Platon
Plato's Staat
Platon

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15. Nicht wahr also, sagte ich, je mehr die Werkthätigkeit jener Wächter die größte ist, um so mehr bedarf sie auch sowohl des meisten Zeitaufwandes unter allen übrigen, als auch andrerseits der größten Kunst und Sorgfalt? – Ich wenigstens glaube es wohl, sagte er. – Wohl also bedarf es auch einer zu diesem Betriebe tauglichen Begabung? – Wie sollte es auch nicht so sein? – Unsere Aufgabe demnach ist es, wie es scheint, woferne wir es im Stande sind, eine Auswahl zu treffen, welche und welcherlei Begabungen tauglich seien zur Bewachung eines Staates. – Ja, unsere Aufgabe wohl. – Wahrlich bei Gott, sagte ich, nicht ein geringes Geschäft also haben wir uns aufgeladen; dennoch aber dürfen wir den Muth nicht sinken lassen, so weit wenigstens unsere Kraft ausreicht. – Nein, allerdings nicht, sagte er. – Glaubst du also, sprach ich, daß irgend ein Unterschied sei in Bezug auf Bewachung zwischen der Begabung eines tüchtigen jungen Hundes und eines edlen Jünglinges? – Was meinst du hiemit? – Nemlich Jeder von beiden soll doch sowohl einen geschärften Sinn haben, um etwas wahrzunehmen, als auch soll er behend sein, um, wenn er Etwas wahrnimmt, es zu verfolgen, und dann auch wieder kräftig soll er sein, falls er, wenn er es ereilt hat, mit demselben kämpfen muß. – Ja allerdings, sagte er, ist all dieses nöthig. – Und nun aber tapfer soll er ja sein, woferne er gut kämpfen soll. – Wie sollte es auch nicht so sein? – Wird aber etwa dasjenige tapfer sein wollen, was nicht muthig ist, sei es ein Pferd oder ein Hund oder irgend ein anderes Thier? oder hast du nicht bemerkt, daß etwas Unbekämpfbares und Unbesiegbares der Muth ist, bei dessen Anwesenheit jede Seele gegen Alles furchtlos und unüberwindlich ist? – Ich habe es wohl bemerkt. – Wie also bezüglich des Körperlichen der Wächter sein solle, ist klar. – Ja. – Und nun ja auch bezüglich der Seele, nemlich daß er muthig sein soll. – Auch dieses. – Wie also, o Glaukon, sagte ich, soll es geschehen, daß Solche nicht unter sich und gegen die übrigen Bürger grimmig sind, da sie bezüglich ihrer Begabung derartige sind? – Bei Gott, sagte er, nicht leicht wird es anders sein. – Nun aber sollen dieselben ja doch gegen ihre eigenen Leute sanft, nur aber gegen die Feinde gefährlich sein; denn außerdem werden sie gar nicht darauf warten, daß Andere ihnen Verderben drohen, sondern sie selbst werden dieß als die ersten thun. – Dieß ist wahr, sagte er. – Was sollen wir also anfangen? sagte ich; woher werden wir einen Charakter finden, welcher zugleich sanft und sehr muthig ist? denn entgegengesetzt doch wohl ist der muthigen die sanfte Begabung. – Ja, so zeigt sich's. – Nun aber wird er ja, wenn er irgend eines dieser beiden entbehrt, niemals ein guter Wächter werden; jenes aber gleicht den Unmöglichkeiten, und auf diese Weise ergibt sich daß unmöglich ein guter Wächter entstehen kann. – Es kömmt darauf hinaus, sagte er. – Und ich war rathlosDiese Anwendung der sokratischen Selbstironie scheint die Gränze des Erträglichen zu überschreiten, denn sie ist zu plump, weil die Lösung der Schwierigkeit, wie sie im Folgenden auch gegeben wird, zu nahe liegt, als daß ein langes Hinundher-Reden darüber nöthig wäre; das entgegengesetzte Extrem s. unten Anm. 325. und erwog das vorher Gesagte und sprach: Mit Recht ja wurden wir rathlos, mein Freund; denn wir haben uns von dem Gleichnisse entfernt, welches wir vorher aufstellten. – Wie meinst du dieß? – Wir haben nemlich nicht bemerkt, daß es also doch solche Begabungen gibt, wie wir glaubten, daß es nicht gebe, welche nemlich diese Gegensätze in sich enthalten. – Wo denn? – Man möchte es sowohl an anderen Thieren sehen, als auch wahrlich in keinem geringen Grade bei jenem, welches wir vorhin verglichen, nemlich bei dem jungen Hunde. Du weißt nemlich doch wohl, daß dieß von Natur aus in der Art der tüchtigen Hunde liegt, daß sie gegen diejenigen, an welche sie gewöhnt sind und welche sie kennen, so sanft als möglich sind, gegen die Unbekannten aber das Gegenteil. – Ja, ich weiß es allerdings. – Dieß also, sagte ich, ist hiemit etwas Mögliches, und nicht naturwidrig suchen wir darnach, daß der Wächter ein derartiger sei. – Es scheint nicht naturwidrig –

