Platon
Plato's Staat
Platon

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10. Und es hatte Thrasymachos schon öfters, während wir noch sprachen, einen Anlauf genommen, in die Unterredung einzugreifen, und war dann immer nur von den neben ihm Sitzenden, welche die Unterredung zu Ende hören wollten, hieran gehindert worden; als wir aber eine Pause machten und ich jenes gesagt hatte, konnte er sich nicht mehr ruhig halten, sondern nachdem er wie ein wildes Thier sich gleichsam in einen Knäul zusammengeballt, kam er auf uns los, als wolle er uns zerreißen; und ich und Polemarchos stoben in Furcht auseinander. Er aber schrie zwischen uns Alle hinein: Was für ein Geschwätz, o Sokrates, beschäftigt euch schon die ganze Zeit hindurch, und welch ein einfältiges Beginnen treibt ihr unter euch, indem ihr euch gegenseitig demüthig vor einander auf den Boden werft? Hingegen woferne du in Wahrheit wissen willst, was das Gerechte sei, so frage nicht bloß und setze nicht deinen Ehrgeiz darein, Andere zu überführen, sobald Einer Etwas geantwortet hat, wobei du allerdings die Gewißheit hast, daß es leichter ist zu fragen als zu antworten, sondern antworte du auch selbst und gib an, was zufolge deiner Behauptung das Gerechte sei; und daß du mir dann nicht etwa sagest, daß es das Pflichtgemäße sei, und auch nicht, daß das Nützliche, und auch nicht daß das Vortheilhafte, und auch nicht daß das Gewinnbringende, und auch nicht daß das Zuträgliche, sondern deutlich und genau gib an, was du angibst, da ich es nicht werde gelten lassen, wenn du derartiges Gewäsche vorbringst. – Und ich erbebte, wie ich dieses hörte, und wenn ich auf ihn hinblickte, fürchtete ich mich, und ich glaube, daß wenn nicht eher ich ihn angeschaut hätte als er mich, ich sprachlos geworden wäre; nun aber blickte gerade in dem Zeitpunkte, als er durch das Reden in seine Wildheit versetzt wurde, zuerst ich ihn an, so daß ich im Stande war, ihm zu antworten,Es bezieht sich dieß auf den mannigfachen Aberglauben vom bannenden Blicke, bei welchem es namentlich darauf ankömmt, welcher von beiden Theilen dem anderen zuerst in's Auge blickt, denn dieser ist dann hiedurch im Vortheile. Verstummung galt auch schon bei den Alten als Folge des bösen Blickes, besonders seitens eines Wolfes oder Basilisken. und ich sprach noch zitternd: Thue uns kein Leid an; denn wenn wir, ich und dieser da, bei der Erwägung der Begründungen irren, so wisse wohl, daß wir unfreiwillig irren; du wirst nemlich doch wohl nicht glauben, daß wir einerseits, wenn wir Gold suchen würden, sicher nicht freiwillig bei dem Suchen uns vor einander auf den Boden werfen und hiedurch das Auffinden desselben vereiteln würden, andererseits aber, wenn wir die Gerechtigkeit suchen, ein Ding, was doch schätzenswerther als vieles Gold ist, wir dann so unverständig einander nachgeben und nicht alle Mühe anwenden würden, daß sie sich in so hohem Grade als möglich zeige. Du magst wohl glauben, mein Freund, daß dir sie sich gezeigt habe, aber, meine ich, uns fehlt die Kraft hiezu; bemitleidet werden also sollten wir billiger Weise weit eher von euch, den Gewandten, als daß ihr böse auf uns seid. –

11. Und wie jener dieses hörte, brach er in ein Hohngelächter aus und sagte: Beim Herakles, da haben wir wieder jene übliche Ironie des Sokrates, und ich wußte dieß von vorneherein und sagte diesen auch im Voraus, daß du überhaupt eben nicht werdest antworten wollen, sondern deine Ironie üben und kurz alles Andere eher thun, nur aber nicht antworten würdest, wenn man dich um Etwas frägt. – Ja, sagte ich, denn du bist ein Weiser, o Thrasymachos; und wohl also wußtest du, daß wenn du Jemanden fragst, wie viel Zwölf sei, und du bei der Frage ihm vorher schon ankündigest, »daß du, Mensch, mir dann nicht etwa sagest, daß Zwölf zweimal sechs sei, und auch nicht, daß dreimal vier, und auch nicht daß sechsmal zwei, und auch nicht daß viermal drei, da ich es nicht werde gelten lassen, wenn du derartiges schwätzest«, – klar also, meine ich, war dir, daß Niemand dir auf eine solche Frage antworten werde. Aber wenn jener zu dir sagen würde: »höre, Thrasymachos, was fällt dir ein? Ich soll Nichts von jenem, was du vorher ankündigtest, antworten? etwa, du Wunderlicher, auch dann nicht, wenn es wirklich eines von jenen ist, sondern soll ich dann etwas Anderes als die Wahrheit sagen? oder wie meinst du es denn?