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Im Weißen Hause

In Washington riß man sich auf den Straßen um die Extrablätter mit den letzten Nachrichten von der Front. Man wartete stundenlang vor den Zeitungsredaktionen, aber die Entscheidung zögerte sich immer weiter hinaus, und wieder senkte sich Verzagtheit in die Herzen, wieder begann man zu zweifeln an dem endgiltigen Erfolge.

Sieben bange Tage der Erwartung!

Focht man denn gegen überirdische Gewalten, denen kein irdischer Heldenmut etwas anhaben konnte?

Im Weißen Hause war neben dem Arbeitszimmer des Präsidenten ein Telegraphenapparat aufgestellt worden, durch den der Präsident sofort alle Nachrichten von der Front erhielt. Auf einem Tische lag eine riesengroße Karte des Schlachtfeldes, auf dem der Kampf jetzt tobte. Der Privatsekretär des Präsidenten hatte auf der Karte durch bunte Holzklötzchen und kleine Fähnchen die Stellungen der amerikanischen Truppen markiert.

Jetzt erscholl die Klingel des Apparates, und auf dem Papierstreifen des Morseschreibers erschien eine neue Meldung des Generalstabes der Pacificarmee:

 

Fort Brigder, 8 Februar 6 Uhr p. m. Vom Fesselballon kommt die Meldung, daß auf der linken Flanke des Feindes anscheinend Truppenverschiebungen vorbereitet werden. Eine von zwei japanischen Bataillonen besetzte Stellung ist geräumt und sofort von Schützenzügen des 86. Regimentes mit zwei Maschinengewehren besetzt worden. Der Angriff des zweiten Bataillons des 64. Regiments auf eine durch Drahtverhaue gesicherte japanische Infanteriestellung blieb erfolglos, da der Feind mehrere maskierte Maschinengewehre unerwartet ins Gefecht brachte. Der Geschützkampf dauert fort, von General Elliotts Armee kommt die Nachricht, daß der Kampf gegen die im Tale des Bear River vorrückenden feindlichen Streitkräfte 3 Uhr nachmittags südlich Georgetown begonnen hat. Da der Feind unerwartet große Massen entwickelt, sind zwei Brigaden der Division Wilson vom Bells Paß nach Norden entsandt worden.

Generalmajor Illing.

 

Der Privatsekretär des Präsidenten verschob einige der bunten Klötze auf der Karte, veränderte die Stellung der Fähnchen am Bells Paß und schob zwei blaue Holzklötzchen in der Richtung auf Georgetown vor. Dann ging er zum Präsidenten und brachte ihm die Meldung.

Stunden vergingen wieder, es wurde Abend, es wurde Nacht. Um Mitternacht kam die Meldung, daß bei dem hartnäckigen Widerstand des Feindes bei Georgetown auch die letzte Brigade der Division Wilson vom Bells-Paß nach Norden vorgezogen worden sei.

»Die letzten Reserven,« sagte der Präsident, als er die Karte betrachtete, »ein gewagtes Spiel.«

Dann sah er zu seinem Privatsekretär hinüber. Der Mann schwankte vor Müdigkeit hin und her. Drei Nächte ohne eine Minute Schlaf. »Johnson,« sagte der Präsident, »gehen Sie schlafen, ich bleibe noch wach, habe noch zu tun. Gehen Sie schlafen, Johnson, ich brauche Sie nicht mehr.«

»Und der Apparat?« wandte der Privatsekretär ein.

»Ich höre ja alles nebenan, mir läßt es jetzt keine Ruhe. Außerdem hat sich noch der Kriegssekretär angemeldet, gehen Sie nur Johnson, ich werde schon fertig.«

Der Präsident setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und unterfertigte mehrere Schriftstücke. Eine halbe Stunde später wurde der Kriegssekretär gemeldet.