16. Scheint dir also wohl auch noch Folgendes der künftige Wächter zu bedürfen, daß er außer der muthigen auch eine weisheitsliebende Begabung erhalte? – Wie so? sagte er; denn ich verstehe dieß noch nicht. – Auch dieß, erwiederte ich, wirst du an den Hunden erblicken, was noch dazu bei einem Thiere bewunderungswürdig ist. – Nemlich was? – daß er demjenigen, welchen er als einen Unbekannten sieht, gefährlich ist, obwohl er vorher nichts Schlimmes von ihm erfahren hat; jenen aber, welchen er als einen Bekannten sieht, liebkost er, auch wenn er niemals von ihm irgend etwas Gutes erfahren hat; oder hast du dich darüber noch nie gewundert? – Ich habe, sagte er, eben nicht so weit meine Aufmerksamkeit erstreckt; aber daß er solches thut, ist wohl klar. – Nun aber zeigt sich ja dieser Vorgang in der Begabung desselben als ein gar Feines und in Wahrheit als ein Weisheitsliebendes. – Wie so denn? – Insoferne er, sagte ich, Freundes- und Feindes-Anblick nach nichts Anderem unterscheidet als darnach, daß er den einen kennen lernte und den anderen nicht kennt. Und doch wie sollte Etwas nicht ein Lernbegieriges sein, was die Gränze zwischen Angehörigem und Fremdem eben nur nach dem Kennen und Nichtkennen zieht? – Jedenfalls, sagte er, ist es ein Lernbegieriges. – Nun aber, sprach ich, ist doch das Lernbegierige und das Weisheitsliebende das Nemliche? – Ja wohl, das Nemliche, sagte er. – Nicht wahr also, auch bei dem Menschen werden wir getrost die Behauptung aufstellen, daß er, woferne er gegen seine eigenen Leute und gegen die Bekannten sanft sein soll, weisheitsliebend und lernbegierig sein muß? – Ja, wir wollen sie aufstellen, sagte er. – Weisheitsliebend demnach und muthig und behend und stark wird uns bezüglich seiner Begabung derjenige sein, welcher dereinst ein trefflicher und tüchtiger Wächter eines Staates sein soll. – Ja wohl, völlig so, sagte er. – Dieser also nun möge uns hiemit auf diese Weise gefunden sein; aber auf welche Weise denn nun werden uns diese aufgenährt und herangebildet werden? Und wird also auch, wenn wir dieß erwägen, es uns förderlich sein zur Einsicht in jenes, um dessen willen wir Alles erwägen, nemlich auf welche Weise Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in einem Staate entstehe? damit wir nicht etwa eine zulängliche Begründung übergehen oder andrerseits zu Vieles durchgehen. – Und der Bruder des Glaukon sagte: Allerdings wohl erwarte ich, daß jene Erwägung zu diesem förderlich sein werde. – Nicht also, bei Gott, o Adeimantos, sagte ich, dürfen wir ablassen, auch dann nicht, wenn die Erwägung eine ziemlich lange sein sollte. – Nein, allerdings nicht. – Wohlan also, gleichsam wie in einer Dichtung Fabeln erzählend und die Erörterung uns angelegen sein lassend, wollen wir jene Männer nun heranbilden. – Aber es muß auch sein. –

