Platon
Plato's Staat
Platon

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Zweites Buch.

1. Ich glaubte nun, nachdem ich dieß gesprochen, einer weiteren Begründung überhoben zu sein, es war aber, wie es scheint, das Bisherige nur die Einleitung zu derselben; denn Glaukon, welcher auch sonst immer zu Allem den meisten Muth hat, ließ sich denn nun auch damals jenes freiwillige Zurücktreten des Thrasymachos nicht gefallen, sondern sagte: Ist deine Absicht, o Sokrates, dir bloß den Schein zu geben, als hättest du uns schon überzeugt, oder ist deine Absicht, uns wirklich erst noch zu überzeugen, daß in jeder Weise es besser sei, gerecht zu sein, als ungerecht? – Euch wirklich zu überzeugen, sprach ich, würde ich wenigstens wohl vorziehen, wenn es bei mir stünde. – Du thust demnach nicht, was deine Absicht ist. erwiederte er; denn sage mir: Scheint es dir etwa irgend ein derartiges Gut zu geben, welches wir gerne besitzen möchten, ohne hiebei seine weiteren Folgen zu verlangen, sondern wobei wir nur es selbst um seiner selbst willen lieben, wie z. B. die Freude und die unschädlichen Vergnügungen derartig sind, wann auch für die kommende Zeit durch dieselben gar Nichts weiter erwächst, als daß eben sich freut, wer sie hat? – Ja mir wenigstens, sagte ich, scheint es irgend ein Derartiges zu geben. – Was weiter? auch ein solches, welches wir sowohl um seiner selbst willen, als auch um dessen willen, was aus ihm erwächst, gerne wünschen, wie z. B. hinwiederum das Nachdenken und das Sehen und das Gesundsein; denn derartiges lieben wir doch wohl aus beiden Gründen? – Ja, sagte ich. – Siehst du aber auch eine dritte Art des Guten, sagte er, zu welcher die Leibesübung und die Krankenpflege und die ärztliche Thätigkeit und der Gelderwerb überhaupt gehört? von Solchem nemlich würden wir wohl sagen, daß es uns nützt, und um seiner selbst willen möchten wir es wohl nicht gerne besitzen, wohl aber um des Lohnes und der übrigen Dinge willen, welche aus ihm erwachsen. – Ja wohl, sagte ich, gibt es auch diese dritte Art; aber was soll's hiemit? – Zu welcher von diesen, sagte er, rechnest du die Gerechtigkeit? – Ich glaube, erwiederte ich, zu jener schönsten, welche sowohl um ihrer selbst willen, als auch um dessen willen, was aus ihr erwächst, derjenige gerne wünschen muß, welcher glückselig sein will. – Nicht jedoch, sagte er, scheint sie auch der Menge dahin zu gehören, sondern eher zu jener mühevollen Art, welche man um des Lohnes und um des in der allgemeinen Meinung beruhenden Ruhmes willen anstreben, um ihrer selbst willen aber als etwas Lästiges meiden soll. –

