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Nachspiel

Mit den langen Schritten seiner mageren Beine ging der Rabbiner Sichem in dem großen Saal umher. Die Schöße seines Ueberrockes öffneten sich und bewegten sich wie die Flügel einer Fledermaus; die Arme gekreuzt, schien er ein Halachist Halacha, hebr., praktische Aussprüche der Rabbiner. zu sein, der über einen Spruch des Talmud nachdachte.

Hoch und gerade wie eine Zeder, steigerte seine gelbliche mumienhafte Magerkeit eine Lebenskraft, die bei einem Greise beunruhigend war. Aus seiner Mütze von roter Wolle, wie sie Buonarotti trug, drangen seine weißen Haare in schlichten Locken, und sein silberner Bart glänzte wie der Brustschild des Hohenpriesters. Die Nase seiner Rasse hatte weniger vom Adler als seine Augen, deren Blick eine Kralle zu sein schien, die den Menschen und Dingen ihr Geheimnis entriß. Eine ironische Falte der Lippen gab diesem Gesicht eines Gamaliel oder Akiba einen modernen Ton.

Er dachte, ruhig; auf seiner Stirn allein die Falten der Gewohnheit und des Alters. Man hatte ihn eben massiert; das ersetzte ihm die körperliche Bewegung, denn dieser Rabbiner, dem die Kabbala das Evangelium bewiesen hatte, ging nur Sonntags zu einer stillen Messe aus.

Mit dreißig Jahren hatte Sichem die Synagoge von Straßburg mit den Worten verlassen: »Ich gehe dorthin, woher die Magier kamen.« Er sah das Abendland erst mit siebzig Jahren wieder und zog nach Paris, um sich in dieser Menschenwüste zu verbergen.

Seit fünf Jahren bewohnte er das Haus auf dem Boulevard Port-Royal, das die Nummer 33 trug, mit zwei maronitischen Maroniten, Christen vom Libanon, genannt nach dem Mönch Johannes Maro, unter der Herrschaft des Islams. Somnambulen, die niemals ausgingen, und einer alten französischen Jüdin, die ihn bediente. Keiner überschritt den ersten Stock dieses alltäglich aussehenden Hauses, das Heiligtum des Okkultismus im Abendland.

Durch das Gesetz der den Schicksalen entsprechenden Anziehungen mußte Merodach unvermeidlich Sichem treffen.

Der junge Magier befand sich eines Sonntags in der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas, um die Messe zu hören; der Anblick des Rabbiners, seine Art, sich zu bekreuzigen, fielen ihm auf. Als dieser ging, folgte er ihm und sprach ihn an mit der Erklärung des großen Geheimnisses. Sichem war noch nie in seinem Leben so erstaunt gewesen und faßte sofort Freundschaft für diesen Auserwählten, der die sieben Siegel des Buches erbrach, bevor er das Alter der Einweihung erreicht hatte.

Merodach brachte den Pater Alta zu dem Rabbiner, und diese drei Männer von unerklärlicher Ueberlegenheit führten außerordentliche Gespräche. Während der Mönch nach Mitteln fragte, um die Herrschaft Gottes zu beschleunigen, weigerte sich der Jude, am sozialen Leben Teil zu nehmen: das hätte ihm seine Zeit, seine Kraft und die Ruhe seiner Betrachtungen genommen, ohne ihm dafür etwas wiederzugeben.

Der Saal, in dem Sichem umherging, nahm den ganzen ersten Stock ein. Erstaunen hätte den ergriffen, der hier eingedrungen wäre: weder ein chemischer Ofen, noch ein Kolben, noch eine Retorte befanden sich in diesem Laboratorium. Glaskasten mit gnostischen Steinen, sumerische Pergamentrollen, geheimnisvolle Handschriften; Schilde mit Aronstäben, Gabeln aus Haselholz, Degen für Beschwörungen; Schränke mit Amuletten und Büchersammlungen, die alle Werke des Okkultismus von den ersten Drucken bis zu Eliphas Levi Eliphas Levi (Abbé Constant), Geschichte der Magie, Paris 1860. Dieses klassische Werk gibt die beste Einführung in den ganzen Okkultismus. enthielten. Die Sephers, die Targums, die Talmuds, die Zauberbücher und Salomonis Schlüssel waren da, nebst dem Buch der Mysterien von Elkana, das man verloren glaubt. Papyrusrollen, mit einem Dolch beschriebene Eselshäute, mit Schriftzeichen bedeckte Klingen aus kostbaren Steinen breiteten sich unter Glas aus. Es war ein Museum und eine Bibliothek der Hieroglyphen und des Mysteriums.