17. Welches also ist die Heranbildung derselben? oder ist es schwierig, eine bessere zu finden, als jene, welche schon durch die Länge der Zeit gefunden wurde? diese aber ist doch wohl einerseits für den Körper die gymnische, andrerseits für die Seele die musische? – Ja, diese ist es. – Werden wir also nicht zuerst beginnen, sie musisch heranzubilden, und dann erst gymnisch? – Warum nicht? – Wenn du aber von der musischen sprichst, so rechnest du darunter die mündlichen Aussprüche; oder nicht? – Ja, ich wenigstens gewiß. – Der mündlichen Aussprüche aber gibt es eine doppelte Art, einerseits wahre und andrerseits unwahre? – Ja. – Bilden aber soll man jene in beiden, und zuerst in den unwahren? – Ich verstehe nicht, sagte er, wie du dieß meinst. – Du verstehst nicht, erwiederte ich, daß wir den Kindern zuerst Fabeln erzählen? diese aber sind doch wohl, um es im Ganzen zu sagen, etwas Unwahres, darin enthalten aber ist auch Wahres; zuerst aber wenden wir ja bei den Kindern Fabeln an, und dann erst Leibesübungen. – Ja, so ist es. – Dieß demnach meinte ich damit, daß die musische Bildung früher als die gymnische zu ergreifen sei. – Du hast hierin Recht, sagte er. – Nicht wahr also, du weißt, daß der Anfang eines jeden Dinges das Größte ist, zumal bei Allem, was jung und zart ist? denn zumeist ja in jener Zeit wird das Gepräge sich bilden und eindringen, welches man einem Jeden aufdrücken will. – Ja wohl, gar sehr. – Sollen wir nun so leichthin es zulassen, daß die Kinder alle beliebigen von jedem Beliebigen gedichteten Fabeln hören und in ihren Seelen meistenteils entgegengesetzte Meinungen erfassen gegen jene, welche sie unserer Ansicht nach haben sollen, wenn sie erwachsen sind? – Nein, in keinerlei Weise werden wir dieß zulassen. – Erstens demnach müssen wir, wie es scheint, die Fabeldichter beaufsichtigen, und jede Fabel, welche sie gut dichten, auswählen, jene hingegen, welche nicht gut, ausscheiden; die von uns ausgewählten aber den Kindern vorzusagen, werden wir die Ammen und Mütter überreden, sowie daß sie die Seelen derselben weit mehr durch Fabeln bilden, als den Körper vermittelst der Hände; von jenen Fabeln aber, welche die Leute ihnen jetzt vorsagen, müssen wir die meisten verbannen. – Welche denn? sagte er. – In den größeren Fabeln, erwiederte ich, werden wir auch die kleineren erblicken; denn es sollen doch wohl das nemliche Gepräge und die nemliche Kraft sowohl die größeren als auch die kleineren haben; oder glaubst du nicht? – Dieß gewiß, sagte er; aber ich verstehe auch noch nicht, welche du unter den größeren meinest. – Diejenigen, sprach ich, welche Hesiodos und Homeros und die übrigen Dichter uns erzählten; denn diese doch wohl sind es, welche unwahre Fabeln zusammenstellten und erzählten und noch erzählen. – Ja welche denn? sagte er, und was tadelst du denn hiemit an ihnen? – Was man, erwiederte ich, zuerst und zumeist tadeln muß, zumal wenn Jemand in unrichtiger Weise Unwahres sagt. – Was soll dieses sein? – Wenn Jemand in seiner Rede schlechte Gleichnisse betreffs dessen gebraucht, wie beschaffen die Götter und die Heroen seien, gerade wie ein Maler, welcher Dinge malt, die demjenigen gar nicht gleichen, was er in einer Verähnlichung malen wollte. – Es ist ja auch völlig richtig, sagte er, Derartiges zu tadeln; aber in welchem Sinne denn und von welchen Dingen meinen wir dieß hier? – Erstens, erwiederte ich, die größte Unwahrheit und betreffs des Größten hat der sie Aussprechende in unrichtiger Weise gesagt, daß nemlich sowohl Uranos vollführt habe, was von ihm HesiodosTheogonie, V. 154–200. sagt, daß er gethan habe, als auch hinwiederum die Art und Weise, in welcher Kronos sich an ihm rächte; die Thaten aber eben des Kronos und was er wieder durch seinen Sohn erlitt, sollten nach meiner Meinung selbst dann nicht, wenn sie wahr wären, so leichthin von Unverständigen und jungen Leuten gesagt, sondern zumeist verschwiegen werden; falls aber eine Nothwendigkeit bestünde sie zu sagen, so sollten solches nur als Geheimniß so Wenige als nur möglich hören, nachdem sie ein Opfer, und zwar nicht etwa bloß ein Ferkel, sondern irgend ein großes und schwer herbeizuschaffendes Opfer dargebracht haben, damit eben so Wenigen als möglich es gelinge, solches zu hörenOb wohl das Seelenheil jener wenigen auserwählten Reichen, welche nach Erlegung eines sehr hohen Eintrittsgeldes zuhören dürfen, weniger gefährdet ist? – Ueberhaupt muß bezüglich des Inhaltes dieses ganzen Cap. bemerkt werden, daß es hiebei an dem Verständnisse dessen, was Poesie und was Religion sei, eben von vornherein fehlt; ähnliche Aeußerungen über Homer und Hesiod, wie sie hier Plato ausspricht, wurden schon von den Eleaten gemacht (s. m. Uebers. d. gr. Phil. S. 23). Wer von einem Volks-Evangelium, wie die homerische Poesie ist, verlangt, daß sie ein rationalistisch nüchterner und abstrakter Theismus sein solle, zeigt eben nur, daß er überhaupt nicht weiß, was Region ist (vgl. aber unten Anm. 60). Daß Plato aber hauptsächlich das Motiv der Sittlichkeit einspannen würde, um über Homer und Hesiod ein Verdammungsurtheil zu fällen, ließ sich freilich erwarten; denn um den Unterschied zwischen Religion und Sittlichkeit sowie deren Wechselbeziehung zu erfassen und durchzuführen, ist allerdings ein tieferer und namentlich zugleich kenntnißreicherer Standpunkt erforderlich, als ihn je die Griechen einnehmen konnten. Hat ja doch auch die Entwicklung unserer modernen Philosophie gerade in jener Gestaltung, in welcher sie heutzutage noch am meisten die herrschende ist, stets gezeigt, daß sie über die Verwechslung oder irrthümliche Identificirung jener beiden Begriffe bisher noch nicht hinausgekommen ist (wofür natürlich unsere modernen Neuplatoniker von Allen den schlagendsten Beleg geben). Ueber die platonische Auffassung der Kunst überhaupt s. unten Anm. 327.. – Es sind ja auch wirklich, sagte er, wenigstens diese Erzählungen gefährlich. – Und nicht ja, o Adeimantos, sagte ich, darf man sie in unserem Staate vorbringen; und nicht darf man zu einem jungen Menschen, so daß er es hören könnte, sagen, daß er bei Verübung des äußersten Unrechtes oder wenn er etwa einen ihm Unrecht thuenden Vater auf jede Weise züchtigte, durchaus nichts Auffallendes verübe, sondern eben nur das Nemliche thue, wie auch die obersten und größten Götter. – Wahrlich, bei Gott, sagte er, auch mir selbst scheint solches nicht passend zu sein, um es zu sagen. – Und überhaupt ja, sagte ich, auch nicht, daß Götter mit Göttern Krieg führen und einander nachstellen und mit einander kämpfen (denn solches ist nicht einmal wahr), woferne ja bei uns die künftigen Wächter des Staates es für das Schimpflichste halten sollen, gegenseitig leicht sich zu verfeinden. Weit gefehlt also, daß man ihnen die Kämpfe gegen die Giganten und viele und mancherlei andere Feindschaften der Götter und der Heroen gegen ihre Verwandten und Angehörigen in den Fabeln erzählen und ausschmücken soll, sondern woferne wir irgend sie überzeugen wollen, daß noch kein Bürger jemals mit einem anderen Bürger sich verfeindete, und dieß auch nicht erlaubt ist, so müssen weit eher eben Derartiges von vorneherein zu den Kindern die Greise und die alten Frauen und überhaupt die Aelteren sagen, und die Dichter muß man nöthigen, sich in ihrer Sagendichtung nahe an Solches zu halten. Dinge aber wie die Fesselung der Hera durch ihren SohnIlias, XV, V. 18 (nemlich Hephästos schmiedet die Fesseln, Zeus selbst hingegen legt sie der Hera an). und wie das Herabschleudern des Hephästos durch seinen Vater, weil ersterer seiner Mutter, welche Schläge bekömmt, beistehen willEbend. I, V. 588., und all jene Götterschlachten, welche Homeros gedichtet hat, darf man in unseren Staat nicht aufnehmen, weder wenn sie mit einem tiefer liegenden Sinne gedichtet sind, noch wenn ohne einen solchenHiemit ist auf die sogenannte allegorische Erklärung der Mythen hingewiesen, welche bereits zur Zeit der Sophisten zuweilen angewendet, von den Stoikern aber oft in den albernsten Deuteleien durchgeführt wurde; ein Hauptzweig dieser Behandlungsweise der homerischen Mythologie war die sog. moralische Erklärung, welche ja bekanntlich auch bezüglich des Kernes der christlichen Religion besonders durch die Kant'sche Philosophie einen Aufschwung nahm.; denn der junge Mensch ist nicht im Stande, zu beurtheilen, was der tiefer liegende Sinn sei und was nicht, sondern dasjenige, was er in solchen Jahren in seinen Ansichten erfaßt, pflegt ein Unaustilgbares und Unwandelbares zu werden. Um dessen willen also ist es vielleicht über Alles hoch anzuschlagen, daß, was sie als erstes hören, in Bezug auf Trefflichkeit so richtig als möglich gedichtet sei. –