2. Ich weiß, sagte ich, daß sie den Leuten dahin zu gehören scheint, und längst ja auch schon wird sie von Thrasymachos als ein Derartiges getadelt, die Ungerechtigkeit hingegen gelobt; aber ich bin eben, wie es scheint, etwas schwerfällig im Verstehen. – So komm denn nun, sagte er, und höre auch mich, ob du etwa die nemliche Meinung habest. Thrasymachos nemlich scheint mir etwas voreiliger, als es hätte sein sollen, gleichsam wie eine Schlange von dir durch Zauber gebannt worden zu sein, hingegen für mich ist der Nachweis betreffs jener beiden Begriffe noch nicht so recht nach meinem Sinne geliefert worden; denn ich wünsche zu hören, was jedes von jenen beiden sei und welche Geltung, wenn es in der Seele sich findet, es an und für sich habe, dabei aber eben den Lohn und das aus ihnen Erwachsende bei Seite zu lassen. Ich werde es also folgendermaßen machen, woferne es auch dir so dünkt; ich werde die Begründung des Thrasymachos erneuern und erstens angeben, wie beschaffen nach der Behauptung der Leute die Gerechtigkeit sei und woher sie entstanden sei, zweitens daß Alle, welche das Gerechte betreiben, es unfreiwillig als eine Nothwendigkeit und nicht als ein Gut betreiben, und drittens daß sie dieß aus guten Gründen thun, denn viel besser also ja ist das Leben des Ungerechten, als jenes des Gerechten, wie Jene sagen; nemlich mir wenigstens, o Sokrates, scheint es keineswegs so zu sein; jedoch fühle ich mich rathlos, wenn mir die Ohren voll sind von jenem, was ich von Thrasymachos und tausend Anderen höre; die Begründung aber zu Gunsten der Gerechtigkeit, daß nemlich dieselbe besser sei, als die Ungerechtigkeit, habe ich noch von Keinem so gehört, wie ich sie wünsche, ich wünsche aber dieselbe an und für sich gepriesen zu hören; am ehesten aber glaube ich solches von dir vernehmen zu können. Darum also werde ich meiner Rede den Lauf lassen und das ungerechte Leben loben, hernach aber, wenn ich gesprochen habe, dir zeigen, in welcher Weise hinwiederum ich von dir die Ungerechtigkeit getadelt und die Gerechtigkeit gelobt hören möchte. Sieh aber zu, ob bei dem, was ich eben sagte, auch dein Wille sei. – Im höchsten Grade von Allem, sagte ich; denn über welchen Gegenstand möchte ein verständiger Mensch in höherem Maße gerne sprechen und Gesprochenes hören? – Vortrefflich, sagte er, sprichst du da. – Und so höre denn nun betreffs dessen, was ich zuerst angeben zu wollen sagte, nemlich was wohl nach der Meinung der Leute und woher entstanden die Gerechtigkeit sei. Sie behaupten nemlich, von Natur aus sei das Unrechtthun ein Gut, das Unrechterleiden aber ein Uebel, dabei aber überwiege an der Menge des Uebels das Unrechtleiden noch weit über die Menge des Guten beim Unrechtthun, und nachdem nun die Menschen wechselseitig Unrecht thun und Unrecht erleiden und beides zu kosten bekommen, so scheine es folglich denjenigen, welche nicht fähig sind, dem einen hievon zu entgehen und das andere zu wählen, gewinnbringend, gegenseitig einen Vertrag zu machen, daß man weder Unrecht thun, noch Unrecht erleiden solle. Und von da an denn nun habe man begonnen, Gesetze und wechselseitige Verträge aufzustellen, und man habe das von dem Gesetze Gebotene sowohl ein Gesetzmäßiges, als auch ein Gerechtes genannt. Und dieß demnach sei die Entstehung und das Wesen der Gerechtigkeit, daß sie ein Mittleres sei zwischen jenem besten Falle, in welchem der Unrechtthuende straflos wäre, und jenem schlimmsten, in welchem der Unrechterleidende sich nicht rächen könnte; das Gerechte aber werde als ein Mittelding zwischen diesen beiden gerne gewünscht, nicht etwa weil es ein Gut sei, sondern weil man es wegen der Unfähigkeit des Unrechtthuns schätze, denn derjenige, welcher die Fähigkeit habe, Unrecht auszuüben und in Wahrheit ein Mann sei, werde niemals mit irgend Jemanden jenen Vertrag eingehen, weder Unrecht zu thun, noch Unrecht zu erleiden, denn wahnsinnig wäre es ja dann. Die Natur nun also der Gerechtigkeit, o Sokrates, ist diese und eine derartige, und die natürliche Quelle ihres Entstehens eben eine derartige, wie nemlich die Leute sagen.