»Gleich, Harry,« sagte der Präsident und deutete auf einen Stuhl, »in fünf Minuten bin ich fertig.« Und während der Präsident weiter seine Unterschrift unter die Aktenstücke setzte, rückte sich der Kriegssekretär einen Stuhl zurecht, nahm ein Buch, legte es wieder fort, nahm eine Zeitung, legte sie wieder fort, nahm eine andere, las mechanisch einige Zellen, blickte dann gedankenvoll über den Rand des Blattes ins Leere, sprang auf und ging langsam auf und ab. Dann verschwand er im Telegraphenzimmer. Noch einmal las er die obenauf liegende Meldung, die daheim auch auf seinem Schreibtisch lag, noch einmal prüfte er die einzelnen Stellungen, verschob hier und da ein wenig die Holzklötzchen, dann schrillte draußen eine Klingel.

Leise Schritte auf dem Korridor, nebenan ging eine Tür. Er hörte den Präsidenten die Aktenbogen zusammenlegen, hörte ihn sagen, »Nehmen Sie alles mit hinüber, es ist fertig. Morgen früh … Morgen früh, ach so, es ist schon der 9. Februar.«

Dann ging wieder die Tür und der Präsident war allein. Er trat zu dem Kriegssekretär in das Telegraphenzimmer.

»Harry,« sagte er leise, »wir stehen vor der Entscheidung, vielleicht fällt sie schon in den nächsten Stunden. Ich habe Johnson fortgeschickt, er mag sich schlafen legen. Wir wollen allein sein in der Stunde, da das Schicksal unseres Vaterlandes sich entscheidet.«

Der Kriegssekretär ging rauchend, die Hände in den Taschen auf und ab. Beide Männer vermieden es, sich anzusehen, keiner wollte den andern die fiebernde Erregung merken lassen. Jeder horchte nur immer gespannt nach dem Apparat im Nebenzimmer, der die Schicksalskunde in sich barg.

»Um 10 Uhr,« begann der Präsident nach einer langen Pause wieder, »kam die Meldung aus Fort Bridger, daß tatsächlich auf dem linken feindlichen Flügel Truppenverschiebungen stattfinden, die nachmittags vom Fesselballon schon bemerkt waren. Das könnte, …«

»Ja, das könnte,« wiederholte der Kriegssekretär mechanisch.

Dann schwiegen beide wieder und pafften nur dichte Rauchwolken in die Luft.

»Und wenn doch wieder alles umsonst ist, wenn der Feind doch wieder …,« sagte der Kriegssekretär vor sich hin. Da lärmte der Apparat im Nebenzimmer.

 

Bells Paß 9. Febr. 1215 nachts. Division Ostermann hat nach erbittertem Nachtgefecht mehrere feindliche Positionen westlich Georgetown genommen. Kleinere Mißerfolge der Division Stranger durch Vorstöße der von Bells Paß eingetroffenen Brigaden wieder wettgemacht.

Oberst Tarditt.

 

»Wenn sie nur aushalten bei Georgetown,« sagte der Kriegssekretär, »wenn sie nur aushalten, es sind die letzten Reserven.«

»Gebe Gott, daß sie es tun.«

Dann gingen beide wieder hinüber in das Arbeitszimmer. Der Präsident blieb vor Lincolns Bild an der Wand stehen.

»Der hat auch solche Stunden durchgemacht,« sagte er leise, »genau solche Stunden, vielleicht hier in diesem Raume, damals während des Gefechts bei Hampton Roads, als der ›Monitor‹ gegen den ›Merrimac‹ focht. Damals bekam er hier auch Stunde um Stunde die Nachricht, wie der Kampf stand. O hätten wir heute Lincoln, daß sein Wort noch einmal durch unser Land gehen könnte.«

Der Kriegssekretär blickte den Präsidenten festen Blickes an: »Ja, wir brauchen Männer, aber wir haben auch Männer, vielleicht haben wir sogar Männer, die größer sind als Lincoln.«

