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Viertes Buch

I.
Alta

Der Rat »Kommen Sie doch in die Notre-Dame, das ist auch eine Première und ein Debüt«, war nicht das lächerliche Wort einer Freidenkerin, sondern der natürliche Ausdruck einer Religiosität, die nur ein »Sport« ist.

Man hatte geglaubt, Pater Monsabré würde wie gewöhnlich die Sonntagspredigt halten. Im letzten Augenblick hatte die »Religiöse Woche« den Pater Alta angekündigt. Als Seine Eminenz zur Herzogin von Noirmoutier sagte, »Sie werden zufrieden sein«, kannte er den nicht, den er so empfahl.

Der General der »Prediger-Mönche« schickte ihn, weil er außerordentlich sei. Unter den Gläubigen erwarteten die einen etwas wie Lacordaire Lacordaire, Kanzelvorträge in der Notre-Dame-Kirche. Deutsche Ausgabe, Tübingen 1846-52., die andern hofften auf einen Polemiker, der politische Anspielungen machte.

– Sie werden sehen, sagte Frau von Chamarande, eine Scheidemünze von Bourdaloue Bourdaloue, Predigten. Deutsche Ausgabe, Prag 1760.! Er wird uns durch Beweise erläutern, wo wir nichts begreifen werden, was wir schon glauben; statt uns über unser Betragen aufzuklären.

Der gute Ton ist, zu spät ins Theater zu kommen, aber zu früh in die Kirche. Seit zwölfeinhalb fuhren die Wagen vor Notre-Dame vor, und das große Schiff füllte sich mit den adeligsten Sündern.

Ein großes Flüstern, das aus tausend Plauderstückchen entstand, rauschte in der alten Kathedrale.

– Da sind Sie ja! sagte die Herzogin von Noirmoutier zur Prinzessin Este.

– Sein Name hat mich bestimmt: man muß immer »ad alta« gehen, antwortete sie mit einem lateinischen Wortspiel, das ihre Freundin nicht begriff.

Im Chor stiegen die scharfen Kinderstimmen empor. Man hüstelte, man setzte sich; es rauschten die Röcke der Frauen, die sich für das schwierige Stillsitzen einrichteten. Die Hellebarde des Schweizers erklang auf den Fliesen; eine weiße Gestalt erschien langsam. Die Köpfe wogten neugierig, und alle Augen erhoben sich zur Kanzel, wo der Pater Alta in seiner weißen Kutte hoch aufragte. Der Schließhaken aus Kupfer machte das Geräusch eines Zünders, als der Schweizer den Türflügel der Kanzel schloß.

Unter dem Kanzeldach stehend, die schönen Hände auf den Sammet des Randes gestützt, schien der Dominikaner seinen Heiligenschein auf dem Ultramarin eines Fiesole gelassen zu haben.

Mit einem kühnen und langsamen Blick erforschte er sein Auditorium, dann kniete er nieder: man sah nur noch seine gefalteten Hände und seine braune Tonsur. Mehrere Minuten vergingen, eine Ungeduld zerknitterte die Röcke; im Chor besorgten die Domherren ein Versagen des Gedächtnisses! Selbst Seine Eminenz beunruhigte sich. Indessen diese wenigen Augenblicke waren dem Mönche sehr nötig: beim Anblick seiner Zuhörer hatte er das Thema seiner Predigt gewechselt. Er erhob sich, zeichnete von seiner Stirn bis zu seiner Brust ein großes Kreuz, und mit einer sicheren Stimme, mit einer Stimme, die Vortrag und Aussprache gelernt hatte, erzwang er sich die Aufmerksamkeit durch seine vollkommene Betonung.

»Eminenz,
            »Meine Schwestern,
                        »Nimis peccavi cogitatione,

»Wir sind alle Sünder; aber die der Barmherzigkeit Unwürdigsten sind nicht die, welche das Aergernis geben, noch die, welche im Laster leben und die allein der Tugend gebührenden Ehren an sich reißen. Die Zyniker maskieren sich nicht, sondern lassen sich sehen, wie sie sind; die Heuchler täuschen die Welt, aber nicht ihr Gewissen! Wo sind diese Sünder, verdammter als jene, die der Propaganda des Bösen die große Macht des Beispiels dienen lassen? Wo sind diese Pflichtvergessenen, schuldiger als die Gottlosen, welche die Farbe der Tugend auf den Aussatz ihres Lebens setzen? Sie sind hier!«

»Hier gibt es Zyniker, die ihre Laster für Tugenden halten; hier gibt es Heuchler, die sich in ihrer eigenen Schlinge gefangen haben. Wie! Meine Schwestern, erkennen Sie sich nicht in dem Gemälde, das ich male? Sehen Sie nicht Ihre schlechte Seele in dem Spiegel, den ich Ihnen vorhalte?«

– Wo will er hinaus? fragte man sich.

