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III.
Die Entarteten

– Er ist auf den Leim gegangen, sagte die Nina zu Gadagne, und würde eher sein Brot als mich entbehren.

– Sie lieben ihn etwas?

– Ich liebe nur mich … und wieder mich! Aber er ist mir nicht lästig; er schmeichelt mir in zwei Punkten: der Eigenliebe und dem Liebesgenuß! Ich vergesse dabei die Zärtlichkeiten meines sterbenden Gatten … »Gevatter Sperling«, summte sie … Er hat mich an den Eitelkeiten des Fleisches Geschmack finden lassen. Dann sieht er aus wie die Helden, die ich als Kind im Theater bewunderte: er ist Lagardère, d'Artagnan, die eiserne Maske, Don Cesar de Bazan. Er paßt mir gerade! Nun will ich mein Leben regeln! … Indem ich die verkommenen Genies meines Kreises und die Originale seines sorgfältig aussuche, denn seine Vertrauten sind »nicht von Schwert, nicht von Kleid, sondern von Geist«, werde ich mir einen Hof bilden, um den die Prinzessin Este mich beneiden wird … Sie haben recht, Gadagne, die Dichter, die schreiben, die Künstler, die schaffen, erschöpfen sich in ihrem Werk: in die Gesellschaft bringen sie nur den Ausschuß ihrer Gedanken. Es leben die verkommenen Genies für das Vergnügen: die sprechen, was die Andern schaffen … Da ist eine Feder, ich diktiere Ihnen mein geistiges Haus: schreiben Sie wenigstens wie Ihre Katzen Wenn man es auch nicht lesen kann.. Wir wollen zur Trennung der Guten und der Bösen schreiten: vor den Schlimmsten werden wir uns hüten … Beginnen wir! Auf Seiten des Prinzen!

– Merodach, an der Spitze, bedeutet diese große Entflohene, diese schöne Unbekannte, diese ewige Abwesende: die Tugend. Er ist interessanter als das Laster: ein außerordentlicher und einziger Fall. Das einzige Medusenhaupt, das ich kenne.

– Cadenet, als zweiter … der Orpheus der Böcke …

– Antar, der mich sein »Laster II« nennt: die Prinzessin Este ist sein »Laster I«.

– Quéant, der Vorredner.

– Der Herzog von Nimes, der immer auf der Jagd nach einer Entartung ist, die ihn flieht.

Zusammen: fünf; mit dem Prinzen sechs.

Jetzt, auf Seiten der Nina. Meinem Hof fehlt es etwas an Haltung, aber das hindert ihn nicht, stark zu sein …

– Erlon, mein gewöhnlicher Maler, der mir kitzelnde Halbnackte in Wasserfarben pinselt …

– Pouancé, mein Doktor, fähig, das »Nachlaß-Pulver« zu mischen So hieß das Gift, mit dem die Voisin (verbrannt 1680) ihre Opfer tötete., wenn er erben könnte, aber von einem wunderbaren Wissen in der Kosmetik.

– Beauville, der Philosoph des Unbewußten, der Mann des »Alles ist erlaubt, alles ist löblich«. Bei der letzten Sonntagspredigt verfocht er, die Begierde habe ihr Recht auf Befriedigung; jeder habe das Recht, die Folgerungen aus diesem Lehrsatz zu ziehen: die Decke ist nicht eingestürzt!

– Ligneuil, der Techniker der »Seltsamen Berufe« …

– Tisselin, der Machiavelli zur Disposition …

– Iltis, der Krämer der Neuigkeiten des Lasters, die ruhige Hyäne der sozialen Schandtaten …

– Saint-Méen, der verdorbene Elegiker …

– Talagrand, eine Leier ohne andere Saiten als die seiner Kleider, deren Fäden man sieht, und die eines Strickes, den er immer trägt in der Erwartung, daß der ihn einmal tragen wird …

– Rudenty endlich, der Mann der Massen, der Ehrgeizige der Straße und des Vereins, der Einzige, der einer tierischen Anhänglichkeit und einer einfältigen Ergebenheit fähig ist.