3. Daß aber auch diejenigen, welche das Gerechte betreiben, nur aus Unfähigkeit des Unrechtthuns es unfreiwillig betreiben, möchten wir wohl am ehesten bemerken, wenn wir in Gedanken Folgendes veranstalten würden: wir würden nemlich jedem von beiden, sowohl dem Gerechten, als auch dem Ungerechten, volle Freiheit verleihen, zu thun, was jeder wolle, und dann würden wir ihnen zuschauend folgen, wohin jeden von Beiden die Begierde führen werde. Auf frischer That nun würden wir wohl den Gerechten ertappen, daß er den nemlichen Weg wie der Ungerechte in Folge der Unersättlichkeit gehe, denn dieß ist es, was als ein Gut jedwede Natur an sich zu verfolgen bestimmt ist, nur aber durch Gesetz und Gewalt wird jede zur Beachtung des Gleichmaßes hingelenkt. Es möchte aber wohl jene volle Freiheit, von welcher ich spreche, zumeist eine derartige sein, wenn ihnen jene Fähigkeit erwüchse, von welcher man sagt, daß sie einstens dem Sohne des Gyges, dem Vorfahren des LyderkönigesWer will es dem Plato oder jener historischen Mythe, aus welcher dieser schöpfte, verwehren, wenn hier jener bekannte Besitzer des unsichtbar machenden Ringes nicht Gyges selbst, sondern der Sohn eines Gyges heißt (wornach wahrscheinlich jener Leichnam in der Höhle kein anderer, als eben der seines Vaters war); denn die von Plato abweichende Erzählung bei Herodot (I, 8) wird man doch hoffentlich nicht zum Maßstabe nehmen wollen; alle übrigen späteren Berichte aber schöpfen entweder aus Plato oder aus Herodot. Letzterer nun erzählt die Sache folgendermaßen: der lydische König Kandaules hatte eine ausnehmend schöne Frau, und er glaubte seinen Vertrauten, welcher Gyges hieß, nur dadurch von der Schönheit derselben überzeugen zu können, daß er ihm Gelegenheit gab, sie in ihrem Schlafgemache entkleidet zu sehen; die Frau jedoch, welche den Neugierigen ertappte, ließ demselben nur die Wahl, entweder zu sterben oder den Kandaules zu tödten und als ihr Gemahl König von Lydien zu werden. Gyges entschied sich für letzteres und bestieg nach Ermordung des Kandaules den Thron von Lydien und ward Gründer jener Dynastie, deren letzter König Krösus war (dieser letztere ist auch hier unter der Bezeichnung der »Lyderkönig« gemeint. Wer aber irgend historischen Sinn hat, sieht hiemit ein, daß bei Plato und Herodot entweder zwei völlig verschiedene Erzählungen vorliegen, oder daß die platonische ältere, welche wahrhaft mythisch ist, in den von Herodot benützten Quellen bereits eine Umsetzung in die Form sogenannter Geschichte erfahren hatte. Liegt aber auf diese Weise ein verschiedenartiger Stoff den beiden Berichterstattern zu Grunde, so fällt jede Nothwendigkeit hinweg, den Text der platonischen Worte so zu ändern, daß er mit Herodot übereinstimmt. – Uebrigens unten, X, 12, kömmt Plato wieder auf diesen Gyges-Ring zurück. erwachsen sei. Es sei nemlich derselbe als Hirt bei dem damaligen Herrscher von Lydien in Dienst gewesen, und in Folge eines heftigen Platzregens und Erdbebens habe sich die Erde gespalten und eine Schlucht sei an dem Orte, wo jener eben weidete, entstanden. Derselbe habe dieß gesehen, und voll Erstaunen sei er hinabgestiegen und habe dort sowohl viel anderes Wunderbare, von welchem die Sage erzählt, gesehen, als auch ein hohles ehernes Pferd mit Flügelthüren, durch welche er hineingeschlüpft sei und dann darinnen einen, wie es schien, mehr als mannesgroßen Leichnam erblickt habe; dieser aber habe nichts Weiteres an sich gehabt, als nur an der Hand einen goldenen Ring, welchen jener abgezogen und dann sich wieder entfernt habe. Als aber die gewöhnliche Zusammenkunft der Hirten, um dem Könige den monatlichen Bericht betreffs der Heerden zu melden, stattfand, sei auch jener mit seinem Ringe gekommen. Und wie er nun mit den Uebrigen dasaß, habe er eben zufällig den Stein des Ringes gegen sich zu in das Innere der Hand gekehrt; sobald aber dieß geschehen, sei er den neben ihm Sitzenden unsichtbar geworden, und dieselben hätten über ihn wie über einen Weggegangenen gesprochen. Und jener nun habe sich hierüber gewundert, und indem er verstohlens den Ring berührte, den Stein desselben wieder nach Außen gedreht, und er sei, sobald er ihn gedreht, wieder sichtbar geworden. Und als er dieß bemerkt hatte, habe er den Ring auf die Probe gestellt, ob derselbe wirklich diese Kraft habe, und stets sei es ihm so von Statten gegangen, daß er bei dem Einwärtsdrehen des Steines unsichtbar, beim Auswärtsdrehen aber sichtbar wurde. Sobald er aber dieß wahrgenommen, habe er sogleich es veranstaltet, daß er einer der königlichen Boten wurde; als er aber dorthin gekommen sei, habe er die Gemahlin des Königes zum Ehebruche verführt und in gemeinschaftlicher List mit jener den König getödtet und so die Herrschaft erlangt. Wenn es also nun zwei derartige Ringe gäbe, und den einen der Gerechte sich ansteckte, den anderen aber der Ungerechte, so dürfte wohl, wie es scheint, es keinen Einzigen geben, welcher so felsenfest wäre, um innerhalb der Gerechtigkeit zu verbleiben und es über sich zu gewinnen, von fremdem Gute sich zu enthalten und es nicht zu berühren, während er die Freiheit hat, sowohl auf dem öffentlichen Markt ungescheut, was ihm beliebt, wegzunehmen, als auch in die Häuser zu gehen und Beischlaf zu üben, mit wem es ihm beliebt, und zu tödten und aus dem Gefängnisse zu befreien, wen es ihm beliebt, und alles Uebrige zu vollführen, als ein den Göttern gleicher unter den Menschen. Indem er aber so handelte, würde er nichts Verschiedenes von jenem thun, was auch der anderweitige thut, sondern beide würden den nemlichen Weg gehen; und man möchte wohl sagen, daß dieß ein bedeutendes Kennzeichen dafür sei, daß Keiner freiwillig gerecht sei, sondern Jeder nur gezwungen, weil jenes für den Einzelnen eben nicht ein Gut sei, denn wo ein Jeder glaubt, im Stand zu sein, Unrecht zu thun, da thut er Unrecht; jeder Mann nemlich glaubt, daß für ihn als Einzelnen weit mehr die Ungerechtigkeit als die Gerechtigkeit gewinnbringend sei, und er meint dieß mit Recht, wie jeder sagt, welcher über die derartige Begründung spricht, denn woferne Jemand eine derartige volle Freiheit erlangt hätte und dann doch keinerlei Unrecht thun und fremdes Gut nicht berühren wollte, würde er denjenigen, welche dieß wahrnähmen, der unglücklichste und unverständigste Mensch zu sein scheinen, loben aber würden sie ihn allerdings gegenseitig einander in's Gesicht, indem sie sich aus Furcht, Unrecht zu erleiden, gegenseitig einander belügen würden. Dieß also denn nun verhält sich in dieser Weise.

