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VII.
Eine Première

Auf dem Boulevard des Italiens, in der Höhe der Marivauxstraße, rief Cadenet Talagrand und Saint-Méen, die dort standen und rauchten, außer Atem zu:

– Alles ist bereit!

– Was im Menschen am meisten vibriert, ist der Bock.

– Es gibt Kopfböcke!

– Wahrhaftig, rief Cadenet, der »Gleichgiltige« ist derartig unspielbar, daß ich ihn nicht für gespielt halte.

– Das ist verschleiert für alle Augen, die nicht schielen …

– Wenn das Publikum nicht entartet ist, wird es keinen Sinn darin finden …

– Es hat aber doch Sinne …

– Eins beruhigt mich, schloß Cadenet, das ist die Idee, die Mérigneux hatte: der ganze Saal ist gepachtet und nur Geladene sind Zuschauer, aus der großen Welt und aus der Literatur. Ein Publikum des neunten Kreises Dante, Inferno XI, 49:
Darum beschließt der engste der drei Kreise
mit seinem Siegel Sodom sowie Cahors
und die böswillig Gott verachtend reden.
: wenn das Feuer des Himmels nicht anderweitig beschäftigt ist …

– Da kommt der, der in der Hölle war, mit seinem Geschöpf Marestan …

Sie wechselten Händedrücke mit Merodach.

– Ich bin noch verblüfft von Ihrer Freske über die Minderzahl. Nun, wir werden das Astrallicht mit Reflexen schmücken! … Achtung vor den Larven! …

– Man hat mir gesagt, meine Herren, sprach Marestan, daß Ihr »Gleichgiltiger« …

– Sie nicht gleichgiltig lassen wird!

– Meine Ansicht über das Stück, rief Saint-Méen, ist die einer oft zitierten Unschuld: es ist weder schön noch häßlich, es ist hermaphroditisch!

Sie lachten ein perverses Lächeln.

– Merodach beweint die lateinischen Rassen.

– Wollen wir nicht eintreten, sprach dieser.

Im Saal glänzten bei halb brennendem Kronleuchter Reihen weißer Vorhemden auf dem Balkon über dem gähnenden Schatten der Logen. Auf dem Amphitheater warf man sich Zoten zu von Leuten, die »Aloysia Sigaea« im Original gelesen haben Nicolas Chorier, Gespräche der Aloysia Sigaea, Paris 1881..

– Beachten Sie den Anstand der Galerie: ich habe sie aus Kandidaten für die Akademie und das Gefängnis zusammengesetzt, sagte Saint-Méen.

Hinter dem Vorhang hörte man die Hammerschläge von der Aufstellung einer Kulisse.

Die Logen füllten sich … Viel Damen vom Faubourg Saint-Germain in geschlossenen und dunkeln Kleidern.

Im Parkett der ganze Hof der Prinzessin von Este, die Blüte des Adels und die Sechzehn.

In einer vorderen Loge Marcoux mit seinem Aufsichtsrat.

– Du bist schon ersetzt …

Und Merodach zeigte Marestan die Loge der Marquise de Trinquetailles, in der sich Nonancourt befand.

– Die Nina?

Diese Frage stellte eine Hälfte des Saales der andern.

In der Erwartung der anständigen Frauen lag eine neidische Ungeduld, diese Dirne zu sehen, die der Verachtung und der Neugier entschlüpfte.

Ein Akkord, dissonierend und wagnerisch, in dem die Bleche durchdringend schrien, schnitt die Gespräche kurz ab. Sogleich weinte eine weiche Melodie in schleppenden Tönen. Blonde Frauen in weicher Fülle schienen durch sommerlichen Regen zu ziehen, mit Schuhen ohne Absätze, mit Gedanken ohne Gegenstand. Dann klangen die Töne wie feines Gaffen, wie schlaffe Arme, die sich ausstrecken, wie Haltungen von Langeweile erdrückt, wie kraftlose Geräusche von Körpern im Wasser. Bald liefen Schauer von den Geigen zu den Bässen und die Flöten piepten lüstern. Allmählich spaltete sich das Orchester und zwei Ouvertüren wechselten ab, sich vermengend, sich entzweiend, sich verschmelzend. Während die Saiteninstrumente, die Oboen und die Harfen ideale Klagen hinwarfen, begleiteten die Bleche und die Trommeln spöttisch; der schallende Lärm eines Vorstadtballes, durch das ideale Motiv durchkreuzt: diese »geliebte Melodie«, die Berlioz durch den Trauermarsch erscheinen läßt.

