehr gar keinem Anderen zu Theil geworden. Und wer denn nun unter diesen Wenigen wirklich kostet oder schon gekostet hat, wie süß und beseligend jener Besitz sei, und hinwiederum den Wahnsinn der Menge genügend durchschaut, sowie auch daß kein Einziger, so zu sagen, irgend etwas Gesundes bezüglich der staatlichen Verhältnisse verübt, und es auch nicht einmal einen Bundesgenossen gibt, mit welchem man zur Hülfeleistung für das Gerechte sich auf den Weg machen und dabei gerettet werden könnte, sondern daß er selbst wie ein Mensch unter Thiere gerathen sei und dort, weil er weder gemeinschaftlich mit ihnen Unrechtes thun wolle, noch auch er der Einzige allen Wilden das Gegengewicht zu halten vermöge, sicher noch eher, als er dem Staate oder den Freunden irgend genügt habe, selbst zu Grunde gehen werde, als ein Nutzloser für sich selbst und für die Uebrigen, – also all dieses wenn er in vernünftiger Erwägung erfaßt, so wird er Ruhe halten und das Seinige thun, gleichsam wie in dem Sturme eines vom Winde aufgeregten Staubwirbels und Unwetters an eine Mauer hintretend, und indem er sieht, wie die Uebrigen von Ungesetzlichkeit erfüllt sind, wird er sich dabei begnügen, wenn er selbst rein von Ungerechtigkeit und unerlaubten Thaten sowohl sein hiesiges Leben führt, als auch bei dem Abscheiden aus ihm mit herrlicher Hoffnung heiter und wohlgemuth abscheidet. – Wahrhaftig aber, sagte er, nicht Geringes ja hätte er auch vollbracht um dann abzuscheiden. – Aber ja auch nicht das Größte, erwiederte ich, woferne er nicht einen ihm gebührenden Staat gefunden hat; denn in einem Staate, welcher ihm wirklich gebührt, wird er sowohl selbst besser gedeihen, als auch mit seinen Einzel-Verhältnissen zugleich das Gemeinsame retten.

11. Was also nun die Weisheitsliebe betrifft, so scheint mir hiemit genügend angegeben zu sein, warum sie ein Gegenstand der Verleumdung wurde, sowie auch, daß dieß mit Unrecht geschah, woferne nemlich nicht du noch irgend Weiteres vorbringst. – Aber ich bringe auch, sagte er, in der That hierüber Nichts mehr vor; hingegen welche unter den jetzigen Staatsverfassungen meinst du denn unter jener gebührenden? – Nicht eine einzige, erwiederte ich, sondern eben hierin erblicke ich die Schuld, weil keine unter den jetzigen Einrichtungen eines Staates der weisheitsliebenden Begabung würdig ist; daß nemlich darum auch diese verdreht und verändert werde, sowie ein fremder Same in ein anderes Land gesät dahinschwindet und durch Ueberwältigung in die dort heimische Art überzugehen pflegt, und daß ebenso auch jene Gattung die ihr eigenthümliche Geltung nicht behaupten kann, sondern in eine fremde Art umschlägt; sobald sie hingegen auf den besten Staat trifft, so wird sie dann, sowie sie auch selbst die beste ist, sogleich zeigen, daß Solches wirklich etwas Göttliches, alles Uebrige aber nur menschlich ist, sowohl was die Begabungen, als auch was die Thätigkeiten betrifft. Klar also ist, daß du nun hernach fragen wirst, welcher denn dieser Staat sei. – Da irrst du, sagte er; denn nicht um dieß zu fragen, war ich im Begriffe, sondern ob jener Staat, welchen wir bisher in unserer Gründung durchgingen, es sei, oder ob ein anderer. – In allem Uebrigen, sagte ich, ist es schon dieser; aber eben jenes wurde auch damals schon angegeben B. III, Cap. 19 f., daß irgend Etwas in jenem Staate stets sich befinden müsse, was eben jenen nemlichen Begriff des Staates besitze, welchen auch du als Gesetzgeber besaßest, indem du deine Gesetze aufstelltest. – Ja, dieß wurde angegeben, sagte er. – Aber nicht genügend, sprach ich, wurde es damals klar gemacht, aus Furcht vor jenen eueren Angriffen, durch welche ihr kundgabt, daß der Nachweis hievon ein langer und schwieriger sei, da ja auch das noch Uebrige nicht gerade am leichtesten durchgegangen werden kann. – Was meinst du hiemit? – Auf welche Weise ein Staat die Weisheitsliebe in seine