4. Die Beurtheilung selbst aber des Lebens derjenigen, über welche wir sprechen, werden wir wohl richtig vorzunehmen im Stande sein, wenn wir den Gerechtesten und den Ungerechtesten auseinander halten, nicht hingegen, wenn wir jenes nicht thun. Wie also wollen wir sie auseinander halten? Folgendermaßen: wir wollen Nichts hinwegnehmen bei dem Ungerechten von der Ungerechtigkeit, und Nichts bei dem Gerechten von der Gerechtigkeit, sondern jeden von beiden bezüglich seines Bestrebens als einen vollendeten hinstellen. Erstens also der Ungerechte soll es machen wie die gewandten Werkmeister, wie nemlich ein hervorragender Steuermann oder Arzt sowohl das Unmögliche, als auch das Mögliche in seiner Kunst wohl auseinander kennt, und das eine hievon versucht, das andere aber unterläßt, und ferner auch, wenn er irgendwo fehlgegriffen, tüchtig genug ist, es wieder gut zu machen, ebenso bleibe auch der Ungerechte, wenn er richtige Versuche zum Unrechtthun macht, dabei unentdeckt, woferne es in hohem Grade ungerecht sein soll; jenen hingegen, welcher sich ertappen läßt, muß man für einen Verächtlichen halten, denn die äußerste Ungerechtigkeit ist eben, gerecht zu sein scheinen, während man es nicht ist. Verleihen also müssen wir dem in vollendeter Weise Ungerechten auch die vollendetste Ungerechtigkeit, und nicht dürfen wir etwas hinwegnehmen, sondern wir müssen es zulassen, daß er, während er das größte Unrecht verübt, die höchste öffentliche Meinung bezüglich seiner Gerechtigkeit sich verschafft habe, und, falls er in irgend Etwas fehlgegriffen, die Fähigkeit hat, es wieder gut zu machen, indem er tüchtig genug ist sowohl im Reden bezüglich des Ueberzeugens, falls eine seiner unrechten Thaten zur Anzeige gebracht wurde, als auch im Anwenden der Gewalt, wo es Gewalt bedarf, sei es durch Tapferkeit und Stärke, oder sei es durch Bereithalten von Freunden und von Geld. Nachdem wir aber diesen als einen derartigen aufgestellt haben, wollen wir in unserer Rede den Gerechten neben ihn stellen, als einen schlichten und edlen Mann, welcher nach des Aeschylos WortSieben gegen Theben, V. 577 ff., nemlich die zwei nächsten Verse führt Plato sogleich unten selbst an. »nicht gut scheinen, sondern gut sein will«. Hinwegnehmen demnach müssen wir von ihm das bloße Scheinen; denn woferne er gerecht zu sein scheinen würde, kämen ihm Ehren und Geschenke zu, weil er eben derartig zu sein schiene; ungewiß also wäre es, ob er um des Gerechten willen oder um der Geschenke und Ehren willen ein derartiger sei. Zu entblößen demnach ist er von Allem mit Ausnahme der Gerechtigkeit selbst, und gerade in dem entgegengesetzten Verhalten gegen den Vorigen ist er darzustellen. Nemlich er habe, während er kein Unrecht thut, die höchste öffentliche Meinung seiner Ungerechtigkeit, damit er bezüglich der Gerechtigkeit ein Erprobter sei, daß nemlich dieselbe in Folge übler Meinung und des hieraus Erwachsenden nicht befleckt werde; sondern unwandelbar verbleibe er bis zu seinem Tode, sein ganzes Leben hindurch ungerecht scheinend, wirklich aber gerecht seiend, damit jene beiden, fortgeschritten bis zum äußersten Punkte, der Eine in der Gerechtigkeit, der Andere aber in der Ungerechtigkeit, nun beurtheilt werden mögen, welcher von ihnen beiden nemlich der Glücklichere sei. –