« –, was würdest du ihm auf dieses erwiedern? – Nur fort so, sagte er; gerade als ob dieß dem Obigen ähnlich wäre! – Es steht wenigstens Nichts im Wege, sagte ich; aber wenn also auch es nicht wirklich ähnlich ist, es aber dem Gefragten so zu sein scheint, glaubst du, er werde irgend minder das, was ihm scheint, antworten, mögen wir es ihm verbieten oder nicht. – Wirst also auch du, sagte er, auf diese Weise etwas Anderes thun? wirst du wirklich Etwas von demjenigen, was ich mir verbeten habe, mir antworten? – Es sollte mich eben nicht wundern, sagte ich, woferne nemlich in Folge einer Erwägung es mir so zu sein schiene. – Was aber nun? sagte er, wenn ich zeigen werde, daß es betreffs der Gerechtigkeit eine anderweitige Antwort als alle jene gibt, und zwar eine bessere als jene, was verlangst du dann, daß dir geschehe? – Was Anderes, sagte ich, als was gebührend dem Nichtwissenden geschieht; es gebührt aber doch wohl, daß er von dem Wissenden lerne; und also auch ich verlange, daß mir dieß geschehe. – Ei du bist ja gar liebenswürdig, sagte er; aber außer dem Lernen bezahle auch Geld. – Nicht wahr wohl, wenn ich welches bekomme? erwiederte ich. – Aber du hast ja welches, sprach Glaukon; doch, was das Geld betrifft, o Thrasymachos, so magst du immerhin beginnen zu sprechen; denn wir sämmtliche werden dem Sokrates beisteuern. – Ja wohl, allerdings, meine ich, antwortete jener, damit ja Sokrates sein übliches Thun in's Werk setzen kann, nemlich er selbst Nichts antworte, aber wenn ein Anderer antwortet, er die Rede aufgreife und überführe. – Wie sollte ja aber auch, mein Bester, sagte ich, Jemand antworten, welcher erstens Nichts weiß und auch nicht behauptet, Etwas zu wissen, und welchem zweitens, falls er in solchem Betreffe auch nur eine Meinung hat, es von einem gar nicht verwerflichen Manne verboten ist, irgend Etwas von jenem zu sagen, was er dafür hält; hingegen weit eher ist es billig, daß du sprechest; denn du behauptest, es zu wissen und es angeben zu können. Thue es also nicht anders, sondern sei durch deine Beantwortung sowohl mir zu Gefallen, als auch enthalte diesem Glaukon da und den Uebrigen deinen Unterricht nicht bevor.

12. Nachdem ich aber dieses gesagt hatte, baten ihn sowohl Glaukon als auch die Uebrigen, es nicht anders zu thun. Und Thrasymachos hatte einerseits augenfällig eine Begierde, zu sprechen, um hiedurch Ruhm zu ärndten, weil er nemlich meinte, eine sehr schöne Beantwortung bereit zu haben; andrerseits aber zierte er sich eine Zeit lang mit einem Streite darüber, daß ich der Antwortende sein solle, zuletzt aber gab er nach und sagte: dieß demnach ist die Weisheit des Sokrates, daß er selbst nicht lehren, von den Anderen aber, bei ihnen herumgehend, lernen und zwar hiefür nicht einmal Dank erstatten will. – Daß ich zwar von den Anderen lerne, erwiederte ich, sagst du der Wahrheit gemäß, o Thrasymachos; aber was du da behauptest, daß ich keinen Dank erlege, ist unwahr; denn ich erlege jenen, welchen ich kann; ich kann aber nur Lob spenden, denn Geld habe ich nicht, daß ich aber jenes bereitwillig thue, wann mir Jemand richtig zu sprechen scheint, wirst du augenblicklich sehr genau erfahren, sobald du deine Beantwortung aussprichst; denn ich glaube wirklich, daß du richtig sprechen werdest. – So höre denn, sagte