18. Ja, es hat allerdings seinen Grund, sagte er; aber wenn hinwiederum uns Jemand fragte, welcherlei Art eben dieß selbst und welche diese Fabeln sein sollen, welche würden wir angeben? – Und ich sprach: o Adeimantos, wir sind für jetzt keine Dichter, weder du noch ich, sondern Gründer eines Staates, für Gründer aber gebührt es sich, daß sie wohl das Gepräge wissen, in welchem die Dichter Fabeln erzählen sollen, so daß, wenn sie wider dasselbe verstoßen, dieß nicht zu dulden ist, nicht jedoch müssen sie selbst auch Fabeln dichten. – Ganz richtig, sagte er; aber eben dieß nun meine ich, welches wohl jenes Gepräge betreffs der Göttersage sei. – Ungefähr folgendes, sagte ich: wie beschaffen Gott wirklich ist, so muß man ihn doch wohl stets angeben, mag ihn Jemand in epischer oder in lyrischer oder in dramatischer Poesie dichterisch aussprechen. – Ja, so soll es sein. – Nicht wahr also, Gott ist ja wirklich gut und so muß man es auch aussprechen? – Wie denn sonst? – Nun aber ist ja Nichts von demjenigen, was gut ist, schädlich; oder wie etwa? – Meiner Meinung nach Nichts. – Schadet also etwa jenes, was nicht schädlich ist? – In keiner Weise. – Thut aber dasjenige, was nicht schadet, irgend Schlimmes? – Auch dieß nicht. – Was aber nichts Schlimmes thut, dieß dürfte ja auch nicht die Ursache irgend eines Schlimmen sein? – Wie sollte es ja auch? – Was weiter? ist das Gute nützlich? – Ja. – Also Ursache des Wohlergehens ist es? – Ja. – Nicht also von Allem ja ist das Gute die Ursache, sondern nur von demjenigen, was sich wohl verhält, hingegen von dem Schlimmen ist es nicht Ursache. – Ja völlig so, sagte er. – Also dürfte wohl auch der Gott, sprach ich, da er gut ist, nicht von Allem die Ursache sein, wie die meisten Leute sagen, sondern nur von Wenigem ist er für die Menschen die Ursache, von Vielem hingegen ist er nicht Ursache; denn weit Wenigeres ist für uns das Gute, als das Schlimme; und von dem Guten dürfen wir keinen Anderen als Ursache bezeichnen, für das Schlimme aber soll man irgend andere Ursachen suchen, aber nicht den Gott. – Durchaus wahr, sagte er, scheinst du mir zu sprechen. – Nicht also, sagte ich, dürfen wir von Homeros oder von irgend einem anderen Dichter es uns gefallen lassen, wenn er in unverständiger Weise diesen Fehler betreffs der Götter begeht und sagt, daß