Wie in der Serenade des »Don Juan«, wo sich die Guitarre über die schmachtende Stimme lustig macht, hatte Cadenet Gegensätze hervorgehoben, aber in zynischer Weise, die Töne verzerrend, den Rhythmus verrenkend, mit pöbelhaften Staccati. Durch eine seltsame Entartung des Komponisten wurde die ideale Melodie nach und nach gewöhnlich: nicht der Sabbat war es, der schrecklich ist, sondern der Cancan, der dumm ist. Endlich, durch einen plötzlichen Uebergang, ein Gebet des ganzen Orchesters, stattlich und langsam.

Der Vorhang hob sich über einer Dekoration verödeter Berge, täuschender Felsen. Zwei Reihen Pilger stiegen herab, Pilger der Abfahrt nach Kythera, den kleinen Dreispitz auf dem Ohr, den bebänderten Pilgerstab in der Hand, in violettrotem Gewande. Das waren die Leidenschaftlichen, die sich, müde der gemeinen Liebe, auf die Pilgerfahrt zum Tempel der Chimäre begaben. Dann kamen die Pilgerinnen an die Reihe, mit einem starken Rauschen von Seide. Jeder trat nach einander an die Rampe, um dem Liebhaber oder der Geliebten von ihren Träumen zu erzählen, in kleinen Oden, in denen Saint-Méen es verstanden hatte, weder albern zu sein noch sich zu wiederholen.

Diese Porträts der Begierde, diese Beschreibungen des Geliebten, verschmolzen sich zu einem Chor; und die ganze Schar stieg die Bühne hinauf, ihren Weg fortsetzend, als ein pizzicato der Geigen prasselte: auf dem höchsten Felsen, fast die Luftstreifen berührend, erschien, schlank in seinem mattblauen Kostüm, Cölio.

– Die Nina!

Dieser Ausruf lief wie ein Murmeln durch die Zuschauer, die vor Entzücken unbeweglich dasaßen, ohne Beifall zu äußern.

Mit einer verächtlichen Herausforderung den Fuß aufsetzend, sprach sie mit ihrer tiefen Altstimme:

O IHR, DIE IHR CHIMÄREN SUCHT!

– Wer bist du, wunderbarer junger Mann? fragte der Chor.

Mit bubenhafter Gelenkigkeit sprang die Nina von Fels zu Fels.

Als ihr Fuß den Boden berührte, erschlaffte ihr Gang plötzlich und wurde so langsam, daß sie drei Minuten brauchte, um auf die Bühne hinabzusteigen, mit den trippelnden Schritten einer betonten Gleichgiltigkeit, mit Verzerrungen des ganzen Körpers.

– Wer bist du? fragte der Chor begierig.

Die Nina lehnte sich vor dem Souffleurkasten auf ihren Pilgerstab, in einer Haltung, die das Fehlen der Hüften zeigte, gähnte, streckte sich wie eine Katze und sang mit einer Stimme, die schmollt:

MAN NENNT MICH DEN GLEICHGILTIGEN.

Nach dieser Romanze, die den gesteigerten Eindruck des »Springbrunnens« von Baudelaire Stefan George übersetzt den Refrain:
Die Garbe, die tausendfach
Blumen schießt,
wo Sonne erfreut ihre
Farben ergießt,
wie Regen von reichlichen
Tränen fließt.
machte, rief sie, als der Chor erstaunte, von einer plötzlichen Glut ergriffen, die Lippen zum Kuß zusammenziehend:

ICH BIN DER GELIEBTE DER CHIMÄRE.