er; ich behaupte nemlich, das Gerechte sei nichts Anderes als das dem Stärkeren Zuträgliche. Aber warum spendest du denn kein Lob? Du wirst wohl eben nicht wollen. – Ja, wann ich es vorerst verstanden habe, sagte ich, was du hiemit meinest; bis jetzt nemlich weiß ich es noch nicht. Du behauptest, das dem Stärkeren Zuträgliche sei gerecht; und was meinst du denn wohl hiemit, o Thrasymachos? Du behauptest nemlich doch wohl nicht Folgendes, daß wenn der Pankratiast PolydamasPolydamas, ein geborner Thrakier, war einer der berühmtesten Athleten seiner Zeit; sein olympischer Sieg im Pankration fällt in d. J. 408 v. Chr.; zu dem Pankration übrigens gehörten folgende fünf gymnische Künste: der Faustkampf, das Ringen, der Wettlauf, das Springen, das Diskuswerfen. stärker als wir ist, und ihm für seinen Körper das Ochsenfleisch zuträglich ist, diese Speise dann auch für uns, die wir schwächer sind als er, zugleich zuträglich und gerecht sei. – Du bist unausstehlich, o Sokrates, sagte er, und du greifst es eben in jener Beziehung auf, in welcher du meinen Ausspruch am meisten mißhandeln kannst. – Keineswegs, mein Bester, erwiederte ich; sondern gib nur deutlicher an, was du meinst. – Weißt du dann etwa nicht, sagte er, daß von den Staaten die einen durch einen Gewaltherrscher, die anderen durch das Volk, die anderen durch die je Hervorragendsten regiert werden? – Wie sollte ich ja nicht es wissen? – Nicht wahr also eben dieses übt in jedem Staate seine Stärke aus, nemlich das je Herrschende? – Ja allerdings. – Es stellt aber ja jede Herrschaft die Gesetze im Hinblicke auf das ihr selbst Zuträgliche aus, nemlich die Volksherrschaft volkstümliche, die Gewaltherrschaft gewaltmäßige, und so auch die übrigen; nachdem sie dieselben aber aufgestellt, sprechen sie aus, daß dieses für die Beherrschten das Gerechte sei, nemlich das jenen selbst Zuträgliche, und sie bestrafen den dasselbe Uebertretenden als einen Widergesetzlichen und Unrechtthuenden. Dieß also ist es, mein Bester, was ich darunter meine, daß in sämmtlichen Staaten das Nämliche gerecht sei, nemlich das für die je bestehende Herrschaft Zuträgliche; diese Herrschaft aber ja übt ihre Stärke aus, und folglich ergibt sich, wenn man richtig schließt, daß überall das Nemliche gerecht sei, nemlich das dem Stärkeren Zuträgliche. – Jetzt, sagte ich, verstehe ich, was du meinst; zu verstehen aber, ob es wahr sei oder nicht, werde ich erst versuchen. Das Zuträgliche also nun hast auch du, o Thrasymachos, als Antwort betreffs des Gerechten ausgesprochen, und doch verbotest du es mir, dieß zu antworten; es ist aber denn nun auch noch das dem »Stärkeren« hinzugefügt. – Ja, vielleicht nur eine unbedeutende Hinzufügung. – Dieß ist noch nicht klar, ob nicht etwa auch eine bedeutende; hingegen das ist klar, daß wir erwägen müssen, ob du hierin Recht habest. Da nemlich ja auch ich zugestehe, daß das Gerechte wenigstens irgend ein Zuträgliches sei, du aber Etwas hinzufügst und behauptest, es sei das dem Stärkeren Zuträgliche, ich aber dieses nicht verstehe, so ist es demnach nun zu erwägen. – Erwäge nur, sagte er. –

13. Dieß soll geschehen, erwiederte ich. Und sage mir hiemit: Behauptest du nicht doch auch, daß es gerecht sei, den Herrschern zu gehorchen? – Gewiß. – Sind aber die Herrscher in den einzelnen Staaten von allem Irrthume frei, oder sind sie derartig, daß sie auch irren können? – Durchaus wohl sind sie so, daß sie auch irgend irren können. – Nicht wahr also, bei dem Bestreben, Gesetze aufzustellen, stellen sie die einen richtig, andere nicht richtig auf? – Ich glaube gewiß. – In richtiger Weise aber sie aufstellen, heißt also doch wohl das ihnen Zuträgliche aufstellen, in unrichtiger Weise aber wohl das ihnen Unzuträgliche? Oder wie meinst du es? – Eben so. – Dasjenige aber, was sie aufgestellt, müssen die von ihnen