»zwei Fässer in der Schwelle des Zeus liegen,
voll von Lebens-Loosen, das eine von guten, das andere aber von schlechten«Ilias, XXIV, V. 527 f.; der zweite Vers aber ist dem uns überlieferten Texte der Ilias nur dem Sinne nach gleichbedeutend, dem Wortlaute nach aber weicht er von Plato's Anführung ab.,

und daß, wenn Zeus mischend von beiden verleihe,

»bald Schlimmes diesen trifft, bald aber Gutes«Ebend. V. 530.,

wem hingegen nicht, sondern aus dem einen ungemischt,

»diesen treibt eine schlimme verzehrende Noth zur göttlichen Erde«Ebend. V. 532.,

und auch dieß dürfen wir uns nicht gefallen lassen, daß für uns

»Zeus der Schatzwalter des Guten und Schlimmen ist«Bei Homer kömmt nur zweimal gleichlautend (Ilias, IV, V. 84 und XIX, V. 224) der Vers vor: »Zeus, welcher für die Menschen der Schatzwalter des Krieges ist«.,

19. Wenn aber Jemand von jener Verwirrung der Eide und Verträge, welche Pandaros anzettelte, behauptet, sie sei durch Athene und Zeus eingetretenIlias IV, V. 88., so werden wir dieß nicht loben, noch auch daß jener Streit der Götter und dessen Entscheidung durch Themis und Zeus eingetreten seiInhalt des XX. Gesanges der Ilias., noch auch hinwiederum dürfen wir dulden, daß die jungen Leute hören, daß, wie AeschylosWahrscheinlich in der für uns verlornen Tragödie »Niobe«. sagt:

»Gott erzeugt die Ursache für die Sterblichen,
wann er ein Haus vollständig verderben will«,

sondern wenn Jemand als Stoff seiner Dichtung, in welcher diese Verse vorkommen, die Leiden der Niobe oder jene der Pelopiden und die Verhältnisse vor Troja oder irgend etwas Anderes derartiges behandelt, so dürfen wir entweder nicht dulden, daß er Solches als Werk eines Gottes bezeichne, oder, wenn sie es als eines Gottes Werk bezeichnen, so müssen sie so ziemlich jene nemliche Begründung auffinden, welche auch wir jetzt suchen, und müssen sagen, daß der Gott gerechtes und Gutes wirkt, jene aber durch ihre Bestrafung einen Nutzen erfuhren. Daß aber diejenigen, welche büßen, unglücklich seien, und dabei doch der dieß Bewirkende ein Gott sei, daß dieß der Dichter sage, dürfen wir nicht dulden; wenn sie hingegen sagen würden, daß die Schlechten als Unglückliche eine Bestrafung bedurften, durch ihr Büßen aber von dem Gotte ihnen Nützliches zu Theil wurde, dann dürfen wir es zulassen; bei der Behauptung aber, daß ein Gott, während er ein Guter ist, für Jemanden die Ursache von Schlimmem werde, müssen wir auf jede Weise kämpfen, daß weder irgend Einer dieß in seinem Staate ausspreche, woferne dieser als ein wohlgesetzlicher bestehen soll, noch auch irgend Jemand, sei es ein Jüngerer oder ein Aelterer, es höre, mag die Erzählung der Fabel in gebundener oder in ungebundener Rede sein, da ja Solches, wenn es ausgesprochen wird, weder eine bezüglich des Göttlichen erlaubte Rede, noch auch uns zuträglich, noch endlich mit sich selbst in Einklang ist. – Ich gebe zugleich mit dir, sagte er, diesem Gesetze meine Stimme, und es gefällt mir. – Dieß demnach, sprach ich, wäre hiemit Eines von den Gesetzen betreffs der Götter und von jenen Geprägen, demzufolge die Erzählenden und die Dichtenden nicht erzählen und dichten dürfen, daß der Gott von Allem die Ursache sei, sondern nur daß von dem Guten. – Ja, und zwar ein sehr genügendes, sagte er. – Welches aber nun ist das folgende zweite? Glaubst du etwa, daß der Gott ein Zauberer sei und derartig, daß er in hinterlistiger Absicht bald in dieser bald in jener Gestalt erscheine, indem er bisweilen selbst so sich umwandle und seine eigene Form in viele Gestaltungen verändere, bisweilen aber auch uns täusche und bewirke, daß uns Derartiges betreffs seiner scheine, oder glaubst du, daß er sowohl einfach sei als auch von Allem am wenigsten aus seiner eigenen Gestalt heraustrete? – Ich kann, sagte er, für den Augenblick jetzt es nicht so schlechthin beantworten. – Wie aber? vielleicht Folgendes? Muß nicht nothwendig, woferne Etwas aus seiner eigenen Form heraustritt, es entweder selbst durch sich selbst oder durch irgend ein Anderes umgeändert werden? – Ja, nothwendig. – Nicht wahr also, durch ein Anderes wird jenes, was sich am besten verhält, wohl am wenigsten geändert und in Bewegung gesetzt, wie z. B. wenn der Körper durch Speise und Trank und Anstrengungen, und jede Pflanze durch Sonnenhitze und Winde und die derartigen Vorkommnisse geändert wird, wird da nicht das Gesündeste und Kräftigste wohl am wenigsten geändert? – Wie sollte es nicht so sein? – Aber würde nicht auch auf die Seele selbst, wenn sie die tapferste und verständigste ist, wohl am wenigsten ein äußeres Ereigniß erschütternd und ändernd einwirken? – Ja. – Und nun ja auch von allen zusammengesetzten Gerätschaften und Baulichkeiten und Kleidungsstücken werden diejenigen, welche gut gearbeitet sind und sich gut verhalten, wohl am wenigsten durch die Zeit und durch die übrigen Vorkommnisse geändert? – Ja, es ist so. – Jedes demnach, was entweder vermöge der Natur oder vermöge der Kunst oder vermöge beider sich richtig verhält, läßt im geringsten Grade eine Veränderung durch irgend ein Anderes in sich zu. – Ja, so scheint es. – Nun aber verhält sich ja doch der Gott und das Göttliche in jeder Beziehung am besten. – Wie sollte es auch nicht so sein? – In dieser Beziehung demnach möchte wohl der Gott am wenigsten viele Gestaltungen annehmen. – Ja, sicher am wenigsten. –