»Welcher Abgrund ist die Seelenruhe der Uebertretung! Was ist das für eine Verderbtheit, die sich nicht für verdorben hält! Was ist das für ein Laster, das sich nicht kennt! Den Begriff des Guten und des Bösen verloren haben, das ist die unbewußte Sünde, die unverzeihlich ist. Sie kennen sie nicht? Gott sendet mich, sie Ihnen kund zu tun.«

Das Schweigen war absolut: alle diese Damen erwarteten, aufgerüttelt zu werden, und diese Furcht war ihre Wollust. Die Schönheit schmückt alles, selbst das Wort Gottes, und die Majestät des Mönches bezauberte die Zuhörer, ebenso wie seine Beredsamkeit auf einer Kanzel, die für so gefährlich galt.

Plötzlich mäßigte er seine Stimme:

»Oh, meine Schwestern, warum seid ihr nicht Lilien der Reinheit? Statt euch von der Sünde zu sprechen, würde ich den Erlöser mit euch anflehen, und aus euern Herzen würde, wie Weihrauch, der Duft der Liebe emporsteigen, die Seraphim zu erfreuen.«

Sogleich verflüchtigte sich der erste Eindruck, die Zuhörer wurden unruhig: er fühlte, daß er sein Auditorium nicht mehr beherrschte, und rief plötzlich hart:

»Gott nennt sich Gerechtigkeit, bevor er sich Liebe nennt. Möge der Schrecken in euern Seelen sein, weil er allein das Böse daraus verjagt. Ihr wißt nicht, daß ihr Sünderinnen seid, scheint es, meine Schwestern? Sehen wir in eure reinen Herzen!«

Diese Ironie nach Baudelaire erschien seltsam.

»In welcher Geistesverfassung seid ihr gekommen, das Wort der Wahrheit zu hören? Ihr seid gekommen wie zu einem weltlichen Schauspiel! Ihr habt gezögert zwischen der Kirche und dem Theater, und ihr habt euch für die Kirche entschieden, weil im Theater kein neuer Komödiant auftrat und weil in der Kirche ein neuer Prediger sprach.«

Die Prinzessin Este wiederholte das Wort ihrer Freundin: »Das ist auch eine Premiere und ein Debüt.«

»Eure weltliche Neugier kommt nicht von einer Liebe zur Schrift; nicht der Redner zieht euch an. Ihr kommt, um den Mann zu sehen, der im Mönche ist. Der Mönch, der ein Mann wäre, würde ein Ungeheuer sein! Schande über euch, vor das Tabernakel die schlimmsten Gedanken der Geschlechtlichkeit zu bringen. Den Mann Gottes mit dem Auge des Fleisches betrachten, ist Gotteslästerung! Wenn ein Erzengel zu dieser Stunde die Gotteslästerer aus der Halle verjagte, würdet ihr wenig zahlreich um diese Kanzel sein!«

Die Atmungen pfiffen in einem beklommenen Schweigen.

– Er ist unanständig, murmelte die Marquise de Trinquetailles.

»Unsere größten Verbrechen sind nicht unsere Handlungen: die hängen von den Umständen ab, die uns behindern oder begünstigen; noch unsere Worte: außer den Stunden der Schwäche oder des Zornes sagen wir nur, was wir wollen. Unsere Gedanken, die nichts zwingt, die nichts hemmt, das sind unsere großen Verbrechen.«

»Frauen der Welt, leichtfertige und eitle Geschöpfe, ihr wagt einen Blick schlechter Neugier auf den Priester zu erheben: wenn ich eure geheimen Gedanken von gestern, von heute morgen, von jetzt enthüllte, welche Verwirrung würde euch ergreifen und welche Röte würde eure hochmütigen Stirnen färben!«

»Wagt es zu sagen, daß eure müßigen Stunden nicht von dem Traum des Ehebruchs heimgesucht werden; daß eure Schlaflosigkeiten und eure Trägheiten sich nicht an schmutzigen Gedanken erfreuen; daß ihr die Begierde, die euch bei ungesunden Büchern, bei unzüchtigen Schauspielen erfaßt, nicht schürt; daß ihr euch nicht mit Freuden verbotenen Erregungen aussetzt.«