Und in einer fieberhaften Begeisterung beschwor ihre Zwitterstimme die schlechten Begierden.

Im Saal verdickten sich die Speichel, die Augen glänzten und die gekitzelten Lenden krümmten sich.

Die Pilger flehten Cölio an, ihr Führer zu sein. Nachdem er sich lange geweigert hatte, nahm er an.

Wieder der Gleichgiltige des Watteau geworden, ging er davon, mit seinem schleppenden und trippelnden Schritt, unter dem Triumphbogen der Pilgerstäbe.

Das Orchester wiederholte die geliebte Melodie, während Cölio, der Schar vorangehend, sich, wie er erschienen war, auf dem höchsten Felsen aufrichtete, von einem Strahl des elektrischen Lichtes verklärt.

Der Vorhang fiel über der heftigen Neugier des Publikums.

– Das ist das erste Mal, sagte ein Kritiker, daß der erste Akt mich nicht das Stück erraten läßt.

Das Parkett war aufgestanden und flüsterte, die Logen beäugend.

– Die Nina hat gut gesungen, sagte Cadenet; das beunruhigte mich.

Und er ging, um die Prinzessin Este zu begrüßen.

– So beginnen, ist gut, sagte diese. Aber wie enden? Die Librettisten?

– Talagrand, jener portugiesische Jude, und sein Nachbar, der lange magere Saint-Méen.

– Bringen Sie ihnen meine Komplimente und schicken Sie mir Merodach.

– Wie schade! sagte dieser zu Cadenet, der sich seines Auftrags entledigte.

– Sie kommen nicht einmal, um mich zu begrüßen, warf ihm die Prinzessin vor.

– Ich glaubte nicht, daß Ihnen etwas daran liegt!

– Sie setzen sich hier einem Astrallicht der Schlimmsten aus?

– Ich bin Mithridates Mithridates, 132-63 vor Christus, der König von Pontus, der Gegner der Römer, soll das nach ihm benannte Gegengift erfunden haben, das heute durch den Theriak ersetzt ist, wie auch Peladans Roman »Das Heilmittel« zeigt. und meine Vorbeugung …

– Da Sie alles erklären, unterbrach sie ihn, so erklären Sie mir, durch welche Macht die Schauspielerinnen verführen.

– Das ist eine Wirkung des Rückschlages. Vom ganzen Saal springt ein Ausstrahlen der Begierde auf die Schauspielerin über und findet sie in einem Zustande nervöser Tätigkeit, die es zurückwirft: so kommt das Fluidum auf die Zuhörer zurück und regt sie auf. Eine persönliche Aktivität wird immer über eine allgemeine Passivität herrschen. Die Schauspielerin ist im Theater ein unbewußter Magnetiseur, der sich des Gesetzes von der geschlechtlichen Anziehung bedient. Stellen Sie sich vor, daß das Fluidum ein elektrisches Ausstrahlen ist und die Schauspielerin ein Spiegel Ihnen gegenüber: Sie richten den Strahl auf den Spiegel, er kommt blendender in Ihre Augen zurück. Das ist aktiver Magnetismus. Dieses häßliche Mädchen in der dritten Loge links, Constance Hero, bedeutet die passive Anziehung. Sie hat keine Sinne; da das geschlechtliche Fluidum keine Vibration findet, die es zerstreut, heftet es sich an sie; da sie kalt ist, verliert sie es nicht, und so magnetisiert sie sich mit Laster. Die Sechzigjährige werden rosige und blonde Wildfänge wunderbaren jungen Mädchen vorziehen, und man wird sich naiv über eine wissenschaftliche Erscheinung wundern: »die metaphysische Magnetisierung der Körper«.

Das Zeichen für den zweiten Akt wurde gegeben.

– Bleiben Sie, Sarkis wird kommen.

– Danke; ich möchte aus der Nähe sehen, ich studiere …

In der Cella eines Tempels mit Oberlicht kauerte eine Chimäre aus Basalt; das Gras trieb zwischen den Fliesen, ein Greis lag neben einem flammenden Dreifuß.