Merodach trat ein.

– Meister, sagte er, Pater Alta wird in den Bann getan werden …

– Wer hat sich seines Gestirns bemächtigt, fragte der Rabbiner.

– Die Prinzessin Este liebt ihn und hat diese seltsame Aufforderung an ihn gerichtet: »Kommen Sie in meinen Schoß, oder ich werde Sie aus dem Schoß der Kirche reißen.« Und Sarkis, der eben von mir fortging, hat mir gesagt: »Sie haben richtig prophezeit, daß ich nicht in den Hafen eingelaufen bin; ich reise mit der Prinzessin nach Aegypten. Will sie ihre verschmähte Leidenschaft außer Landes führen? Oder will sie diese Magie suchen, mit der Sie Leonora geblendet haben, um mit unbesiegbaren Reizen und unfehlbaren Zaubereien zurückzukehren?«

– Wenn die modernen Leidenschaften die Magie verständen, sähe man noch das Feuer vom Himmel fallen. Gomorrha, die Stadt des Aufruhrs, ist so einzigartig untergegangen, weil die Bewohner die großen Geheimnisse des Okkultismus ihren Leidenschaften dienstbar gemacht hatten. Diese Dichter von heute, Götzendiener des Wahnsinns, würden vor der Entartung des Morgenlandes auf die Knie fallen, wenn sie wüßten, bis zu welcher Kraft des Bösen diese Menschen gelangten: sogar die Luft, die sie atmeten, setzten sie mit ihren Verbrechen in Flammen. Was die Leidenschaft verschlingt, läßt Asche eines Phönix zurück, und die Zukunft gehört den Ideen der Sonne; während die metaphysische Trägheit des Morgenlandes mit ihrer Erstarrung berauscht! Wenn ich die moderne Welt betrachte, in ihrer religiösen Gleichgiltigkeit, in ihrem nur industriellen Wirken, so vermisse ich, der Jude, den Scheiterhaufen. Das Autodafé, wenn auch verbrecherisch, beweist den Glauben der Henker wie den Glauben der Opfer: und der Glaube ist der Hebel, der das Werk Gottes schafft. Du wunderst dich, mich die Leidenschaft wie ein Dichter preisen zu hören, der Halluzinationen hat: das kommt daher, daß ich hier für das menschliche Gesindel spreche. Für uns, die Eingeweihten, welche die Gesetze kennen, die Idee; für alle die, welche den geschlechtlichen Trieben gehorchen, das Gefühl als Los. Die Leidenschaft ist ein Rad, das sich nach links ins Böse dreht: Dummheit, es aufzuhalten. Man muß es dahin bringen, sich nach rechts, ins Gute, zu drehen. Das ist das Rad des Tarot, das ist das Herz des Menschen. Man hat es aufgehalten. Man hat Krüppel geschaffen, aus Furcht, sie könnten schlechten Gebrauch von ihren Gliedern machen. Da du wie Alta von Wiedergeburt träumst, erhitze die Leidenschaften bis zum Weißglühen: das Feuer reinigt oder verzehrt. Der Brand einer Gesellschaft hat seine Größe, während diese moderne Welt, die du liebst, jung wie du bist, vergehen wird, mit dem unmerkbaren Plätschern eines Wasserhahns, der abtropft, oder dem Surren eines Ballons, der platzt … Oh, wie dumm sind die Menschen von heute: sie erfinden den Dynamit wie den Panklastit und geben das Geheimnis bekannt! Die Thugs des Abendlandes, die Nihilisten, können in drei Minuten Museen wie Bibliotheken in die Luft sprengen! … Ich will weder in Paris noch in Frankreich bleiben: das sind Stadt und Land gefährlicher Narren, gefährlich nicht nur in der Freiheit, sondern auch im Können! Sobald ich Diamanten genug gemacht habe, um meinen Plan zu verwirklichen, gehe ich nach dem Libanon: dort errichte ich meinen kubischen Palast, und dort warte ich auf den Ruf Gottes, fern von dem wahnsinnigen Europa und dem verlorenen Frankreich!