Hand nehmen müsse, um sie nicht zu verderben; denn alles Große ja ist dem Sturze ausgesetzt, und es ist wirklich, wie es im Sprüchworte heißt, »das Schöne schwierig«Nicht bloß in mehreren Aussprüchen der sog. sieben Weisen erscheint der Inhalt dieses Sprüchwortes, sondern auch in einem Gedichte des Simonides.. – Demnach aber, sagte er, möge unser Nachweis seinen Abschluß finden, wenn dieß deutlich geworden ist. – Nicht daß ich nicht wollte, erwiederte ich, sondern allenfalls daß ich nicht kann, ist das einzige Hinderniß; du sollst aber hier sogleich meine Bereitwilligkeit erfahren; erwäge aber auch jetzt, wie bereitwillig und aller Gefahr mich aussetzend ich es aussprechen will, daß gerade im Gegensatze gegen die jetzige Weise ein Staat diese Thätigkeit aufgreifen müsse. – Wie so? – Jetzt nemlich, sagte ich, pflegen jene Jünglinge, welche diese Thätigkeit überhaupt ergreifen, sogleich noch als Knaben mitten unter häuslichen und Geld-Geschäften sich dem schwierigsten Theile derselben zu nähern und hierauf sogleich die Sache wieder aufzugeben (ich meine aber unter dem Schwierigsten dasjenige, was das Aussprechen der Begründungen betrifft); in der späteren Zeit aber, wenn sie etwa auch auf die Anforderung Anderer, welche solches betreiben, die bloßen Zuhörer derselben werden wollen, so halten sie dieß schon für etwas Großes, weil sie der Meinung sind, man dürfe nur nebenbei es betreiben; näher gegen das Greisenalter aber pflegen sie, mit Ausnahme einiger Weniger, zu verlöschen, und zwar noch mehr als die Heraklitische SonneS. m. Uebers. d. gr. Phil. S. 29., insoweit sie nemlich nicht wieder entbrennen. – Wie aber muß man es anders angreifen? sagte er. – Ganz im Gegentheile hievon sollen sie, so lange sie noch Jünglinge und Knaben sind, auch eine bloß für Jünglinge passende Bildung und Weisheitsliebe zur Hand nehmen, und für ihren Körper, während er sich entwickelt und heranreift, sehr gut sorgen, indem sie hiedurch einen Beistand für ihre Weisheitsliebe sich erwerben; im weiteren Fortschreiten aber jenes Alters, in welchem die Seele sich zu vollenden beginnt, sollen sie die Uebungen eben jener stärker anspannen; wann aber die Körperstärke bereits nachläßt und sie der staatlichen Thätigkeit und der Feldzüge überhoben sind, dann sollen sie ihr freie Nahrung lassen und nichts Anderes, außer höchstens nebenbei, betreiben, woferne sie glücklich leben und nach ihrem Tode das vollbrachte Leben mit dem geziemenden jenseitigen Loose krönen wollen. –

12. Wie wahr scheint es mir doch zu sein, sagte er, daß du allerdings bereitwillig sprichst, o Sokrates; ich glaube jedoch, daß die Meisten von den dieß Hörenden noch bereitwilliger dir entgegenarbeiten und in keinerlei Weise überzeugt sein werden, vom Thrasymachos vor Allem angefangen. – Entzweie doch nicht, sagte ich, mich und den Thrasymachos, die wir so eben erst Freunde geworden sind und ja auch vorher keine Feinde gewesen waren; denn wir werden mit dem Versuchen nicht nachlassen, bis wir entweder ihn und alle Uebrigen überzeugt, oder wenigstens irgend Etwas für jenes Leben gefördert haben, wann sie zum zweitenmale geborenS. unten B. X, Cap. 15 f. u. vgl. Phädon Cap. 17 u. 62. auf derartige Bedingungen stoßen werden. – Eine Kleinigkeit ja, sagte er, ist diese Spanne Zeit, von der du da sprichst. – Allerdings, erwiederte ich, ist sie so viel wie Nichts im Vergleiche mit der gesammten Zeit. Jedoch daß die Meisten durch das Gesagte nicht überzeugt werden, ist nicht zu wundern; denn sie sahen noch niemals, daß, was wir jetzt da sagen, wirklich eingetreten sei, sondern wohl weit eher, daß irgend derartige Worte absichtlich in ihrer Ähnlichkeit neben einander hingestellt wurden und nicht so ganz von selbst, wie jetzt bei uns, in Eins zusammentrafenD. h. man stellt gewöhnlich Vortrefflichkeit (oder Weisheit) und politische Thätigkeit (oder Herrschaft) nebeneinander, um sie