Seit dreißig Jahren, seit er aus der Stadt der Sonne gekommen war, um in diesem verlassenen Heiligtum den Altar der ewigen Feuer zu unterhalten, hatte er nur grüne Eidechsen am Mittage, nur Eulen um Mitternacht gesehen. Er fühlte sich sterbend: das Feuer würde erlöschen, die Chimäre davonfliegen und das Unmögliche würde sich nicht verwirklichen. Er hatte kein Holz mehr, noch die Kraft, etwas zu sammeln: er zerbrach seinen Stock und schürte das Feuer, dann sank er hin.

Alle dreißig Jahre flog die Chimäre davon, in den Himmel der übernatürlichen Verwirklichungen den tragend, den sie auf ihrem Kreuz hatte, wenn der Freitag graute.

Morgen! Würde er bis morgen aushalten?

Seine Kräfte wieder sammelnd, schleppte er sich bis zu den Füßen des Kolosses; aber seine kraftlosen Arme glitten über die glänzenden Flanken: er wurde ohnmächtig.

Cölio erschien; er zerbrach seinen Pilgerstab und warf die Stücke auf den Dreifuß: die Flamme stieg empor.

Er kniete nieder und sang die Hymne an die Chimäre.

Als die Flamme erlosch, warf er seine Jacke aufs Feuer: mit nackten Armen, nacktem Halse erschien der Androgyn.

Da bemerkte er den Greis und belebte ihn mit Branntwein aus seiner Kürbisflasche.

– Hebe mich auf das Kreuz der Chimäre, sagte der Bischof, und ich werde dir das Geheimnis der Seligkeit sagen.

Cölio hob ihn auf den Koloß, und der Greis besang den Rausch der Apotheose.

Dann hauchte er seine Seele aus, mit den Worten:

– Morgen werde ich im Glück auferstehen.

Cölio goß den Rest seiner Kürbisflasche auf den Dreifuß und kleidete sich in ein Gewand aus Leinen ohne Aermel. Seltsame Riten begannen, Riten der Entartung.

Das ganze Publikum war irre geführt, konnte sich keinen Begriff davon machen; ein Stück ohne Thema, ohne Helden, ohne Intrige, in dem, außer Cölio, niemand einen Namen hatte: und doch berauschte diese Dichtung der Verderbtheit die Dekadenten.

Mondschein machte aus dem heiligen Wäldchen des dritten Aktes ein Gemälde von Prud'hon.

Cölio kam, eine brennende Fackel tragend, und sagte, in der Nacht von Donnerstag zu Freitag müßten die Pilger die möglichen Freuden erschöpfen, um sich der unmöglichen würdig zu machen: das sei für ihn, den Gleichgiltigen, ein trauriges Ereignis.

Fackeln leuchteten, getragen vom ganzen Pilgerchor in leinenen Gewändern. Cölio füllte eine Trinkschale und feuchtete seine Lippen daran; sie ging von Mund zu Mund; dann ward sie zerbrochen. Die Fackeln wurden in einen Brunnen geworfen. Ein rasender Reigen drehte sich, und die Pilger verschwanden in Paaren.

Allein geblieben, sang Cölio die Hymne an die Nacht.

Als er sich auf den Rand des Brunnens setzte, kam eine Frau, die zu ihm sagte: »Du bist meine Chimäre!« und ihn mit sich fortzog.

Auf einander im Schatten folgend, zogen umschlungene Paare vorbei: durch die ganz gleichen leinenen Gewänder schienen die Geschlechter vermischt zu sein.

– Das ist die Brunst! sagte Merodach, wie er gesagt hätte: das ist der Regen.

Und sich umdrehend, sah er den Saal unbeweglich und keuchend.