5. Weh, o lieber Glaukon, sagte ich, mit welch kräftigen Zügen stellst du jeden jener beiden Männer, wie eine Bildsäule, zur Beurtheilung rein her! – Ja, sagte er, so sehr ich eben kann. Da aber beide die derartigen sind, so wird es, wie ich glaube, nichts Schwieriges mehr sein, in der weiteren Begründung durchzugehen, welcherlei Leben jeden von beiden erwarte. Dieß muß ich also hiemit angeben. Und wann dieß denn auch in etwas gröberer Weise ausgedrückt wird, so glaube nicht, o Sokrates, daß ich es sei, der spreche, sondern diejenigen, welche im Vergleiche mit der Gerechtigkeit die Ungerechtigkeit loben. Diese werden demnach Folgendes sagen, daß der Gerechte bei solchem Verhalten gegeißelt, gefoltert, in Ketten gelegt, durch Ausbrennen seiner Augen beraubt werden, und zuletzt, nachdem er all dieses erduldet, aufgehängt werden und hiemit erkennen wird, daß man nicht den Willen haben soll, gerecht zu sein, sondern nur es zu scheinen; jenen Spruch des Aeschylos aber müßte man also weit richtiger von dem Ungerechten anwenden, denn in der That wird man von dem Ungerechten sagen, daß er, indem er ein in sich wahrheitsgetreues Geschäft betreibt und nicht ein Scheinleben führt, »ungerecht nicht scheinen, sondern sein wolle«

»eines tiefen Saatbodens Frucht in seinem Sinne genießend,
aus welchem die sorgsamen Rathschlüsse entsprossen«.

und daß er dann erstens im Staate herrsche, weil er ja gerecht zu sein scheint, sodann auch heirathe, aus welcher Familie er will, seine Töchter verheirathe, an wen er will, Geschäftsverkehr und Gemeinschaft mache, mit wem es ihm beliebt, und außer all diesem auch noch durch Gewinn sich Nutzen verschaffe, weil er am Unrechtthun nicht Anstoß nimmt. Wenn er demnach in irgend Kämpfe eintrete, sei es im Privat-, oder sei es im öffentlichen Leben, so erringe er die Oberhand und thue es seinen Feinden zuvor, indem er aber es Allen zuvorthue, werde er reich und erweise seinen Freunden Gutes und seinen Feinden Schlimmes, und auch Opfer und Weihgeschenke für Götter veranstalte er in genügender und großartiger Weise, und verehre weit besser als der Gerechte die Götter und unter den Menschen diejenigen, welche er eben will, so daß er aus guten Gründen gebührender Weise auch weit mehr ein Gottgeliebter ist, als der Gerechte. So, o Sokrates, behaupten die Leute, daß seitens der Götter und der Menschen dem Ungerechten ein besseres Loos bereitet sei, als dem Gerechten. –