zu vergleichen und dabei auch ihren Unterschied zu erkennen; daß hingegen ganz von selbst dieß Beiderseitige in Eins zusammenfalle und hiemit der Ausspruch, die Philosophen seien an sich die Herrschenden, sich irgend verwirklicht finde, hat man noch nie erlebt.; hingegen daß ein Mann, welcher bis zur Gränze des Möglichen in Wort und That vollkommen der Vortrefflichkeit gleichkömmt und ihr ähnlich ist, auch der Herrscher in einem Staate von eben der nemlichen Beschaffenheit sei, haben sie noch niemals gesehen, weder bei Einem, noch bei mehreren Männern. – Gewiß in keiner Weise. – Aber ja auch Begründungen solcher Art, o du Hochzupreisender, nemlich so herrliche und so freie, haben sie nicht in genügender Weise mitangehört, welche nemlich den Gehalt haben, die Wahrheit in angespannter Aufmerksamkeit auf jede mögliche Weise um der Einsicht willen zu suchen, mit all jenem aber Nichts zu schaffen haben wollen, was fein gedrechselt und streitsüchtig ist und auf Nichts anderes, als auf die Meinung und auf den Streit sowohl in Gerichtshändeln, als auch im Verkehre der Einzelnen abzielt. – Allerdings auch diese haben sie nicht gehört, sagte er. – Um dessen willen, sprach ich, und in Voraussicht hievon haben wir auch damals B. V, Cap. 18. zwar mit Furcht, aber dennoch, durch die Wahrheit selbst genöthigt, es gesagt, daß weder ein Staat, noch eine Staatsverfassung, noch auch in gleicher Weise ein einzelner Mann jemals zur Vollkommenheit gelangen könne, bevor diesen Weisheitsliebenden, welche jetzt als die Wenigen und nicht Schlechten, jedenfalls aber Unbrauchbaren bezeichnet werden, irgend durch einen Zufall eine Nothwendigkeit erwächst, mögen sie wollen oder nicht, für einen Staat zu sorgen und dem Staate ihr Gehör zu leihen, oder bevor in die Söhne der jetzigen Machthaber und Könige oder in diese selbst durch irgend einen göttlichen Hauch ein Streben nach wahrhafter Weisheitsliebe kömmt. Bei welchem von diesen beiden aber, oder ob bei beiden das wirkliche Eintreten völlig unmöglich sei, dafür behaupte ich keinen Grund zu finden; denn dann wohl würden wir mit Recht verlacht, daß wir zwecklos Dinge sprächen, welche frommen Wünschen ähnlich wären. Oder ist es nicht so? – Ja, es ist so. – Wenn demnach für die in der Weisheitsliebe Hervorragenden irgend eine Nothwendigkeit, daß sie für einen Staat sorgen, entweder irgend einmal in der unbegränzt langen vergangenen Zeit bestand, oder auch gegenwärtig in irgend einer nicht-hellenischen Gegend besteht, welche wohl weit außerhalb unseres Gesichtskreises liegt, oder etwa auch dereinst einmal bestehen wird, so sind wir bereit, hiefür in unserer Begründung zu kämpfen, daß dann dieser unser Staat bestand oder besteht oder bestehen wird, wann nemlich diese unsere Muse die Oberhand über einen Staat gewonnen haben wird; denn unmöglich ist es nicht, daß er entstehe, und auch wir sagen nicht Unmögliches, als etwas Schwieriges aber wird es auch von uns zugestanden. – Auch mir, sagte er, scheint es so zu sein. – Daß es aber der Menge, erwiederte ich, hinwiederum nicht so scheine, wirst du wohl sagen? – Ja, vielleicht, sagte er. – O du Hochzupreisender, sprach ich, klage doch die Menge nicht so sehr an; jene werden ja eine andere Meinung fassen, wenn du ihnen, und zwar nicht in Streitsucht, sondern in freundlicher Zusprache und mit Widerlegung der Verleumdung des Vielwissens, erst nachweisest, welche Menschen du Weisheitsliebende nennest, und die Begabung und Thätigkeit derselben, wie wir so eben thaten, feststellst, damit sie eben nicht mehr glauben, du sprechest von jenen, welche sie dabei im Sinne hatten. Wahrlich ja, wenn sie es auf diese Weise betrachten, wirst du selbst sagen, daß sie eine andere Meinung erfassen und uns anders antworten werden; oder glaubst du, daß Jemand zürnen werde dem nicht Zürnenden, oder mißgünstig sein werde gegen den nicht Mißgünstigen, woferne jener selbst