– Sieh, sagte er zu Marestan, der, selbst bezaubert, nicht hörte, sieh! Es gibt nur ein Geschöpf hier: es erfüllt die Bühne, es erfüllt den Saal, wie es die Welt erfüllt, wie es die Geschichte erfüllt: DAS TIER. Aber hier wird das Tier durch den Geist angestachelt, alle diese Phantasien beflecken sich. Oh, die schmutzige Selbstbefleckung des Gedankens … der geistige Rausch, der Trieb der Wollust durch den Geist der Wollust angespornt, die Seele den Körper kitzelnd! Die Trunksucht der Sinne ist scheußlich; die Ausschweifung des Triebes ist schändlich! Das! das! ist das »höchste Laster«.

Und plötzlich schrie der Magier mit furchtbarer Stimme:

WEHE!!! WEHE!!! DIE LATEINISCHEN RASSEN!!!

Dieser gebrüllte Ausruf, diese Idee eines Denkers, in pöbelhaftem Tone hinausgeschleudert, brach den Zauber. Alle Augen verließen die Bühne, um das Parkett abzusuchen.

Vom letzten Logenrand lobte eine Stimme:

– Gut gesagt, Jeremias.

Im Amphitheater wiederholte man: »Wehe! Die lateinischen Rassen! Wehe!«

Das gebildete Publikum begriff sofort die Bedeutung des Rufes; der Vorhang fiel über den unvollendeten Akt und man zündete das Gas an.

Der Schutzmann vom Dienst fragte, was das bedeute: »Wehe! Die lateinischen Rassen!«

– Daß die Republik verloren ist! wurde ihm geantwortet.

Von einem schönen Eifer erfaßt, stieg er ins Parkett hinunter und ließ sich die Störenfriede bezeichnen.

Die Prinzessin Este schickte Herrn von Montessuy, der zu gleicher Zeit wie der Schutzmann bei Merodach ankam.

– Geben Sie Ihre Stelle oder diese Sache auf, sagte der Graf.

– Ich kenne nur meine Pflicht …

– Bist du fertig? spottete Saint-Méen.

Der Schutzmann zog seine Feldbinde: die wurde mit einem Hurra begrüßt, das vom Parterre bis zum letzten Rang rollte.

Merodach betrachtete den Beamten kaltblütig.

– Folgen Sie mir, mein Herr, und schnell.

Die Sonntagsgäste hatten sich erhoben: zum ersten Male fühlten sie, daß eine Gemeinschaft sie verband.

– Warte, Schlingel, ich werde dich durchprügeln … rief der Herzog von Nimes.

Eine Orange kam geflogen und zerquetschte sich auf der Backe des Schutzmannes: man klatschte Beifall.

– Wer ist so stark in der Ballistik?

Von den Gebildeten regnete es Beiwörter:

– Alguazil!

– Watchman!

– Sereno!

– Prügelt den Guet!

– An den Strang die Santa Hermandad! Alguazil, span. Gerichtsdiener. Watchman, engl. Nachtwächter. Sereno, span. Nachtwächter. Guet, franz. Wache. Santa Hermandad, span. Polizeiwache.

Erblassend, legte der Beamte Merodach die Hand auf die Schulter, zog sie aber sofort verbrannt zurück und krümmte sich nach rückwärts unter einem unwiderstehlichen Winde.

Der Adept hatte keine Gebärde gemacht: indem er das ganze ihm günstige Fluidum des Publikums aufsaugte und es in eine lebende Elektrisiermaschine verwandelte, hielt er in diesem Augenblick den Blitzstrahl in der Hand und hätte den Beamten mit einem Faustschlag tot hinstrecken können.

Der verwirrte Schutzmann dachte nur daran, zu entkommen; aber der Herzog von Nimes rief:

– Hebt ihn hoch!

Sogleich wurde er ergriffen, hochgehoben, und das stehende Parkett, die Arme ausgestreckt, ließ ihn von Hand zu Hand gehen, ihn wie einen Sancho foppend. Die Menge trampelte vor Jubel mit den Füßen. Eine Freude am Bubenstreich ließ die Frauen lächeln; die Prinzessin Este tat, als riefe sie bravo, die Damen ahmten es nach und die Männer zerrissen ihre Handschuhe, um geräuschvoll zu klatschen.

– Mein Herzogtum für zwei Schlägel, rief der Herzog von Nimes.