Merodach war mit seinen Gedanken anderswo.

– Ich habe Ihnen erzählt, sagte er, die Schändung und den Tod von Corysandre. Neulich führte ich die Hellsicht der Adele wie eine Lampe über die dunkeln Punkte dieses furchtbaren Dramas; als ich ihr ohne Absicht Pouancé bezeichnete, rief sie aus: »Das ist der Arzt, der den Schlaftrunk für das blonde Fräulein geliefert hat.« Ich eile zu dem Doktor, ich frage ihn: er antwortet mit seiner zynischen Offenheit. Gewiß, ich hätte ihn gestraft, wenn ich ihm enthüllt, mit welcher Verruchtheit er sich befleckt hat; aber um ihm eine rächende Gewissensqual in die Seele zu legen, durfte ich das Geheimnis dieser armen Geschändeten nicht verletzen.

– Da haben wir ein schönes Exemplar dieser Sonntagsgäste, deiner Verbündeten! Was erreichst du damit, daß du dich teilst, den einen Fuß im sozialen Kampfe, den andern im Okkultismus?

– Ich erziehe meinen Willen.

Der Rabbiner zuckte die Achseln.

– Du liebst das Gute, aber du bist neugierig auf das Böse. Du auch, wie alle, du unterliegst dem Reiz der entarteten Aktivität. Je intensiver das Leben ist, desto stärker wirkt die Anziehung. Da die Tugend träge ist, kleidet sich das allein handelnde Laster in einen Zauber, der die Modernen durch byronsche Phantasmagorien verdirbt.

– Ich nehme die Anklage hin, sagte Merodach, aber ist nicht bei Ihnen, der Sie die höchste Wissenschaft besitzen, diese höchste Gleichgiltigkeit schuldig?

– Kind! rief der Rabbiner. Hat sich Trithemius in die soziale Arbeit gemischt? Was hat sein Schüler Agrippa geleistet, als er populär werden wollte? Hat Raymundus Lullus trotz seinen Anstrengungen auf die Ereignisse seiner Zeit Einfluß gehabt? Was hat schließlich Wilhelm Postel Eliphas Levi (Abbé Constant), Geschichte der Magie, Paris 1860, charakterisiert alle diese Okkultisten meisterhaft. mit seinem »Schlüssel der verborgenen Dinge«, den er den Patres des Konzils von Trient sandte, etwas geöffnet? Weißt du nicht, daß der Magier, der über den Einzelnen allmächtig ist, auf ein Volk nur wirkt, wenn er Mittelpunkt eines Bündels reiner Willen, einer magnetischen Kette ist? Bilde eine Reihe von dreitausend heiligen Willen, die bis über den Tod hinaus den Willen haben: und ich werde den Verfall der Lateiner aufhalten. Du wirst sie nur in den Klöstern finden, und nur als Unvollkommene. Die Mönche von heute wissen nur zu beten; sie tun viel, da ihre Gebete den Gotteslästerungen das Gleichgewicht halten; aber stützen, das Fallen hindern, ist nicht wieder aufrichten. Gegen das Schwert des Bösen hat das Gute kein Schwert. Die Tugend weiß nicht den Angriff zu führen.

Es klopfte, ohne daß Merodach, nachdenkend, den Kopf wandte und Sichem sein Schreiten unterbrach: sie wußten, daß nur ein Mensch so eintreten konnte.

Aber der junge Mann stieß einen Ausruf aus. Der Pater Alta trug ein weltliches Gewand, und zwar einen Reiseanzug, bewahrte aber auch in diesem Kleide die großartige Langsamkeit der Haltung.

– Oh, rief der Rabbiner, gegen diese Isebel muß man die Magie des Jehu anwenden 2. Könige 9,33: »Und sie stürzten sie herab …«.

– Also kann das Böse dem Guten die Macht nehmen! rief Merodach, die Hand des Mönches mit beiden Händen drückend.