– Mérigneux vergaß ich, den Sekretär des Prinzen, der nach dem Satze »das ist mir einerlei« handelt.

Fassen wir zusammen: Erlon, mein Maler; Pouancé, mein Arzt; Beauville, mein Kaplan; Ligneuil, mein Wörterbuch; Tisselin, mein Minister des Auswärtigen; Iltis, mein Polizeipräfekt; Talagrand, mein Glückbringer; Saint-Méen, mein Troubadour; Mérigneux, mein umgekehrter »Quoheleth«: das sind acht, und wir beide, macht zehn. – Uebertrag sechs. – Sechzehn, die Sechzehn; wenigstens plagiieren wir nicht Balzac Balzac, Geschichte der Dreizehn.. Kein Widerspruch, mein Geheimer Rat. Zum ersten … zum zweiten … der Nina zugeschlagen.

Und sie schleuderte ihre Hausschuhe an die Decke mit einer Bewegung, die ihre Beine zeigte.

Als Lady Astor von Killiet zurückkehrte, war ihre erste Sorge gewesen, sich ein Haus zu suchen. Sie kaufte für eine halbe Million das Gebäude, das der Amerikaner Clyston der Emma Lytt gegeben hatte, dieser Renée Mauperin Goncourt, Renée Mauperin (Roman). des Lasters, die auf so unerklärliche Art gestorben ist.

Auf Gadagnes Antrieb machte sie aus dem Erdgeschoß eine Säulenhalle im bildlichen Sinne: einige Zeit setzte sich dort jede Nacht eine Rotte verkommener Genies zu Tisch. Der rote Saal der Rue des Dames erschien wieder, wo ein heißer Wein beständig Paradoxa begoß, die den Blitz herausforderten.

Sie hatte die Neugier nach berühmten Leuten gehabt, aber sehr bald gefunden, daß diese durchaus nicht so bedeutend waren wie deren Werke: deshalb beschränkte sie sich auf die geistige Elite der Gescheiterten, dieser Affen, die wirklich allein die Laterna magica des Geistes zeigen.

Bei der geistigen Berührung mit diesen Strauchdieben des Gedankens, die vom Bösen nur seine Abstraktionen und Theorien schätzen, verliebte sich Lady Astor in das entartete Wort. Die Aesthetik des Bösen, dieses übernatürliche Laster, dessen Erscheinen den Verfall ankündigt, verführte sie und entwickelte in ihr selbst, was die Kirche den Geist des Teufels nennt.

Man leugne Satan! Die Zauberei hat immer Zauberer gehabt; nicht mehr Hirten, welche die Nestel knüpfen Durch heimliches Knotenknüpfen zeugungsunfähig machen. Goethe, Tagebuch:
Warum der Bräutigam sich kreuzt und segnet,
vor Nestelknüpfen scheu sich zu bewahren.
, Pächter behexen und Tiere besprechen; sondern höhere Geister, die kein Zauberbuch nötig haben, da ihr Gedanke eine Seite ist, die durch die Hölle, für die Hölle geschrieben wurde. Statt des Zickleins haben sie in sich die gute Seele getötet und gehen zum Sabbat des Wortes. Sie versammeln sich, um die Idee herabzuziehen und zu beschmutzen. Das Laster, das da ist, genügt ihnen nicht: sie erfinden, sie wetteifern im Suchen nach dem »Neuen Bösen«, und wenn sie es finden, klatschen sie Beifall. Was ist schlimmer: der Sabbat des Körpers oder der des Geistes, die verbrecherische Handlung oder der entartete Gedanke?

Das Böse begründen, rechtfertigen, erheben, es in Formen bringen, seine Größe aufzeigen, ist das nicht schlimmer als es begehen? Den Dämon verehren oder das Böse lieben: ein abstrakter oder konkreter Ausdruck der gleichen Tatsache. In der Befriedigung des Triebes liegt etwas Blindheit, in der Ausübung des Verbrechens etwas Wahnsinn, aber das Böse ersinnen und lehren, erfordert eine ruhige Arbeit des Geistes, die das »Höchste Laster« ist.