Tierische Schreie schallten durch das Trampeln, das den Kronleuchter mit einem Staubnebel verhüllte.

Endlich, als die Arme müde wurden, stellte man den Schutzmann auf seine Füße. Man bedauerte, daß es schon zu Ende ging, aber man war zufrieden. Niemand verließ den Saal, man plauderte, ohne zu schreien, in einer köstlichen Heuchelei von Ruhe.

– Die Brunst wechselt, sagte Merodach. Das ist die Mißachtung: man möchte einen Kaiser verhöhnen, man verhöhnt die Polizei, aus Lust, die Autorität in Verruf zu bringen.

– Ergötzt es Sie, die Hand zu machen, die spricht? fragte Beauville.

– Die Würde des göttlichen Wortes verlangte einen Protest, antwortete Merodach.

Die Instrumente wurden gestimmt, als eine Flut von Schutzleuten in den Türen erschien. Ein furchtbares Hohngelächter rollte; das Trampeln wurde wütend; der Kronleuchter verschwand im Staube; Krachen von Getäfel war zu hören.

– Die Nummern Polizisten-Argot: öffentliche Hure., rief der Herzog von Nimes mit seiner Stentorstimme.

Bei diesem Wort zogen sich die Beamten zurück, von dem Sturm erschrocken und verwirrt. Der Lärm wurde ausgelassen, unbeschreiblich, toll. Bajonette leuchteten in den Türen auf.

– Welch hübscher Anfang der Revolution, rief Tisselin, von dieser Atmosphäre des Aufruhrs gewiegt.

Man hörte nicht auf die Mahnungen und die Sache wurde ernst, als der Herzog von Quercy, aus dem Ministerrat kommend, in der Loge der Prinzessin erschien. Er beugte sich vor, mit einer Gebärde der Meute Vernunft gebietend: die Truppen räumten die Gänge.

Der ganze Saal wandte sich der Prinzessin Este zu und klatschte wie rasend Beifall, ohne daß sie es zu bemerken schien. Dann setzte man sich wieder.

Der Vorhang erhob sich über der Dekoration des dritten Aktes. Im Tempel erwachten die Pilger, die auf den Fliesen geschlafen hatten, und suchten Cölio, klagend, als sei Adonis gestorben. Dann gingen sie, um ihn zu finden.

Alsbald trat Cölio ein, ganz in Goldbrokat gekleidet. Nach einer Beschwörung warf er den Leichnam des alten Bischofs auf die Erde und schwang sich auf die Chimäre.

Der Morgen dämmerte, die Pilger kamen zurück und sangen. Cölio, die Leier in der Hand, improvisierte eine Art Gebet aus dem »Moses«. Beim Finale fielen die Strahlen des Morgenrots auf sein funkelndes Kostüm; die Chimäre erhob sich, öffnete die Flügel und stieg langsam in einer elektrischen Glorie empor, während der ganze Pilgerchor sich anbetend niederwarf, wie am Fuße eines Berges Tabor, und einen gotteslästerlichen Lobgesang anstimmte.

Man klatschte über die Maßen Beifall, ohne daß die Nina geruhte wiederzukommen.

– Wehe, die lateinischen Rassen! wiederholte die Künstlerschaft des Publikums, und dieser Ruf erfüllte die Gänge. »Wehe, die lateinischen Rassen!«

Die Herzogin von Noirmoutier hatte sich der Prinzessin Este gesellt, und beide warteten, als sie ihre Pelze angezogen hatten, daß sich die Menge verlief.

– Kommen Sie morgen in die Notre-Dame: der Erzbischof hat mir Wunderdinge von dem Prediger erzählt.

Die Prinzessin verzog unentschlossen ihr Gesicht.

– Sie sind es sich schuldig, dort zu sein, das ist auch eine Première und ein Debüt.

Draußen zündeten Gruppen ihre Zigarren an und riefen in dem verlassenen Boulevard diesen Ruf, der sie belustigte, zumal sie dessen schreckliche Bedeutung kannten:

WEHE, WEHE, DIE LATEINISCHEN RASSEN! WEHE!


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