– Ja, sagte Sichem, wenn das Böse angreift und das Gute nur verteidigt. Sie glauben, Alta, die Heiligkeit genüge; man könne sich fügen in den Lauf der Dinge, den man sich erfrecht, den Willen Gottes zu nennen. Fragen Sie Indien, was ihm diese Auffassung gebracht hat: die Besetzung durch die Engländer. Aber durch welche Verleumdungen hat diese Prinzessin …

– Zuerst hat mein Vortrag vor der Geistlichkeit von Paris ein furchtbares Gezeter ausbrechen lassen. Man hat mir aufs höchste gezürnt, daß ich Hesekiel anführte; meine Worte »katholische Trägheit, katholische Dummheit«, meine Heftigkeit gegen den Adel; schließlich meine ganze Lehre hat Schaden über Schaden gestiftet. Die Prinzessin hat sich dieser öffentlichen Unzufriedenheit bemächtigt und mein Privatleben verleumdet, mir soviel Pflichtverletzungen wie Beichtkinder andichtend. Was das kanonische Recht betrifft, und er blickte Merodach an, so wird es die Seelenmesse sein, die ich für einen Selbstmörder gelesen habe.

– So würde ich die Ursache sein …, rief der junge Mann bestürzt.

– Nein, Bruder! Ich begreife, daß Sie mir nichts gesagt haben. Habe ich nicht auch einer Selbstmörderin die Absolution erteilt?

Merodach erbleichte, wie er bei der Beschwörung dieses süßen Phantoms erbleichte, das er jetzt vielleicht liebte!

– Das Interdikt ist nur über meinen Kopf verhängt, fügte Alta hinzu. Ich reise heute nacht nach Rom: sobald der Papst mich gesehen und gehört hat, bin ich gerettet.

– Ich, der ich kaum noch Mitleid empfinde, ich beklage Sie, sprach der Rabbiner zum Mönch.

– Was bedeutet der Einzelfall, daß ein Gerechter verkannt wird, wenn die ganze Christenheit die Gerechtigkeit selbst verkennt? Für den, der das Morgen von heute ahnt, wird jedes persönliche Unglück zu nichts vor dem großen Unglück der Lateiner!

– Sie sind Lateiner, Alta, sagte der Kabbalist.

– Ich bin es mit der Seele! Und wäre ich es nicht, erfaßte mich derselbe Schrecken, da ich diese von der Kirche geliebte Rasse in ihr Verderben rennen sehe. Ah, der Beichtvater allein kann an der Unwürdigkeit der Beichtkinder ermessen, was aus der großen Sünde des Abendlandes geworden ist.

– Das Abendland leugnet Gott! rief Sichem, und Gott leugnen heißt den Tod rufen und das Nichts verkünden! Es gibt ein seelisches und geistiges Gleichgewicht, das für das Dasein der Staaten notwendig ist. Sobald das menschliche Wort nicht mehr eine Summe von Wahrheiten ausstrahlt, die der Summe der Irrtümer mindestens gleich ist; sobald die Selbstsucht über die Barmherzigkeit siegt und mehr Menschen ins Lupanar als in die Kirche gehen: wird das geistige Gesetz des Gleichgewichts, das man poetisch Vorsehung nennt, ein Strafgericht über das Volk ergehen lassen. Piken von Legionen, Lanzen eines Attila, Gewehre von Teutonen: ein Heer, das nicht besser ist und das an die Reihe kommt, erscheint und säet Salz auf die Ruinen dieses Volkes, dessen Häupter Sodoms waren …

Es entstand ein Schweigen, das Gedanken erfüllten.

– Der Antiphysismus wird der eigentliche Charakter des lateinischen Gedankens, sagte Merodach. Man vergewaltigt die Ideen, man vergewaltigt sie a retro: die Mystiker unserer Zeit sind die Entarteten; die Frommen die Abergläubischen; die Tugendhaften die Trägen. Man lacht darüber, daß Christus beim heiligen Abendmahl wirklich anwesend ist, aber man glaubt, daß Geister in den Tischen sind; man geht von dem göttlichen Recht des Königs zum göttlichen Recht des Volkes über, und von der Ungerechtigkeit des Adels zur Schande der Börse.

Sie hatten sich gesetzt.

Neben der schwarzen Tafel saß der Rabbiner, einen phosphoreszierenden Bleistift in der Hand: es war seine Gewohnheit, in der Dunkelheit nachzudenken und in leuchtenden Zeichen die hermetische Formel niederzuschreiben, die er ergründen wollte.