Der Präsident schüttelte abwehrend den Kopf: »Ich weiß nicht, wir haben alles getan, wir haben unsere Pflicht getan, aber vielleicht hätten wir noch mehr tun können. Mir ist so angst um den Ausgang des Kampfes, es ist mir, als ob wir waffenlos dem Gegner gegenüberständen, als ob unsere Waffen stumpf wären.«

Wieder raste die Klingel des Telegraphen. Der Präsident machte ein paar Schritte auf die Tür zu und blieb dann stehen: »Harry, gehen Sie lieber, nehmen Sie die Depesche:

 

Fort Bridger, 8. Febr. 1150. Von der Division Fischer kommt über den Bells Paß die Meldung, daß zwei Regimenter ihrer Spitze unter Scheinwerferbeleuchtung feindliche Truppen aus ihren Stellungen geworfen haben und vor sich hertreiben.

Generalmajor Illing.

 

Wortlos rückte der Kriegssekretär mit dem Holzklötzchen der Division Fischer weiter nach Süden vor. »Einerlei, wie es bei Georgetown steht,« sagte er, »hier liegt jetzt die Entscheidung, sie kann in einer Stunde fallen,« und er deutete auf den linken Flügel der feindlichen Stellung im Gebirge. »Wenn jetzt ein Frontalangriff eine Lücke bricht …«

Er vollendete nicht. Schwer lag die Hand des Präsidenten auf seiner Schulter. »Ja, Harry, wenn … Das haben wir nun seit drei Vierteljahren gesagt. Wenn … und immer folgte auf das Wenn ein Aber, immer sagte der Feind das Aber.«

Der Präsident warf sich in einen Sessel und überschattete die müden Augen mit der Rechten. Unaufhörlich wanderte der Kriegssekretär im Zimmer auf und ab, gewaltige Rauchwolken von sich blasend.

3 Uhr morgens. Der schrille Ton der Klingel des Apparates ließ den Präsidenten auffahren. Langsam Zoll für Zoll rollte sich der weiße Papierstreifen von der Walze ab. Nebeneinander über den tickenden Apparat gebeugt, sahen die beiden Männer einen Buchstaben, ein Wort, einen Satz nach dem andern auf dem weißen Bande entstehen:

 

Fort Bridger, 9. Febr. 115. Zurückkehrendes Motorluftschiff meldet heftigen Artilleriekampf hinter dem linken Flügel des Feindes. Soeben Befehl gegeben zum Angriff auf die Höhenstellungen mit allen Kräften. Nächtlicher Artilleriekampf auf der ganzen Front. Die Regimenter gehen mit Hurra und unter dem Rufe: Remember Hilgard! zum Sturme vor. Nach einer Meldung vom Bells Paß hat der Feind bei Georgetown den Rückzug angetreten. Zwölf feindliche Geschütze erobert.

Generalmajor Illing.

 

»Harry,« rief der Präsident und ergriff die Hand des Kriegssekretärs, »Harry, wenn das der Sieg wäre.«

»Er wird es sein, er muß es sein« sagte dieser. »Sehen Sie hier,« und er verschob die Klötze auf der Karte von neuem, »der ganze Druck der drei Divisionen General Elliots steht auf dem linken feindlichen Flügel. Jetzt ein entschlossener Angriff …«

»Auf die Schützengräben in der Nacht?« wandte der Präsident ein, »wo die Truppen der Führung so leicht entgleiten, wo man ins Dunkle hineinschießt, wo ein unglücklicher Zufall den angreifenden Truppen den Sieg wieder entreißen kann? …«

Der Kriegssekretär schüttelte verneinend den Kopf: »Das Schicksal der Schlachten steht in Gottes Hand, wir müssen unseren Truppen vertrauen.«

Er ging mit langen Schritten um den Tisch herum, an dem der Präsident auf der Karte immer wieder die Stellungen beider Heere mit dem Inhalt der letzten Depeschen verglich.