Obgleich Courtenay von den Vorurteilen des Adels angesteckt war, zog er diese seltsame Gesellschaft den langweiligen Leuten seines Standes vor; um so mehr, als er sich von dem wirklichen oder geheuchelten Respekt, den ihm diese Priester der Respektlosigkeit bezeigten, geschmeichelt fühlte.

Als die Nina ihnen ihren Wirt ankündigte, hatte Talagrand geantwortet: »Ich sage ebenso gern ›Hoheit‹ wie ›Meine Alte‹.« Es gefiel ihnen sofort, im Verkehr einen König anzuerkennen, den sie als regierenden Herrscher ausgepfiffen hätten. Sie nannten ihn »Sire«. Zuerst erstaunt, war der Prinz ihnen für diese ideale Krone dankbar, die wie etwas Schönes nicht existierte.

Seltsam war der Abend der Vorstellung. Der Prinz fürchtete, mit den neun schwarzen ernsten und ironischen Röcken in schlechte Gesellschaft zu geraten: um sie die Haltung, die er von Ihnen forderte, fühlen zu lassen, beschenkte er sie mit diesem Wörtchen »von«, das man in Frankreich wie einen Titel ansieht.

Die Nina nannte die Namen; Courtenay sprach einige vorbereitete Worte der Aufnahme; der Gast grüßte und ging vorbei, als sei er im Theater.

– Herr Gadagne, mein geistiger Vater, sagte die Nina.

– Herr von Gadagne, sprach der Prinz, Sie brauchen nicht vorgestellt zu werden: bin ich Ihnen nicht verpflichtet?

– Herr Erlon, mein gewöhnlicher Maler, der nicht gewöhnlich ist!

– Herr von Erlon, ich habe Werke von Ihnen für solche von Rops gehalten: das ist das Höchste, was ich Ihnen sagen kann.

– Herr Pouancé, mein Doktor.

– Herr von Pouancé, Sie sind der Arzt der Grazien: nur die Schönheit pflegen, das ist mehr als Wissenschaft, das ist Kunst.

– Herr Beauville, genannt der Unbewußte.

– Herr von Beauville, diese Fähigkeit, das Falsche wahr zu machen, beweist, daß Sie eine freie und unsterbliche Seele haben.

– Herr Ligneuil, mein Wörterbuch.

– Herr von Ligneuil, müßte man nicht Enzyklopädie sagen?

– Sind sie alle adelig? fragte Quéant den Sekretär Mérigneux.

– Keiner: er adelt sie, um mit ihnen verkehren zu können, ohne zu sinken.

Die Vorstellung ging weiter.

– Herr Tisselin, Machiavelli II.

– Herr von Tisselin, ich möchte Sie gern verwenden.

– Herr Saint-Méen, mein außerordentlicher Dichter.

– Herr von Saint-Meén, Sie haben die Orgie zum Weinen gebracht: das heißt sie rehabilitieren.

– Herr Talagrand, mein Glückbringer.

– Herr von Talagrand, wenn Sie talismanisch sind, muß man Sie schonen.

– Herr Rudenty, meine Hydra der Revolution.

– Herr von Rudenty, wir ändern Hydra in Hydreia, Brunnen, nicht wahr?

– Herr Iltis, Herr von Réaux, von Bachaumont Anspielung auf die französischen Dichter Tallemant des Réaux († 1701) und Bachaumont († 1702), wie auf S. 108. und andern Orten.

– Herr von Iltis, Sie werden also unsere »Historietten« niederschreiben.

Jetzt zeigte die Nina auf die neun Männer, die sich um den Prinzen gruppierten.

– Merodach, die Sphinx seines Staates; Herr von Quéant, der Vorreden besser als Nodier verfaßt und mehr davon geschrieben hat als Sainte-Beuve, aber in dem Sinne: »an diesem Tage lasen wir nicht weiter«; der Herzog von Nimes, entartet von Beruf, tugendhaft durch die Ungnade Gottes; Herr Cadenet, unzüchtiger Musiker; Herr Antar, gegen seinen Willen antiphysischer Bildhauer; Herr Mérigneux »As you like it« …

Man setzte sich: die sechzehn schwarzen Röcke falteten sich in den sechzehn blauen Sesseln.