ohne Mißgunst und sanftmüthig ist? Ich will nemlich mit der Antwort dir zuvorkommen und selbst sagen, daß ich glaube, es finde sich nur in irgend Wenigen, nicht aber in der Masse überhaupt eine so gefährliche Begabung. – Und ich nun, sagte er, glaube es zuverlässig gleichfalls. – Nicht wahr also, auch dieß glaubst du gleichfalls, daß an der gefährlichen Stimmung der Menge gegen die Weisheitsliebe eben Diejenigen die Schuld tragen, welche von Außen ungebührlich in dieselbe wie ein Schwarm Trunkener hereinstürmten und auf die Menschen schmähen und eine Freude an Gehässigkeit haben und immer nur über die Leute ihre Reden halten, eine Betriebsamkeit übend, welche am wenigsten der Weisheitsliebe ziemt. – Ja wohl, bei Weitem, sagte er. –

13. Es hat ja, o Adeimantos, Derjenige, welcher in Wahrheit seinen Sinn auf das Seiende richtet, keine Zeit, nach Unten hinab in die Geschäftigkeit der Leute zu blicken und im Kampfe mit ihnen sich mit Mißgunst und Feindseligkeit zu erfüllen, sondern indem er auf irgend feststehende und stets sich gleichmäßig verhaltende Gegenstände hinsieht und sie betrachtet, welche gegenseitig weder Unrecht thun, noch Unrecht leiden, sondern sämmtlich in Ordnung und vernunftgemäß sich verhalten, so wird er diese nachahmen und so sehr als möglich sich ihnen ähnlich machen; oder glaubst du, es könne vorkommen, daß Jemand dasjenige nicht nachahme, mit welchem er in Bewunderung stets verkehrt? – Nein, dieß ist unmöglich, sagte er. – Und wenn also der Weisheitsliebende mit Göttlichem und Geordnetem verkehrt, so wird er wohl auch selbst ein Göttlicher und Geordneter werden, so weit dieß einem Menschen möglich ist; Verleumdung aber gibt es allerdings bei Allem in hohem Grade. – Ja wohl, durchaus. – Wenn also, sprach ich, für ihn sich eine Nothwendigkeit ergibt, daß er sich bemüht, was er dort gesehen, in die Sitten der Menschen sowohl im Einzelnen. als auch im Staate einzutragen und nicht bloß sich selbst auszubilden, glaubst du da, es werde derselbe ein schlechter Werkmeister der Besonnenheit und der Gerechtigkeit und der gesammten staatsbürgerlichen Vortrefflichkeit werden? – Nein, gewiß nicht, sagte er. – Wenn aber nun die Menge es bemerkt, daß wir die Wahrheit über ihn sagen, wird sie dann wohl den Weisheitsliebenden zürnen und unserer Behauptung mißtrauen, daß niemals in anderer Weise ein Staat glücklich sein könne, als wenn der Umriß desselben von jenen Malern entworfen wird, welche hiebei des göttlichen Musterbildes sich bedienen? – Nein, sie wird nicht zürnen, sagte er, wenn sie nemlich jenes bemerkt; aber welche Art und Weise dieses Umrisses meinst du denn hiemit? – Sie werden, sprach ich, den Staat und die Sitten der Menschen wie eine Tafel nehmen und vor Allem wohl dieselbe reinigenVgl. B. II Cap. 13 und im III. B. den Schluß des 10. u. d. Anf. des 11. Cap., was zwar nicht sehr leicht ist; aber du weißst nun wohl schon, daß sie eben darin von vorneherein von allen Übrigen sich unterscheiden dürften, daß sie nicht eher an einen einzelnen Menschen oder an einen Staat sich machen, oder Gesetze aufstellen wollen, als bis sie den Staat entweder als einen reinen überkommen, oder selbst dazu gemacht haben. – Ja, und mit Recht, sagte er. – Nicht wahr also, hernach, glaubst du, würden sie die Form der Staatsverfassung im Umrisse entwerfen? – Warum auch nicht? – Und sodann, glaube ich, würden sie bei dieser Arbeit wohl häufig nach beiden Seiten vergleichend hin und her blicken, nemlich sowohl auf das von Natur aus Gerechte und Schöne und Besonnene und all Derartiges, als auch hinwiederum auf das in den Menschen Befindliche, und würden in einer Mischung und Vereinigung der verschiedenen Thätigkeiten ihnen das Menschenähnliche einpflanzen, von jenem es entnehmend, was auch Homeros, wenn es bei Menschen sich findet, ein Gottartiges und Gottähnliches nenntBeide Worte kommen bei Homer sehr häufig