6. Als Glaukon dieß gesprochen, hatte ich im Sinne, Etwas hierauf zu erwiedern, aber sein Bruder Adeimantos sprach nun: Du wirst doch wohl nicht glauben, o Sokrates, daß schon genügend betreffs dieser Begründung gesprochen worden sei? – Wie so denn aber nicht? erwiederte ich. – Gerade jenes, sagte er, ist noch nicht angegeben worden, was doch zumeist hätte angegeben werden sollen. – Nicht wahr also, sagte ich, es gilt das Sprüchwort »ein Bruder möge dem Manne zur Seite stehen«, und sonach leiste denn auch du Hülfe, woferne Dieser eine Lücke gelassen hat; und doch ist ja schon auch das von diesem Vorgebrachte genügend, um mich niederzukämpfen und unfähig zu machen, der Gerechtigkeit beizustehen. – Und jener sprach: dieß bedeutet Nichts, was du da sagst; hingegen höre auch noch Folgendes; denn wir müssen auch die entgegengesetzten Begründungen gegen die von diesem vorgebrachten durchgehen, nemlich jene, welche die Gerechtigkeit loben und die Ungerechtigkeit tadeln, damit hiedurch deutlicher werde, was mir Glaukon eigentlich zu wollen scheint. Es sagen aber doch wohl die Väter ihren Söhnen und Alle ihren Pflegebefohlenen und ermahnen dieselben, daß man gerecht sein müsse, indem sie nemlich hiebei nicht die Gerechtigkeit an sich selbst loben, sondern den aus ihr erwachsenden guten Ruf, damit dem gerecht zu sein Scheinenden aus der öffentlichen Meinung Herrschaft und Ehe und all dasjenige erwachse, was Glaukon so eben als Folge des guten Rufes aufgezählt hat. Noch weiter aber erstrecken diese das Gebiet der Meinung; indem sie nemlich auch den bei den Göttern geltenden guten Ruf herbeiziehen, haben sie eine reichliche Menge von Gütern aufzuzählen, welche ihrer Behauptung zu Folge den Frommen die Götter verleihen, wie ja auch der edle Hesiodos und Homeros sagen, Ersterer nemlichTage und Werke, V. 230. Ich verzichte bei Uebersetzung aller hier folgenden Dichterstellen absichtlich (s. oben Anm. 7[6]) auf die metrische Form. Wie gerne übrigens ein gewisser Autoritätsglaube bei den Alten sich an homerische Sprüche anschloß, s. z. B. m. Anm. 37 u. 50 z. Phädon u. Anm. 15 z. Gastmahl., daß für die Gerechten die Götter die Eiche wachsen lassen

»oben an der Spitze voll von Eicheln, in der Mitte aber voll von Bienen,
und es strotzen ihnen die wolligen Schafe mit reichen Fellen«,

und auch noch viele andere Güter seien es, welche hieran sich anschließen; Aehnliches aber sagt auch LetztererOdyss. XIX, V. 109, denn

»wie einem wackeren Könige, welcher den Göttern ähnlich
die Gerechtigkeit schützt, und welchem die dunkle Erde
Weizen und Gerste trägt, und von Frucht die Bäume strotzen,
leicht auch das Vieh Junge wirft, und das Meer Fische darbietet –«.

Musäos aber und sein SohnMusäus ist, sowie Orpheus, eine mythische Personifikation eines Kulturzustandes, oder einer kulturgeschichtlich einflußreichen Form der ältesten griechischen Poesie; es war jene Poesie, welche natürlich lange vor die homerische fällt, eine priesterlich-religiöse und hatte hauptsächlich Weih- und Sühn-Sprüche zum Inhalte. Später (schon zur Zeit des Pisistratus) wurden derartige Gedichte gesammelt und mit absichtlicher oder mit unverschuldeter Fälschung als Werke jener angeblichen früheren Sänger bezeichnet. Wenn hier auch noch von einem Sohne des Musäus gesprochen wird, so ist dieß eine in der mythischen Geschichte häufig genug vorkommende genealogische Verdopplung oder Vervielfältigung Einer symbolischen Person (z. B. auch bei Minos). verleihen seitens der Götter den Gerechten noch spaßhaftere Güter als jene; nemlich indem sie in ihrer Erzählung die Frommen in den Hades hinabführen und sie dort auf Stühle setzen und ein Trinkgelage derselben veranstalten, lassen sie dieselben mit Kränzen auf den Häuptern die gesammte Zeit hindurch als Berauschte zubringen, in der Meinung, der schönste Lohn der Vortrefflichkeit sei ein ewiger Rausch. Wieder Andere aber erstrecken die Belohnungen seitens der Götter noch weiter hinaus; nemlich sie behaupten, Kindeskinder und das ganze Geschlecht verbleibe so nach dem Abscheiden des Frommen und Eidgetreuen. In solchen Dingen denn nun und in anderen derartigen preisen sie die Gerechtigkeit. Die Frevelhaften aber hinwiederum und die Ungerechten vergraben sie in irgend einen Schlamm des Hades und lassen sie gezwungen sein, in einem Siebe Wasser zu tragen. Und ferner indem sie dieselben auch bei Lebzeiten in schlimmen Ruf bringen, führen sie diejenigen Bestrafungen, welche Glaukon betreffs der Gerechten, welche als Ungerechte angesehen werden, aufzählte, nun betreffs der Ungerechten an; Anderes aber wissen sie nicht vorzubringen. Das Lob also und der Tadel gegen jene beiden ist dieß.