Aufgestützt, das Kinn in der Hand, betrachtete Alta mit der äußeren Starre der nach innen gewandten Aufmerksamkeit eine ganz mit Pantakeln besäete Eselshaut.

Auf einem Schemel saß Merodach, die Ellbogen auf den Knien, die Hände in seinen Simsonhaaren, und runzelte die Brauen in höchster Anspannung des Geistes.

Die letzten Strahlen einer bleichen Sonne, für Augenblicke verdunkelt, krochen über die matt geschliffenen Scheiben. Die Melancholie dieser Sonne ohne Wärme und ohne Glanz, die erlosch, vermehrte die Melancholie dieser Geister, die sich über eine Welt beugten, die aus den Fugen gegangen war: auch diese Welt war ohne Wärme und ohne Glanz, verblich in der Geschichte und ging dahin, abnehmend, verfallend, in einem Erlöschen voll furchterregendem Schatten.

– Du sprachst von Antiphysismus, Merodach, aber du sahst ihn nur in den Sitten; er herrscht in den Einrichtungen, und dort schlimmer. Die französische Republik ist ein naturwidriger Staat. Geteilt, verliert sich die Autorität; anonym, wird die Macht feige und schimpflich. Die Einheit des Befehls, die Persönlichkeit in der Politik muß an der Hand der Geschichte als eine Notwendigkeit festgestellt werden. Oh, die französische Republik hat sich durch die Worte ihres Wahlspruches gerichtet, der drei Punkte »gegen die Natur« einschließt: die Freiheit, das ist die Verneinung der Pflicht; die Gleichheit, das ist die Verneinung der Gerechtigkeit; die Brüderlichkeit, das ist die Verneinung der Selbstsucht, und der Staat hat nicht das Recht, sie zu fordern. Diese drei Worte, welche die Katholiken, feige wie gewöhnlich, an die Stirn der Kirchen haben schreiben lassen, sind drei abscheuliche Lästerungen – gegen den heiligen Geist, Alta. Der wahre Name der »Freiheit«, das ist die PFLICHT; der wahre Name der »Gleichheit«, das ist die KIRCHE; der wahre Name der »Brüderlichkeit«, das ist die BARMHERZIGKEIT. Solange diese drei Wahrheiten nicht an die Stelle jener drei Lügen geschrieben werden, ist auf kein Heil zu hoffen; und wenn jene drei Lügen noch eine Weile bleiben, ohne auf diese drei Wahrheiten Rücksicht zu nehmen, wird das übertretene Gesetz die Uebertreter vernichten, und zwar bis auf die Stätten der Uebertretung.

– Ein Volk bereut nicht, wie ein Strom nicht zurückfließt! sagte der Mönch. Die Lateiner können nicht mehr die Wahrheiten ihrer Vergangenheit in den entnervten Gehirnen wiederherstellen, ebenso wenig wie ihre geschwächten Körper die einstigen Rüstungen zu tragen vermögen.

– Was ist von einer Zeit zu hoffen, welche die Verbrechen des Geistes nicht bestraft? fragte Merodach. Man kann den Gedanken eines Volkes vergiften, ohne angefochten zu werden. Jede ehrlose Handlung wird von einer ehrlosen Idee geboren: die französische Revolution, diese physische Anarchie, ist nur eine Verwirklichung der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, dieser metaphysischen Anarchie. Die französische Republik, das ist die organisierte Anarchie von 1793, 1871 und 1880: man muß sich dabei nicht an das Volk, das behexte, halten, sondern an die Philosophen, diese Behexer! Die Gesellschaft hat dasselbe Recht, sich gegen den Atheisten zu verteidigen, wie sie sich gegen den Mörder schützt. Der öffentliche Materialismus ist ein Attentat auf die Sitten, denn die Idee schlägt tiefere Wunden als das Eisen. Die deutschen Ideen haben uns mehr geschadet als die deutschen Waffen. Wir sind vom Hegelismus verseucht. Unfähig, unsere Grenzen zu schützen, haben wir nicht einmal die Selbständigkeit unserer Gedanken bewahrt. Dank den Renans Renan sagte am 6. September 1870 zu Edmond de Goncourt: »Bei allen meinen Studien war ich immer betroffen von der Ueberlegenheit des Verstandes und der Arbeit der Deutschen …« Tagebuch der Goncourts, deutsche Ausgabe, Rothbarth, Leipzig. ergreift uns die deutsche Idee, die stets protestantisch ist, von Stunde zu Stunde, und niemand denkt daran, das französische Buch und Gehirn von ihr zu befreien …

Die Nacht kam, langes Schweigen bringend, das mit seiner unbestimmten Angst diese Ergüsse düsterer Wahrsagung abschnitt.