20. Möchte also wohl er selbst es sein, welcher sich selbst verwandelt und ändert? – Klärlich, sagte er, bleibt dieß allein noch übrig, woferne er überhaupt verändert werden soll. – Würde er nun etwa in ein Besseres und Schöneres oder in ein Schlechteres und Häßlicheres, als er selbst ist, sich verwandeln? – Nothwendig in das Schlechtere, sagte er, woferne er sich verändert; denn wir werden ja doch wohl nicht behaupten, daß der Gott erst noch einer höheren Schönheit und Trefflichkeit bedürftig sei. – Völlig richtig, sagte ich, sprichst du; und wenn dieß sich so verhält, scheint dir dann, o Adeimantos, irgend Jemand freiwillig sich selbst schlechter machen zu wollen, sei es ein Gott oder ein Mensch? – Unmöglich, sagte er. – Unmöglich also, sprach ich, ist es auch für einen Gott, daß er sich selbst verändern wolle, sondern, wie es scheint, als der möglichst schönste und beste verharrt jeder derselben stets schlechthin in seiner Gestaltung. – Durchaus nothwendig, sagte er, scheint mir dieß zu sein. – Keiner also unter den Dichtern, mein bester, sprach ich, möge uns etwa sagen, daß

»Götter fremden Wanderern gleich
in mancherlei Gestalt die Städte durchziehen«Odyssee, XVII, V. 485.,

und keiner möge Lügen verbreiten über den Proteus oder über die ThetisProteus nahm mannigfache Gestalten an, um den ihn Befragenden nicht wahrsagen zu dürfen (Odyss. IV, V. 364), Thetis aber nahm Menschen-Gestalt bei der Ehe mit dem sterblichen Peleus an (Pindar, Nem. 4). Uebrigens vgl. bezüglich der platonischen Ansicht unten Anm. 199, noch auch führe Einer in Tragödien oder anderen Gedichten die Hera in eine Priesterin verwandelt ein, indem sie Gaben sammelt

»von den fruchtspendenden Söhnen des argivischen Flusses Inachos«Woher dieser Vers entnommen sei, wissen wir nicht; aus einer Tragödie schwerlich, da er in epischer Form angeführt ist.,

und überhaupt auch viele andere derartige Lügen mögen sie uns nicht vorsagen. Und hinwiederum sollen auch nicht die Mütter Diesem Glauben schenkend ihre Kinder in Furcht setzen, indem sie in ungehöriger Weise Fabeln erzählen, daß irgend Götter des Nachts herumwandeln, vielen und mancherlei fremden gleichend, damit sie nemlich nicht einerseits gegen die Götter lästern und andrerseits zugleich ihre Kinder feig machen. – Nein, sie sollen es nicht, sagte er. – Sind aber etwa, sagte ich, die Götter wohl an sich selbst derartig, daß sie sich nicht verwandeln, und bewirken sie hingegen nur für uns durch Täuschung und Zauberei, daß sie uns in mancherlei Gestalten vorzukommen scheinen? – Vielleicht, sagte er. – Wie aber? sprach ich; möchte wohl ein Gott in Wort oder That durch Vorspiegelung eines Trugbildes täuschen wollen? – Ich weiß es nicht, sagte er. – Du weißt nicht, erwiederte ich, daß die wahrhaftige Täuschung, wenn es möglich ist, eben diesen Ausdruck zu gebrauchen, alle Götter und Menschen hassen? – Wie meinst du dieß? sagte er. – Ich meine es so, sprach ich, daß Niemand mit dem Eigentlichsten und betreffs des Eigentlichsten, was ihm gehört, freiwillig täuschen will, sondern es am meisten von Allem fürchtet, in jenem eine Täuschung mit sich herumzutragen. – Auch jetzt noch verstehe ich es nicht, sagte er. – Du meinst nemlich wohl, sprach ich, daß ich hiemit etwas gar Großartiges sage; ich sage aber ja nur, daß, wenn man in seiner eigenen Seele betreffs des Seienden täuscht und getäuscht ist und unwissend ist und dort selbst die Täuschung hat und mit sich herumträgt, dieß wohl Alle am wenigsten sich gefallen ließen und zumeist an Derartigem hassen würden. – Ja, bei Weitem, sagte er. – Nun aber möchte ja am richtigsten das, was ich jetzt gerade sagte, eben eine wahrhafte Täuschung genannt werden, nemlich die Unwissenheit des Getäuschten in seiner eigenen Seele selbst, da ja dasjenige, was in der Rede enthalten ist, nur irgend eine Nachahmung eines Vorganges in der Seele und ein späteres Abbild desselben, nicht aber selbst schon eine völlig unvermischte Täuschung ist; oder ist es nicht so? – Ja, allerdings wohl. –