7. Hiezu aber erwäge auch, o Sokrates, wieder eine andere von Reden, welche betreffs der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit sowohl von gewöhnlichen Leuten, als auch von Dichtern angewendet wird. Nemlich Alle singen stets wie aus Einem Munde das Lied, wie schön die Besonnenheit und die Gerechtigkeit sei, aber wie schwierig und mühevoll, daß hingegen Zügellosigkeit und Ungerechtigkeit süß und leicht zu erwerben, nur aber vermöge der öffentlichen Meinung und der je geltenden Gesetze schimpflich sei; gewinnbringender aber, sagen sie, sei meistentheils das Ungerechte als das Gerechte, und sie sind gleich bereit, schlechte Reiche und anderweitige Machthaber glücklich zu preisen und zu ehren, sowohl im öffentlichen, als auch im Privatleben, die übrigen hingegen, welche irgend schwach und arm sind, als Ehrlose zu behandeln und gering zu schätzen, während sie zugestehen, daß diese letzteren besser seien, als jene Anderen. Und von all diesem sind ihre Reden betreffs der Götter und der Vortrefflichkeit erst noch das Merkwürdigste, nemlich daß auch die Götter vielen Guten Unglück und ein schlimmes Leben, den Gegentheiligen aber das gegentheilige Loos verliehen hätten. Bettelpriester aber und Wahrsager kommen zu den Thüren der Reichen und suchen diese zu überzeugen, daß ihnen eine von den Göttern ausgehende Kraft zu Gebote stehe, durch Opfer und Gesänge sowohl ein Unrecht, falls etwa ein solches durch jenen Reichen selbst oder durch seine Vorfahren geschehen ist, mit Anwendung von Vergnügungen und Festzügen zu heilen, als auch, wenn jener irgend einem Feinde ein Leid zufügen will, dann vermittelst eines geringen Kostenaufwandes in gleicher Weise einem Gerechten, wie einem Ungerechten Schaden zuzufügen, da sie ja, wie sie behaupten, durch irgend Beschwörungen und Bannflüche auf die Götter einwirken können, so daß diese selbst ihnen dienstbar sind. Für all diese Reden aber bringen sie Dichter als Zeugen bei, die Einen, indem sie betreffs der Schlechtigkeit die leichten Mittel und Wege angeben,

»denn Schlechtigkeit kann man auch haufenweise leicht erfassen,
glatt ja ist der Weg zu ihr, und sehr nahe wohnt sie;
hingegen vor die Vortrefflichkeit hin pflanzten die Göttern den Schweiß«

und irgend einen langen und steilen PfadHesiod, Tage u. Werke, V. 285 ff.. Andere aber rufen für den Einfluß der Menschen auf die Götter den Homeros als Zeugen an, da ja auch jener sagte:

                            »lenkbar aber sind auch die Götter selbst,
und diese können durch heilige Feste und beschwichtigende Gelübde
und durch Trank- und Brand-Opfer die Menschen umlenken
in flehendem Gebete, wann Einer gefrevelt und gefehlt hat«Ilias, IX, V. 493..

Und einen ganzen Schwarm von Schriften des Musäus und des Orpheus, den Abkömmlingen der Mondgöttin und der Musen, wie sie behaupten, zeigen sie vor, und nach dem Wortlaute dieser sind sie geschäftig mit Opfern, indem sie nicht bloß einzelne Leute, sondern auch ganze Staaten davon überzeugen, daß es eine Erlösung und eine Reinigung von unrechten Thaten vermittelst der Opfer und vergnüglicher Spiele, sowohl für die noch Lebenden, als auch für die Gestorbenen gebe, Dinge, welche sie Weihe-Sühnungen nennen, und welche von den Uebeln jenseits uns erlösen sollen; falls man aber nicht opfere, stehe Arges bevor.