Beherrschten thun, und dieß ist das Gerechte? – Wie sollte es anders sein? – Nicht bloß also ist es gemäß deiner Begründung gerecht, das dem Stärkeren Zuträgliche zu thun, sondern auch im Gegentheile das nicht Zuträgliche zu thun. – Was sagst du da? sprach er. – Eben, was du sagst, wie mir wenigstens scheint. Laß es uns aber noch besser erwägen. Ist nicht zugestanden, daß die Herrscher, indem sie den Beherrschten irgend etwas zu thun gebieten, bisweilen von ihrem eigenen Besten abirren, es aber für die Beherrschten doch gerecht sei, es zu thun? Ist dieß nicht zugestanden? – Ja gewiß, glaube ich, sagte er. – Glaube demnach, sagte ich, daß hiemit auch die Vollziehung desjenigen, was den Herrschern und den Stärkeren nicht zuträglich ist, von dir als etwas Gerechtes zugestanden sei, wenn nemlich die Herrscher unfreiwillig etwas für sie selbst Schlimmes gebieten, für die Anderen aber es zufolge deiner Behauptung gerecht ist, das zu thun, was jene geboten haben. Muß also dann, o weisester Thrasymachos, nicht nothwendig es sich eben auf diese Weise ergeben, daß es gerecht sei, das Gegentheil von jenem zu thun, was du sagst? denn es wird hiemit den Schwächeren geboten, das den Stärkeren Unzuträgliche zu thun, – Ja bei Gott, o Sokrates, sprach Polemarchos; ganz deutlich ja ist es. – Ja besonders dann, sagte Kleitophon, das Wort nehmend, wenn du ihm Zeuge bist. – Und was bedarf es auch, erwiederte jener, eines Zeugen? Denn Thrasymachos selbst gesteht ja zu, daß die Herrschenden bisweilen etwas ihnen selbst Schlimmes gebieten, es aber für die Beherrschten gerecht sei, solches dann zu thun. – Ja, nemlich daß man dasjenige, o Polemarchos, was von den Herrschenden befohlen wird, vollziehe, dieß hat Thrasymachos als ein Gerechtes aufgestellt. – Ja, nemlich er hat auch, o Kleitophon, das dem Stärkeren Zuträgliche als das Gerechte aufgestellt; eben aber indem er dieß beides aufstellte, hat er zugestanden, daß hinwiederum zuweilen die Stärkeren das ihnen Unzuträgliche den Schwächeren und Beherrschten zum Vollzuge gebieten; in Folge dieser Zugeständnisse aber dürfte in nicht höherem Grade das dem Stärkeren Zuträgliche ein Gerechtes sein, als das jenem nicht Zuträgliche. – Aber, sagte Kleitophon, unter dem dem Stärkeren Zuträglichen meinte er dasjenige, wovon der Stärkere glaubt, daß es ihm zuträglich sei; dieß nemlich müsse der Schwächere thun, und dieß stellte er als das Gerechte auf. – Aber so, sprach Polemarchos, wurde es vorhin nicht ausgedrückt. – Es macht dieß, o Polemarchos, sagte ich, keinen Unterschied, sondern wenn Thrasymachos es jetzt auf diese Weise meint, so wollen wir es uns auf diese Weise von ihm gefallen lassen.

14. Und sage mir hiemit, o Thrasymachos, war es dieß, was du unter dem Gerechten verstanden wissen wolltest, nemlich das dem Stärkeren Zuträgliche, inwieferne es dem Stärkeren ein solches zu sein scheint, mag es dabei wirklich zuträglich sein oder nicht? Sollen wir sagen, daß du es so meinst? – Nein, durchaus nicht, sagte er; oder glaubst du, daß ich einen Stärkeren den Irrenden nenne, wann er irrt? – Ja, erwiederte ich, ich wenigstens glaubte, du meinest dieses, als du zugestandest, daß die Herrschenden nicht frei von allem Irrthume seien, sondern irgend auch irren. – Du bist ja ein Wortverdreher, o Sokrates, sagte er, in deinen Reden, denn alsogleich wirst du auf diese Weise denjenigen einen Arzt nennen, welcher betreffs der Kranken irrt, und zwar gerade in jener Beziehung, in welcher er irrt, oder einen Rechner denjenigen, welcher in einer Rechnung irrt, gerade dann, wann er irrt, und zwar in Bezug auf eben diesen Irrthum. Hingegen ja, glaube ich, sprechen wir wohl dem Wortausdrucke nach so, daß der Arzt irrte, und daß der Rechner irrte, und daß der Schreiber; aber, glaube ich, ein jeder von diesen irrt niemals, insoweit er eben wirklich dasjenige