»Wagt es zu sagen, Frauen, daß eure Gedanken nicht beim Ehebruch sind, junge Mädchen, bei der Schändung, Witwen, bei der Unkeuschheit, alle, bei der Wollust!« …

»Die Welt, sagt Massillon Massillon, Fastenpredigten. Deutsche Ausgabe, Regensburg 1866., die in dieser Sünde keine Zurückhaltung mehr kennt, fordert dennoch viel in der Sprache, die sie verdammt.« Trotzdem werde ich eure Schande kundtun.«

»Meine Schwestern, ich betrachte euch Ehefrauen als treu, euch Jungfrauen und Witwen als keusch, und doch sage ich euch dies: ihr seid keine anständigen Frauen. ›Jede Wollust wird erlassen werden,‹ sagt der Apostel, ›aber der Geist der Wollust wird niemals verziehen werden, weder in dieser Welt noch in jener.‹«

»Unbewußte Sünde, habe ich gesagt, wenn man eure Heiterkeit sieht; aber ich werde euerm Vergehen dieses Beiwort nehmen, das eine Entschuldigung zu sein scheint; in eure Herzen hinabsteigend, werde ich dort so viel Licht machen, wie nötig sein wird, daß ihr eure Sittenverderbnis zugebt!«

»Wenn diese Prüfung, in die ich euch zwingen werde, euch nicht bekehrt, so werdet ihr euch wenigstens künftig wissentlich verdammen! Ihr haltet euch für weise und seid Dirnen im Geiste.«

»Der Geist der Unzucht ist die Gewohnheit, sich beständig mit diesem Laster zu beschäftigen. Nun ist dauernd hehlen schlimmer als einmal stehlen: weniger schuldig ist jene Frau, die einmal unterliegt, als die andere, die mit täglichen Versuchungen spielt.«

»Immer beweinenswert ist der Fall, aber sich mit der Sünde die Zeit vertreiben, heißt Gott verachten! Eure Unzucht, meine Schwestern, ist keine vorübergehende Handlung des Körpers, sie ist ein dauernder Zustand des Geistes; ihr spielt mit dem Laster, und wenn ihr im Spiele anhaltet, so ist es die Furcht vor den traurigen Morgen; eure Zurückhaltung scheint aus Feigheit gemacht.«

»Wisset, meine Schwestern, Johannes sagt, daß es eine Todsünde gibt, für die man nicht beten darf. Diese Sünde, das ist die Sünde der Bosheit, eure Sünde! O Frauen der Welt, aus welchem Laster ist eure Tugend gemacht, und wieviel Schande ist in eurer Enthaltsamkeit! Ich habe gesagt, ihr seid nicht Ehebrecherinnen: ich habe gelogen! Seht in euch selbst, ob sich auf euern Gesellschaften der Wunsch, die Ehe zu brechen, niemals in euern Herzen erhoben hat: Ehebrecherinnen im Gedanken, werdet ihr von einer Sünde des Herzens weniger beschmutzt als von einer Sünde des Körpers? – O Gott, wieviel Schmutz ist im Herzen des Menschen und wie sehr muß man glauben, daß dein Mitleid dein Gericht zum Schweigen bringt!«

»Ihr werdet verantwortlich sein, sagen die Väter, für alle Sünden, zu denen ihr der Anlaß gewesen seid; und, fügen sie hinzu, die Anstiftung zur Begierde ist die schlimmste Unzucht.«

»Begreift ihr Frauen der Welt, diese furchtbaren Worte? Ich habe euch gefragt, wie viele Male ihr den Ehebruch in euerm Herzen begangen habt? Diese Zahl, ihr kennt sie nicht! Ich frage euch jetzt, wie viele Male ihr andere den Ehebruch des Herzens habt begehen lassen? Ihr kennt auch diese Zahl nicht, und wenn ihr sie wüßtet, würdet ihr, weit entfernt, darüber bestürzt zu sein, Ruhm daraus ziehen; denn es gibt nur einen Zweck in euerm Leben: die Begierde erregen.«