8. All dieses Derartige und so Vieles, o Sokrates, was betreffs der Vortrefflichkeit und Schlechtigkeit gesagt wird, in welcher Weise nemlich Menschen und Götter sie schätzen, welche Wirkung, glauben wir, daß es beim Anhören auf die Seelen jener jungen Leute mache, welche begabt und tüchtig genug sind, bei Allem, was gesagt wird, gleichsam im Fluge daraus sich einen Schluß zu entnehmen, in welcher Beschaffenheit und bei welcher Richtung des Weges man wohl am besten das Leben durchwandern möge? Aus guten Gründen nemlich möchte Einer wohl jenes Wort des PindarosEin Fragment, bei Böckh S. 671. zu sich selbst sprechen:

»soll ich in Gerechtigkeit oder in krummem Betruge die hohe Mauer
erklimmen, und so mich selbst beschirmend das Leben führen?«

Denn was man da sagt, enthält die Behauptung, daß, wenn ich gerecht bin, es mich Nichts nützt, falls ich es nicht auch zu sein scheine, hingegen enthält es augenfällige Mühe und Einbuße; wann ich aber als ein Ungerechter mir den Schein der Gerechtigkeit verschafft habe, dann wird mein Leben als ein göttliches bezeichnet. Also nachdem der Schein, wie die Weisen mir kundgeben, auch die Wahrheit bezwingt und Herr des Glückes ist, so muß ich mich denn nun vollständig zu ihm hinwenden. Als Vorhalle und als äußere Form muß ich rings um mich einen Schattenriß der Vortrefflichkeit beschreiben, aber jenen Fuchs des weisesten ArchilochosDer berühmte Jambendichter, dessen Blüthezeit ungefähr um 700–600 vor Chr. fällt. Er verwendete zum Zwecke seiner satirischen Poesie auch vielfach die Thierfabel, und daß in dieser der verschmitzte Fuchs eine Hauptrolle spielt versteht sich von selbst., den gewinnbringenden und verschmitzten, muß ich stets hinter mir nachschleifen. Aber es ist ja, wird man einwenden, nicht leicht, stets beim Unrechtthun unentdeckt zu bleiben. Es ist ja aber, werden wir sagen, auch nichts anderes Großes leicht zu bewerkstelligen; hingegen dennoch müssen wir, woferne wir glücklich sein wollen, denjenigen Weg gehen, auf welchen uns die Spur jener Reden führt; nemlich um unentdeckt zu bleiben, werden wir Verschwörungen und Genossenschaften zusammenbringen, und dann gibt es ja auch Lehrer der Überredungskunst, welche uns eine für die Volksversammlung und für den Gerichtshof passende Weisheit verleihen, und in Folge hievon werden wir in einigen Fällen durch Ueberredung siegen, in anderen aber es mit Gewalt durchsetzen, so daß wir im Vortheile sind und nicht bestraft werden. Nun aber ja den Göttern gegenüber ist es weder möglich, unentdeckt zu bleiben, noch Gewalt anzuwenden. Wohl also werden, falls es keine Götter gibt, oder sie sich um die menschlichen Dinge nicht bekümmern, auch wir uns um das Unentdecktbleiben nicht bekümmern; falls es aber Götter gibt und sie jene Fürsorge hegen, so haben wir ja doch nirgend anderswoher eine Kenntniß von ihnen oder über so Etwas gehört, als eben aus jenen Reden und von den Dichtern, welche die Stammtafeln der Götter erzählen; aber eben diese sagen ja zugleich auch, daß jene derartig sind, daß sie durch heilige Feste und beschwichtigende Gelübde und durch Weihgeschenke überredet und umgelenkt werden können; wir müssen aber jenen entweder beides oder keines von beiden glauben; falls wir ihnen also glauben, so müssen wir Unrecht thun und dann aus dem Ertrage der ungerechten Thaten Opfer veranstalten; denn wenn wir gerecht wären, so würden wir bloß seitens der Götter straflos sein, aber den aus der Ungerechtigkeit fließenden Gewinn verabsäumen; hingegen wenn wir ungerecht sind, werden wir sowohl den Gewinn haben, als auch, indem wir in Folge des Frevels und Fehltrittes flehentlich beten, die Götter überreden und so straflos davonkommen. Nun aber ja im Hades werden wir bestraft werden für das hier gethane Unrecht, entweder wir selbst oder unsere Kindeskinder. Aber, o lieber Freund, wird jener fortschließend sagen, die Weihe-Sühnungen vermögen ja hinwiederum gar viel und auch die erlösenden Götter, wie uns dieß die größten Staaten und auch jene Söhne der Götter berichten, welche Dichter und Verkündiger der Götter wurden, und welche ja kundgeben, daß dieß sich so verhalte.


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