ist, als was wir ihn bezeichnen. Folglich wird nach dem genauen Begriffe, da ja auch du die Begriffe genau nimmst, keiner unter den Werkmeistern irren; denn indem ein Wissen ihn im Stiche läßt, irrt der Irrende, wobei er eben dann nicht Werkmeister ist. Folglich irrt kein Werkmeister oder kein Weiser oder kein Herrscher gerade dann, wann er Herrscher ist; hingegen Jedweder wohl würde sich so ausdrücken, daß der Arzt irrte, und daß der Herrscher irrte. Derartiges also nun nimm jetzt an, daß auch ich dir antworte; hingegen das Genaueste ist eben jenes, daß der Herrscher, so weit er Herrscher ist, nicht irrt, aber als ein nicht Irrender dasjenige aufstellt, was für ihn das Beste ist, dieß aber der Beherrschte thun müsse. Folglich, wie ich schon zu Anfang sagte, bezeichne ich als gerecht das dem Stärkeren Zuträgliche. –

15. Nur weiter, o Thrasymachos, sagte ich; scheine ich dir wirklich ein Wortverdreher zu sein? – Ja wohl, gar sehr, erwiederte er. – Glaubst du nemlich, daß ich mit Hinterlist in meinen Reden böswillig verfuhr und dich fragte, um was ich dich eben fragte? – Ja ich weiß es sogar sehr wohl, sagte er; und es soll dir dieß wenigstens Nichts weiter mehr nützen; denn weder wird es mir entgehen, wenn du böswillig verfährst, noch auch wirst du wohl, insoferne es mir nicht entgeht, mich durch das, was du sagst, wider meinen Willen zu einer anderen Ansicht zwingen können. – Dieß möchte ich aber, o du Hochzupreisender, ja auch nicht einmal versuchen, sprach ich; aber damit uns nicht noch einmal ein derartiger Zwischenfall begegne, so stelle du nun fest, in welcher von den zwei Bedeutungen du hiebei den Herrschenden und den Stärkeren verstehest, ob nemlich jener, wie man es gewöhnlich so sagt, oder ob der nach dem genauen Begriffe, wie du jetzt eben sagtest, es sei, für welchen als den Stärkeren das ihm Zuträgliche in Folge der Gerechtigkeit der Schwächere thun müsse. – Jener, sagte er, welcher nach dem genaueren Begriffe der Herrscher ist; auf dieß hin nun verfahre böswillig und verdrehe die Worte, wenn du kannst; von dir erbitte ich mir gar keine Schonung; aber du wirst eben kurzweg nicht können. – Ja glaubst du denn, sprach ich, ich sei so wahnsinnig, daß ich etwa versuche, einen Löwen zu scheerenSprüchwörtliche Redensart für fruchtloses Beginnen, wie z. B. auch »einen Mohren waschen« oder »einen Ziegelstein waschen«. und einen Thrasymachos durch Wortverdrehungen zu überlisten? – Jetzt wenigstens aber, sagte er, hast du es versucht, und zwar noch dazu im Zustande deiner Nichtigkeit. – Genug nun der derartigen Worte, erwiederte ich; hingegen sage mir: ist jener Arzt, der es dem genauen Begriffe nach ist, und von welchem du eben sprachst, ein Gelderwerber oder ein Pfleger der Kranken? und daß du dabei ja von einem Arzte sprechest, welcher es in Wirklichkeit ist. – Ein Pfleger der Kranken, sagte er, ist er. – Wie aber beim Steuermanne? ist der eigentliche Steuermann ein Herrscher der Seefahrer oder ein Seefahrer? – Ein Herrscher der Seefahrer. – Nicht ja, glaube ich, ist jenes dabei in Anschlag zu bringen, daß er in dem Schiffe zur See fährt, und er darf darum nicht Seefahrer genannt werden, denn nicht bezüglich des Seefahrens wird er Steuermann genannt, sondern bezüglich seiner Kunst und seiner Herrschaft über die Seefahrer. – Du hast Recht, sagte er. – Nicht wahr also, für einen jeden von jenen gibt es irgend etwas Zuträgliches? – Ja wohl, durchaus. – Besteht nicht auch, sagte ich, die Kunst eben dazu von Natur aus, daß sie das einem jeden Zuträgliche suche und herbeischaffe? – Ja, eben dazu, sagte er. – Gibt es also nun auch für eine jede der Künste wieder irgend etwas anderes Zuträgliches, dessen sie noch bedarf, oder genügt eine jede schon selbst sich selbst, so daß sie so sehr als möglich eine vollkommene ist? – Wie meinst du diese Frage? – Gerade so, erwiederte