»Welcher Unterschied ist zwischen der Buhlerin und euch? Ein einziger, und der entlastet euch nicht: die Buhlerin hält, was sie verspricht, während ihr versprecht, ohne zu halten. Ihr lügt: von allen Begierden, die zur Buhlerin gehen, wie viele sind von euch entfacht! Ach, diese Lasterhaften, die euer Gefolge ausmachen, würden euch schnell verlassen, wenn ihr keine Weide für ihre Laster wäret … Was sie an euch bezaubert, ist das euer Geist? Ihr seid Nullen, ihr seid leer: ihr kennt nur das Verleumden und das Kleiden. Euer Reiz ist ein Reiz des Körpers, sonst würde die Welt, die nur den Körper liebt, euch nicht feiern …«

In der ungeheueren Kathedrale keuchten die Atmungen; Schweiß perlte auf den Stirnen, die Brüste klopften gegen den Stoff des Mieders, die Hände krampften sich; eine Flut getretenen und darüber empörten Stolzes mischte sich mit einer Verwirrung, einem Erstaunen, die niemand kalt ließen.

Der Mönch vergaß nichts in seiner Anklage. Eine Stunde lang schmetterte er die Weltkinder zu Boden.

»Ihr seid entrüstet, daß ich euch entlarve, und morgen werdet ihr zurückkehren zu eurem …«

Er hielt inne und ließ das Wort über den Zuhörern schweben: diese murrten beinahe.

»Die Frucht dieser Predigt wird eine Verleumdung sein; ihr werdet sagen, daß der Apostel euch geärgert hat! Da ihr Heuchlerinnen seid, wollt ihr nicht, daß man euch mit dem Namen eurer Sünde nennt! Aber wie haben denn die zu euch gesprochen, die mir auf dieser Kanzel vorangegangen sind? Ah, es mußten so heilige Seelen sein, daß sie das Böse nicht kannten. Verderbliche Unwissenheit: der Name Gottes ist Wahrheit! Ich werde nächsten Sonntag euern Gatten und euern Brüdern sagen, was sie sind, wie ich heute euch gesagt habe, was ihr seid!«

Er hob die Arme.

»Verzeihe mir, o mein Gott, daß ich die Echos dieses Heiligtumes ermüdet habe, indem ich die Werke des Bösen tadelte! Ich habe jene Peitsche in die Hand genommen, mit denen du die Wechsler aus dem Tempel gejagt hast, um die Laster zu verjagen, von denen diese Seelen besessen sind.«

»Ueber dem Tabernakel tritt der Erzengel den Dämon mit Füßen-, die Engel peitschen Heliodor: der Apostel hat das Recht, das Böse zu beschwören, um es zu deinen erhabenen Füßen niederzuschmettern, nicht wahr, o mein Gott?«

Er senkte seinen Blick und seine Gebärde.

»Beklagt mich, daß ich euch verachte, meine Schwestern. Wäre nicht die Gnade des heiligen Amtes, hätte ich nicht die Kraft, mich über den Aussatz eurer Herzen zu neigen, um sie zu heilen.«

»Möge euch die Gnade berühren! Möge Gott euch verzeihen! Nicht die Sünden eures Lebens, die ein Leben von Sühne verlangen, sondern nur die, welche ihr begangen habt, indem ihr mich anhörtet.«

Er machte über der Gemeinde ein großes Zeichen des Kreuzes; seine weiße Gestalt verschwand in der Wendeltreppe.

Die Zuhörer blieben einen Augenblick unbeweglich, die Augen auf die leere Kanzel gerichtet. Dann erhoben sie sich, schüttelten sich, als seien sie naßgeregnet; jede hatte das Bewußtsein, ihre Züge verändert zu haben, und sah diese Aenderung um sich herum.

Plötzlich ergoß sich eine Flut von Beiwörtern. So rächte sich der Stolz der Weltkinder.

– Was denken Sie darüber? fragte die Marquise de Trinquetailles, die bereits die Erregung leichtfertig abgeworfen hatte, da diese zu schwer für ihre runden Schultern war.

– Ich denke, sagte die Prinzessin, daß der Ausruf Casellis: Soviel Sonne und kein Mensch! geschlagen ist.

Man wartete auf den Segen in einer so lebhaften Unterhaltung, daß einige dieser Damen den Kopf zu senken vergaßen, als der Priester die Monstranz erhob, während andere noch sprachen, über ihren Stuhl gebeugt.

Im Windfang fragte die Herzogin von Noirmoutier:

– Bedauern Sie, gekommen zu sein? Ein solcher Visionär ist selten und seltsam!

– Sie tun Ihrem Urteil Unrecht: dieser Mönch hat in erhabener Weise die Wahrheit gesprochen! erklärte Leonora von Este.


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