21. Die wirkliche Täuschung demnach wird nicht bloß von Göttern, sondern auch von Menschen gehaßt. – So scheint es mir. – Wie aber nun? ist die in den Reden liegende Täuschung wohl zuweilen auch irgend etwas Nützliches, so daß sie nicht hassenswerth ist? wird sie etwa nicht gegen die Feinde und gegen manche der sogenannten Freunde, wenn sie aus Wahnsinn oder irgend einem Unverstande etwas Schlimmes zu vollführen versuchenS. oben B. I, Cap. 6 das Beispiel von dem Wahnsinnigen, welcher seine Waffen zurückfordert., dann um der Abwendung willen wie eine Arznei etwas Nützliches? und machen wir denn nun nicht auch in jenen fabelhaftem Sagen selbst, von welchen wir jetzt sprachen, darum, weil mir betreffs der ältesten Dinge nicht wissen wie die Wahrheit stehe, nun durch möglichste Verähnlichung der Täuschung mit der Wahrheit dieselbe auf diese Weise wirklich zu einer nützlichen? – Ja, gar sehr, sagte er, verhält es sich so. – Nach welcher nun von diesen Beziehungen soll dem Gotte die Täuschung nützlich sein? sollte er etwa darum, weil er die ältesten Dinge nicht weiß, gleichfalls durch eine Verähnlichung eine Täuschung begehen? – Dieß wäre ja lächerlich, sagte er. – Ein solcher täuschender Dichter also ist im Gotte nicht vorhanden. – Mir scheint nicht. – Soll er aber etwa aus Furcht vor den Feinden eine Täuschung begehen? – Weit gefehlt. – Aber etwa wegen eines Unverstandes oder Wahnsinnes der ihm Befreundeten? – Es ist ja aber, sagte er, kein Unverständiger und Wahnsinniger ein Gottbefreundeter. – Also gibt es keinen Grund, um dessen willen Gott täuschen sollte. – Nein, es gibt es keinen. – Also in jeder Beziehung ist das DämonischeEs erinnert uns dieß von selbst auch an jenes Dämonion, dessen Sokrates sich häufig rühmte; s. hierüber m. Uebers. d. gr. Phil. S. 51 f. und Göttliche ohne Täuschung. – Ja, völlig wohl, sagte er. – Gar sehr also ist der Gott ein Einfaches und Wahres in That und Wort, und weder selbst verwandelt er sich, noch täuscht er Andere, weder in Truggebilden noch in Reden noch in Sendung von Zeichen, weder im Wachen noch im Traume. – So zeigt es sich, sagte er, nun auch mir selbst, während du sprichst. – Du gestehest also zu, sprach ich, daß dieß jenes zweite Gepräge sei, dem zufolge man über die Götter sprechen und dichten soll, daß nemlich dieselben weder Zauberer sind und sich selbst verwandeln können, noch auch uns durch Täuschungen in Wort oder That berücken? – Ich gestehe es zu. – Also während wir Vieles an Homeros loben, werden wir hingegen Solches nicht loben, wie nemlich die Sendung des Traumes durch Zeus an AgamemnonIm Anfange des II. Gesanges der Ilias., noch auch an Aeschylos, wenn dort Thetis sagt, Apollo habe bei ihrer Hochzeit gesungen:

                                    »er verleihe Kindersegen
und ein von Krankheit freies und langdauerndes Leben.
Und in Allem mein Geschick als gottgeliebt bezeichnend
sprach der Gott gnädige Worte, mich erfreuend;
und ich hoffte, des Phöbus göttlicher Mund sei täuschungslos,
sowie er von der Kunst des Wahrsagens überfließt;
er aber, der selbst jenes sang, der selbst beim Mahle war,
der selbst es sprach, er selbst ist es, der getödtet hat
meinen Sohn«Wahrscheinlich aus der für uns verlornen äschyleischen Tragödie »Psychostasia«..

Wann Jemand Derartiges betreffs der Götter sagt, werden wir ihm zürnen und für seine Tragödie ihm keinen Chor bewilligen, und auch nicht zulassen, daß die Lehrer Solches zur Bildung der jungen Leute benützen, woferne unsere Wächter gottesfürchtig und, soweit es einem Menschen nur irgend möglich ist, göttlich werden sollen. – Ja, durchaus, sagte er, gestehe ich dir diese zwei Arten des Gepräges zu, und würde sie als Gesetze in Anwendung bringen.


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