Die Nina brach in ein Lachen aus, das seit einer Weile in ihr arbeitete.

– Sie sehen nicht mehr aus wie Robert de Courtenay, Sire, sondern wie Robert der Räuberhauptmann zur Zeit des Rocambole »Rocambole«, Dramatisierung des Romans »Die Dramen von Paris« von Ponson du Terrail (1829-71)..

Ein scharfes Lächeln machte die Runde im Salon.

– Aber, wagte Rudenty, der Herzog von Valentinois war ein Räuberhauptmann.

Seine starke Stimme schien einen Heidenlärm in dem Schweigen zu machen, das nur vom Knarren der Stiefel und den sich werfenden Vorhemden unterbrochen wurde.

– Mandrin und Cartouche Mandrin, Schmuggler-Hauptmann, gerädert 1755; Cartouche, berüchtigter Dieb, starb 1721. sind nicht gemein, wagte Ligneuil.

Nach und nach kamen ihre Ideen wie Klingen aus der Scheide. Als man Seiner Hoheit meldete, daß angerichtet sei, hatten sie schon den Herzog von Nimes außer Fassung gebracht.

Bis zum Nachtisch herrschte etwas Zwang.

– Die fluidischen Strömungen durchdringen sich, sagte Merodach.

Um drei Uhr morgens hatte die Trunkenheit des Paradoxen Risse in alle Urteile gebracht. Talagrand sprach in Versen nach der Leier seines Galgenstrickes Siehe Seite 207.. Der Herzog von Nimes, der nicht dazu gekommen war, sich zu berauschen, zügelte jeden Augenblick sein Urteil, das mit ihm durchgehen wollte.

Der Prinz gewöhnte sich schnell an seinen seltsamen Hof.

Zwei Jahre lang fand das Sonntagsessen statt und es hatte sich eine Vertrautheit eingestellt, die auf gegenseitiger Nichtachtung beruhte.

Alle diese Menschen, zu überlegen, um nicht den Panzer des Andern zu durchdringen, hatten sich stillschweigend geeinigt, die Waffen niederzulegen.

Sie waren wie Tiger, die ihre Krallen eingezogen hatten, um unter einander zu spielen.

– Lassen wir unsere Galle an der Tür, hatte Beauville gesagt; wenn wir fortgehen, werden wir sie wieder mitnehmen.

Der Prinz und die Nina, Antar und Cadenet waren zu sichtbar, als daß man über diese Sitzungen klatschen konnte. Viele strebten danach, zugelassen zu werden: einstimmig lehnte man es ab: ein siebzehnter Gast hätte vielleicht die harmonische Kette gebrochen.

Eine Legende bildete sich: es fehlte nicht viel, so hätte man sie angeklagt, daß sie Säuglinge zum Nachtisch aßen. Sie kümmerten sich nicht darum.

Ohne daß eine Losung ausgegeben war, verband sie eine Gemeinschaft fester, als sie selbst glaubten.

– Wir sind sechzehn Männer, begann eines Abends Gadagne.

– Ich bin eine Frau, wendete die Nina ein.

– Fünfzehn Männer und eine Gynandre, wiederholte er, um einen Abend in der Woche die Zeit totzuschlagen, und wir erreichen es.

– Und wir können sagen, schloß Talagrand, daß die künftigen Rassen, die langweiliger sein werden als wir, weil sie älter sind, nicht dieses mutige Beispiel haben werden, das schriftlich aufgesetzt ist und verdienen würde, in Versen Banvilles besungen zu werden, mit Reimen aus Platin, da das Gold ein gewöhnliches Metall geworden ist.

Zufrieden, die erste Hetäre von Paris zu sein, tröstete die Nina den Prinzen über seine Enttäuschungen: selbst im Bett spielte sie die Untertanin, verschwendete die niedrigsten Wollüste an ihn und ließ seinen Stolz jauchzen, indem sie eine entartete Lavallière wunderbar spielte.


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