ich, wie, falls du mich fragen würdest, ob dem Körper es schon genüge, Körper zu sein, oder ob er noch irgend etwas bedürfe, ich dann antworten würde: durchaus bedarf er noch Etwas, und darum ist auch die Arzneikunst jetzt erfunden, weil der Körper etwas Unkräftiges ist, und es ihm noch nicht genügt, eben bloß ein solcher zu sein; dazu also, daß sie ihm das Zuträgliche verschaffe, wurde diese Kunst eingerichtet. Scheine ich dir etwa hierin Recht zu haben oder nicht, wenn ich so spreche? – Ja, Recht zu haben, sagte er. – Wie aber nun? ist die Arzneikunst selbst gleichfalls etwas Unkräftiges, oder ist überhaupt irgend eine andere Kunst noch einer anderweitigen Tüchtigkeit bedürftig, wie etwa die Augen des Sehens und die Ohren des Hörens bedürftig sind, und darum bei ihnen irgend eine Kunst nothwendig ist, welche das hiefür Zuträgliche erwägt und herbeischafft? wohnt also wirklich auch der Kunst selbst eine solche Kraftlosigkeit ein, und bedarf eine jede Kunst erst noch einer anderweitigen Kunst, welche für sie das Zuträgliche erwägen wird, und diese Kunst des Erwägens dann wieder einer anderen derartigen, und geht dieß in's Unbegränzte so fort? oder erwägt sie selbst für sich selbst das Zuträgliche? oder bedarf sie weder ihrer selbst noch einer anderweitigen zur Abhilfe gegen ihre Kraftlosigkeit, um das Zuträgliche zu erwägen? wohnt nemlich wirklich keiner Kunst weder irgend eine Kraftlosigkeit noch irgend ein Irrthum ein, und gebührt es sich auch für die Kunst überhaupt nicht, daß sie für irgend etwas Anderweitiges das Zuträgliche suche, als eben für jenes, dessen Kunst sie ist, sondern ist sie wirklich in sich selbst als eine richtige Kunst unversehrt und lauter, so lange nemlich eine jede in Genauigkeit ganz jene ist, welche sie ist? Und erwäge dieß also nach jenem genauen Begriffe, ob es sich wirklich so oder etwa anders verhalte. – Eben so, sagte er, zeigt sich's. – Nicht also, sagte ich, erwägt eine Arzneikunst für eine Arzneikunst das Zuträgliche, sondern für einen Körper. – Ja, sagte er. – Und also auch nicht eine Pferde-Kunde für eine Pferde-Kunde, sondern eben für die Pferde; und also erwägt auch keine andere Kunst es für sich selbst, denn sie bedarf dieß nicht erst noch, sondern eben für jenes, dessen Kunst sie ist? – Ja, es zeigt sich so, sagte er. – Nun aber, o Thrasymachos, herrschen ja die Künste über jenes, dessen Künste sie sind, und üben auf dasselbe ihre Stärke aus. – Er machte auch hierin das Zugeständniß, und zwar sehr mit Noth. – Also keine Wissenschaft erwägt oder gebietet das dem Stärkeren Zuträgliche, sondern das dem Schwächeren und von ihr Beherrschten Zuträgliche. – Er gab zuletzt auch dieses noch zu, versuchte aber, betreffs desselben zu streiten. – Jedoch nachdem er es zugegeben hatte, sprach ich: Verhält sich's also etwa anders, als daß auch ein Arzt, insoweit er Arzt ist, nicht das dem Arzte Zuträgliche erwägt oder gebietet, sondern das dem Kranken? Denn zugegeben ist, daß der eigentliche Arzt ein Beherrscher der Körper, nicht aber ein Gelderwerber ist. – Er bejahte es. – Nicht wahr also auch, daß der Steuermann im eigentlichen Sinne ein Beherrscher der Seefahrer, nicht aber ein Seefahrer ist? – Ja, zugegeben ist dieß. – Nicht also wird der derartige Steuermann und Herrscher das dem Steuermanne Zuträgliche erwägen und gebieten, sondern das dem Seefahrer und Beherrschten. – Er bejahte es mit Noth. – Nicht wahr also, o Thrasymachos, sagte ich, auch kein Anderer in irgend einer Herrschaft wird, insoweit er eben Herrscher ist, das für ihn selbst Zuträgliche erwägen oder gebieten, sondern das für den Beherrschten und für denjenigen Zuträgliche, welchem er selbst der Werkmeister ist; und indem er auf jenes und das für dieses Zuträgliche und Geziemende sieht, wird er sowohl Alles sagen, was er sagt, als auch Alles thun, was er thut.