vor, stets aber nur von physischen Vorzügen, z. B. »göttergleiche Gestalt des Leibes« u. dgl.. – Du hast Recht, sagte er. – Und das Eine also, glaube ich, würden sie ausstreichen und Anderes wieder hineinzeichnen, bis sie so sehr als möglich im höchsten Grade menschliche Sitte zu einer gottgefälligen gemacht haben. – Die herrlichste Zeichnung wenigstens, sagte er, möchte dieß werden. – Werden wir also, sprach ich, nun wohl jene überzeugen, welche, wie du sagtest B. V, Cap. 18., in gespannter Hast auf uns losrennen würden, daß nemlich wirklich ein Derartiger der Zeichner der Staatsformen sei, welchen wir damals ihnen gegenüber lobten, und um dessen willen sie uns zürnten, daß wir ihm die Staaten anvertrauen wollten, und werden jene, wenn sie es jetzt in noch höherem Grade hören, sich besänftigen? – Ja gewiß, sagte er, woferne sie besonnen sind. – Wie sollten sie ja auch es bestreiten können? etwa damit, daß die Weisheitsliebenden nicht wirklich Liebhaber des Seienden und der Wahrheit seien? – Dieß wäre ja ungereimt, sagte er. – Aber etwa damit, daß die Begabung derselben, wie wir sie durchgingen, nicht dem an sich Besten angehöre. – Nein, auch mit diesem nicht. – Wie aber? etwa daß die derartige Begabung, wenn sie die ihr gebührenden Thätigkeiten findet, nicht in vollkommener Weise eine gute und weisheitsliebende sein werde, wenn je es überhaupt eine Begabung sein kann? oder werden sie etwa von jenen es eher behaupten, welche wir ausgeschieden haben? – Doch wohl hoffentlich nicht. – Werden sie also noch sich wild geberden, wenn wir behaupten, daß, ehe nicht das weisheitsliebende Geschlecht in einem Staate die Oberhand gewonnen hat, es weder für den Staat, noch für die Bürger ein Aufhören der Uebel gebe, noch auch jene Staatsform, welche wir dichterisch in unseren begründenden Worten darstellten, jemals tatsächlich ihre Vollendung finden werde? – Vielleicht, sagte er, werden sie weniger wild sich geberden. – Willst du etwa, erwiederte ich, daß wir nicht bloß sagen, sie seien weniger wild, sondern vollständig sanft geworden und hinreichend überzeugt. um, wenn auch aus keinem anderen Grunde, doch aus Scham es uns zuzugestehen? – Ja wohl, allerdings, sagte er. –

14. Diese demnach, sprach ich, mögen hievon als überzeugt gelten. Könnte aber dieß wohl Jemand bestreiten, daß nicht auch zufällig wohl Sprößlinge von Königen oder Machthabern vermöge ihrer Begabungen als weisheitsliebend geboren werden könnten? – Nein, Niemand, sagte er. – Wenn aber Derartige geboren sind, kann man dann behaupten, daß diese durchaus nothwendiger Weise zu Grunde gehen müssen? denn daß ihre Erhaltung wohl schwierig ist, gestehen auch wir selbst zu; aber daß in der gesamten Zeit unter Allen auch nicht ein Einziger erhalten bliebe, kann wohl Niemand streitend behaupten. – Wie sollte man auch? – Nun aber, sagte ich, genügt ja ein Einziger, wenn er da ist und einen ihm gehorchenden Staat besitzt, um all jenes bis jetzt Unglaubliche in's Werk zu setzen. – Ja, allerdings genügt er, sagte er. – Wenn Ja nemlich, sprach ich, ein Herrscher die Gesetze und die Thätigkeiten, wie wir sie durchgegangen haben, feststellt, so ist es doch wohl nicht unmöglich, daß die Bürger solches ausführen wollen? – Nein, in keinerlei Weise. – Daß aber denn nun dasjenige, was uns dünkt, auch Anderen dünke, soll dieß gar so sehr zu verwundern oder etwa unmöglich sein? – Ich wenigstens glaube nicht, sagte er. – Daß es aber ja das Beste wäre, woferne es möglich wäre, dieß haben wir, glaube ich, in dem Obigen genügend erörtert B. V, Cap. 7, s. obige Anm. 201.. – Ja, genügend. – Jetzt demnach ergibt sich uns, wie es scheint, daß bezüglich der Gesetzgebung jenes, was wir sagen, das Beste ist, falls es wirklich eintritt, daß aber das wirkliche Eintreten wohl schwierig, nicht jedoch unmöglich ist. – Ja, dieß ergibt sich uns. –


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