– Diese Entartung der Idee, das ist wohl das »Höchste Laster«! sagte der Mönch. In jeder Minute der Beichte findet man sie wieder: die Sünder sind so unbewußt, daß sie das Gerechte und Ungerechte verwechseln. Stehlen für den Industriellen, flirten für die anständige Frau, huren für den Mann, erscheinen als Bedürfnisse, die Rechte sein sollten. Außer dem körperlichen Ehebruch hält die verheiratete Frau alles für verzeihlich und schmerzlos. Wenn der Beichtvater die Strenge hat, die er haben muß, ist der Sünder fast bereit, auf das Sakrament zu verzichten. Und was sind das für Sünden! Verbrechen ohne Mut; Laster ohne Kühnheit; Wollust ohne Vergnügen, ja, ohne Vergnügen!

Die Nacht kam.

– In der Menge der lateinischen Sünden sehe ich nur eine, begann der Mönch wieder: die Sünde der Wächter, die Sünde der Beschützer.

Und im Geiste schlug er an seine Brust.

– Mönch, die Magier kamen, um Jesus anzubeten, während die Priester von seiner Geburt nichts wußten. Die Magier werden das Reich Gottes kommen lassen; aber über dessen Ankunft wird man nicht schreiben: »per Francos« …

– Magier, wissen Sie, was die Gemeinde der Heiligen ist?

– Ja, das ist das Palladium, das stets die Menschheit rettet! Aber wissen Sie, was die Gemeinde der Entarteten ist? Sehen Sie nicht um sich die Herrschaft des Antichrists? Hat man nicht das Kruzifix aus den Schulen gerissen, wird man es nicht aus den Gerichten reißen? Besudeln nicht die Lästerungen des französischen Volkes in drei entweihenden Worten die Fassade der Kirchen, das Antlitz von Jesus Christus? Billigt die Regierung nicht eine Bibel, die lächerlich ist? Ah, der Galiläer macht einen Sarg: den der lateinischen Rassen! Sie können ihren Todeskampf noch in die Länge ziehen, aber vor Gott sind sie schon tot!

– Oh, protestierte der Dominikaner, jede systematische Entmutigung ist ein Verbrechen, und die Verzweiflung die Sünde des Judas!

– Als Jeremias an Jerusalem verzweifelte, als Jesus über Jerusalem weinte, war das Sünde oder Hellsicht? Die Kirche ist ewig, aber ihre älteste Tochter wird durch Selbstmord sterben!

– Ich will hoffen gegen jede Hoffnung! rief der Mönch.

– Hoffen! Was? fragte Merodach.

– Das Wunder! sprach der Pater Alta mit einem großen Glauben.

– Sie haben es selbst gesagt, Alta: Gott tut keine Wunder für die Trägen …, rief Sichem.

Sich lebhaft erhebend, schrieb er mit dem phosphoreszierenden Bleistift, den er in der Hand hatte, auf die schwarze Tafel:

FINIS LATINORUM.

In der völligen Nacht des Saales leuchteten die weissagenden Buchstaben, und der Blick dieser drei Männer schreckte zurück und ihr Geist entsetzte sich, als sie ihren verzweifelnden Gedanken wie mit Feuer geschrieben sahen.

Sie sprachen nicht mehr; ihre Augen starrten hypnotisiert auf die Inschrift, die nach und nach erlosch; und die letzten Phosphoreszenzen verschwanden, es wurde wieder völlige Nacht. Sie sahen immer den schrecklichen Spruch, der ihnen das Herz verbrannte:

FINIS LATINORUM.

Keuchend, mit bestürztem Geiste, wiederholten sie in einem unbeschreiblichen Schrecken der Seele:

FINIS LATINORUM.


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