16. Nachdem wir also bei diesem Punkte unserer Begründung angekommen waren, und es Allen augenfällig war, daß der Begriff des Gerechten in das Gegentheil des vorigen sich verwandelt hatte, sprach Thrasymachos, anstatt zu antworten: Sage mir, o Sokrates, hast du eine Amme? – Wie so? sagte ich. Hättest du nicht vielmehr antworten, als eine derartige Frage stellen sollen? – Weil sie, sagte er, es übersieht, wenn du eine rotzige Nase hast, und dich nicht schneuzt, wenn du es brauchst, der du ja von ihr aus nicht einmal Schaf und Hirt auseinander kennst. – In wieferne denn eigentlich? sagte ich. – Weil du glaubst, daß die Schäfer oder Rinderhirten das Beste der Schafe oder der Rinder erwägen und dieselben mästen und pflegen, indem sie hiebei auf etwas Anderes sähen als auf das Beste ihrer Herrn und ihrer selbst, und weil du so denn auch von den Herrschern in den Staaten, welche in Wahrheit herrschen, glaubst, daß sie anders gegen die Beherrschten gesinnt seien, als Jemand etwa auch gegen Schafe gesinnt sein dürfte, und daß sie irgend etwas Anderes Tag und Nacht hindurch erwägen, als nur, woher sie selbst Vortheil erhalten möchten. Und so weit noch bist du betreffs des Gerechten und der Gerechtigkeit und des Ungerechten und der Ungerechtigkeit vom Ziele entfernt, daß du nicht einmal verstehst, daß wirklich die Gerechtigkeit und das Gerechte ein fremdes Gut, nemlich das dem Stärkeren und Herrschenden Zuträgliche, ist, selbst aber für den Gehorchenden und Dienenden nur ein Schaden ist, die Ungerechtigkeit hingegen auch wirklich über die in Wahrheit Einfältigen und Gerechten herrscht, die Beherrschten aber dabei nur das jenem als dem Stärkeren Zuträgliche thun, und jenen, indem sie ihm dienen, zu einem Glücklichen machen, sich selbst aber in keinerlei Weise. Erwägen aber muß man, o einfältigster Sokrates, in dieser Weise, daß ein gerechter Mann gegen einen ungerechten überall den Kürzeren zieht; erstens in dem gegenseitigen Verkehre wirst du, wo nur ein Solcher mit einem Solchen in Gemeinschaft trat, nirgends finden, daß bei der Auflösung der Gemeinschaft der Gerechte Mehr habe als der Ungerechte, sondern eben Weniger; ferner wird, was die Verhältnisse zum Staate betrifft, sowohl wenn es sich um Beisteuer handelt, von gleichem Vermögen der Gerechte mehr, der Ungerechte aber Weniger beisteuern, als auch wenn um Einnahmen, der Eine Nichts, der Andere aber Vieles gewinnen; denn wenn ein jeder von beiden ein Amt führt, so wird dem Gerechten, wenn auch keine andere Einbuße, so doch diese sich ergeben, daß seine eigenen Verhältnisse in Folge einer Vernachlässigung schlechter stehen, er aber von dem Staate eben keinen Vortheil zieht, weil er ja gerecht ist, und außerdem auch noch mit seinen Verwandten und Bekannten sich verfeindet, wann er ihnen nicht wider das Recht Dienste erweisen will. Hingegen für den Ungerechten ergibt sich von all diesem das Gegentheil; denn ich meine hiebei denjenigen, von welchem ich eben jetzt sprach, nemlich jenen, welcher seiner Unersättlichkeit Genüge zu thun fähig ist. Von diesem also erwäge es, woferne du beurtheilen willst, um wie viel mehr es ihm persönlich zuträglich sei, ungerecht zu sein, als gerecht zu sein; von Allem aber am leichtesten wirst du es einsehen, wenn du dich zu jener vollendetsten Ungerechtigkeit wendest, welche den Unrechtthuenden zum glücklichsten, diejenigen aber, welche solches Unrecht erleiden und selbst nicht Unrecht thun wollen, zu den unglücklichsten macht. Es ist aber dieß die Gewaltherrschaft, welche nicht etwa bloß allmälig das Fremde sowohl heimlich als auch durch Gewaltthat, mag es unter Tempel-Schutz oder unter Rechts-Schutz stehen, oder mag es Privat- oder öffentliches Gut sein, hinwegnimmt, sondern gleich Alles zumal; wann nemlich im Einzelnen in diesen Dingen Jemand Unrecht thut und hiebei entdeckt wird, so wird er bestraft und trägt die größte Schande, denn Tempelräuber und Seelenverkäufer und Räuber und Plünderer und Diebe heißt man jene, welche im Einzelnen durch eine derartige böse That Unrecht thun; hingegen wann Jemand neben dem Vermögen der Bürger auch noch diese selbst zu Sklaven macht und knechtet, so werden sie nicht mit jenen schändlichen Namen, sondern glückliche und selige genannt, und zwar nicht bloß von jenen Bürgern selbst, sondern auch von allen denjenigen, welchen es kund wird, daß Einer vermöge der umfassenden Ungerechtigkeit Unrecht gethan hat; denn nicht aus Furcht vor dem Ausüben des Unrechtes, sondern aus Furcht vor dem Erleiden desselben schmähen diejenigen die Ungerechtigkeit, welche sie schmähen. Auf diese Weise, o Sokrates, ergibt sich hinreichend, daß etwas Kräftigeres und Freieres und Herrischeres die Ungerechtigkeit ist, als die Gerechtigkeit, und, was ich zu Anfang sagte, das dem Stärkeren Zuträgliche ist das Gerechte, das Ungerechte aber ist ein für sich selbst Gewinnbringendes und zuträgliches. –

17. Nachdem Thrasymachos dieses gesprochen hatte, war er Willens fortzugehen, indem er gleichsam wie ein Bademeister über unsere Ohren herab aus einem Schöpfeimer seine gesammte und ausgiebige Rede gegossen hatte; nicht jedoch ließen dieß die Anwesenden zu, sondern nöthigten ihn, auszuharren und über das Gesagte Rechenschaft zu geben. Und auch ich selbst denn bat ihn sehr und sprach: O wunderlicher Thrasymachos, welche Rede doch hast du da hereingeschleudert und bist jetzt Willens, fortzugehen, noch ehe du hinreichend uns gelehrt oder selbst gelernt hast, ob es sich wirklich so oder anders verhalte; oder glaubst du, du habest die Feststellung eines kleinen Dinges unternommen, und nicht die der gesammten Führung des Lebens, vermöge deren wohl ein Jeder von uns das vorteilhafteste Leben durchleben könnte? – Glaube denn etwa ich, sagte Thrasymachos, daß dem nicht so sei? – Du scheinst ja, erwiederte ich, entweder um uns dich gar nicht zu bekümmern, oder auch das nicht zu beachten, ob wir in Folge der Unwissenheit über jenes, was du zu wissen behauptest, schlechter oder besser unser Leben führen werden. Zeige dich aber hingegen, mein Guter, bereitwillig, auch uns jenes vorzuführen, denn wahrlich nicht schlecht soll die Wohlthat bewahrt bleiben, welche du uns, die wir so viele sind, hiedurch erweisen wirst. Ich nemlich sage dir hiemit denn auch meinerseits, daß ich mich nicht davon überzeugen und es nicht glauben kann, daß die Ungerechtigkeit gewinnbringender als die Gerechtigkeit sei, auch dann nicht, wenn man sie gewähren läßt und nicht daran hindert, zu verfahren, wie sie nur will; sondern, mein Guter, gesetzt auch, es sei Einer ungerecht und habe auch die Fähigkeit, Unrecht zu thun, indem er entweder nicht entdeckt wird oder in offenem Kampfe es durchsetzt, so wird er dennoch mich wenigstens nicht davon überzeugen, daß dieß gewinnbringender als die Gerechtigkeit sei. Ebenso also ergeht es vielleicht auch manchem Anderen unter uns, nicht bloß mir allein; also überzeuge uns, o du Hochzupreisender, davon, daß wir nicht richtig berathen sind, wenn wir die Gerechtigkeit höher als die Ungerechtigkeit schätzen. – Und wie soll ich, sagte er, dich überzeugen? denn wenn du durch dasjenige, was ich so eben gesagt habe, nicht überzeugt worden bist, was soll ich mit dir noch weiter anfangen? oder soll ich dir etwa meine Begründung in die Seele selbst hineintragen und dort sie niederlegen? – Nein, bei Gott, sagte ich, du wenigstens sicher nicht. Hingegen erstens bleibe nur bei jenem, was du sagst, fest stehen, oder wenn du es anders wendest, so wende es in augenfälliger Weise anders, und täusche uns nicht. Nun aber siehst du ja, o Thrasymachos, – wir wollen nemlich noch immer das Vorhergehende erwägen –, daß, nachdem du zuerst den Begriff des wahren Arztes festgestellt, du bei dem des wahren Hirten später es nicht mehr genau einhalten zu müssen glaubtest, sondern der Meinung warst, er müsse, insoweit er ein Hirt ist, die Schafe nicht im Hinblicke auf das Beste der Schafe hüten, sondern wie ein Esser und wie Jemand, welcher ein Mahl geben will, im Hinblicke auf üppigen Genuß, oder auch hinwiederum im Hinblicke auf das Verkaufen, wie ein Gelderwerber, eben nicht aber wie ein Hirt. Die Kunst des Hirten aber kümmert sich doch wohl nicht um etwas Anderes, als daß sie für dasjenige, wofür sie aufgestellt ist, das Beste herbeischaffe, da ja, was ihr eigenes bestes Sein betrifft, doch wohl schon hinreichendes herbeigeschafft ist, so lange sie nur es daran nicht fehlen läßt, daß sie eben die Kunst des Hirten ist. So aber glaubte wenigstens ich, daß jetzt wir es nothwendig auch bezüglich einer jeden Herrschaft zugestehen müssen, daß, insoweit sie herrscht, sie für nichts Anderes das Beste erwägt als für das von ihr Beherrschte und Gepflegte, sowohl in der staatlichen als auch in der von Einzelnen geübten Herrschaft. Du aber nun, glaubst du von den Herrschern in den Staaten, nemlich von den wahrhaft Herrschenden, daß sie freiwillig herrschen? – Bei Gott, sagte er, ich glaube es nicht bloß, sondern ich weiß es gewiß. –


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