»Harry«, sagte er dann, »wissen Sie noch damals in Harward, wo ich die Rede hielt über den Einheitsgedanken in der Geschichte der Völker; es war meine erste Rede, und wer hätte es gedacht, daß wir heute in diesen Zimmer zusammen sitzen würden. Sonderbar, wie mir das alles jetzt wieder in Erinnerung kommt. Als ich damals in der deutschen Dichtung die Entwicklung der Einheitsidee verfolgte, hat es mich als jungen Mann doch mächtig ergriffen, so manches gute Wort zu finden, was auch für uns von Bedeutung ist, heute erst recht von Bedeutung ist. Als der Siegesjubel von Sedan hinüberklang nach Deutschland, nach dem noch uneinigen Deutschland und der Erfolg der Waffen das Wort der Dichter sofort sicher und schnell auslöste, da klingt mir eins von den Liedern jetzt im Herzen ganz seltsam wider … Oh, wenn es wahr würde, wenn unsere Tapferen drüben, die jetzt an den Abhängen des Gebirges hinaufstürmen, wenn die es wahr machen könnten …« Wieder rasselte die Klingel des Apparates:

 

Fort Bridger 9. Febr. 236. Unter ungeheuren Verlusten haben die Brigaden Lennox und Malmberg die Artilleriestellungen auf dem feindlichen linken Flügel gestürmt. Zahlreiche Geschütze erobert. Von den Höhen Kanonendonner drüben im Tale deutlich zu hören. Division Fischer meldet durch Lichtsignale, daß sie den Feind erfolgreich zurückdrängt. Vor unserer Front beginnt der Rückzug der Japaner. Unsere Truppen …«

 

Das Weitere vermochte der Präsident nicht mehr zu entziffern, die Worte tanzten vor seinem Blicke. Dem harten Mann, der in keinem Sturme gezittert hatte, umflorte sich der Blick. Still faltete er über dem surrenden Apparat, aus dem sich der bedruckte Papierstreifen endlos, unaufhörlich hervorschlängelte, die Hände.

»Harry,« sagte er tief erschüttert, »diese Stunde ist größer, als der 4. Juli. Und jetzt Harry, jetzt weiß ich es, das Lied des deutschen Dichters, es sei unser Dankgebet:

»Nun laßt die Glocken von Turm zu Turm
Durchs Land frohlocken im Jubelsturm!
Des Flammenstoßes Geleucht facht an!
Der Herr hat Großes an uns getan.
Ehre sei Gott in der Höhe!«

Dann trat der Präsident ans Fenster, schob die Vorhänge zurück, öffnete die Flügel und schaute lange in die kalte Winternacht hinaus.

»Harry, ist nicht etwas wie Glockenton in der Luft? Noch wissen die da draußen es nicht, noch wissen wir es allein. Aber wenn sie erwachen, wenn der Morgen kommt und mit ihm die Siegeskunde laut wird, dann darf unser Banner sich stolz und groß wieder entfalten, und dann hat es keine Not mehr, auch die letzten Sterne wieder zurückzugewinnen.«

Ein Augenblick der höchsten nationalen Erhebung, wie ihn jedes Volk nur einmal in hundert Jahren erlebt.

Draußen vor dem Weißen Hause ging ein einsamer Polizist auf und ab, er fuhr zusammen, als er über sich eine Stimme hörte.

»Policeman,« rief der Präsident hinaus, »Policeman, gehen Sie, laufen Sie, schreien Sie es auf allen Straßen aus: Der Feind ist geschlagen, unsere Truppen haben gesiegt, die japanische Armee ist auf dem Rückzuge! Schlagen Sie an alle Türen, schlagen sie die Fenster ein, rufen Sie in jedes Haus hinein: ›Wir haben gesiegt, der Feind ist auf dem Rückzuge‹.«

Der Polizist machte sich eiligst davon, in dem weichen Schnee breite schwarze Fußstapfen zurücklassend. »Sieg, Sieg! wir haben gesiegt!« hörte man ihn im Laufen schreien.

Andere Leute kamen, ein Wagen kam angefahren, der Kutscher sprang vom Bock herunter und lief auf das Weiße Haus zu, nach dem erleuchteten Fenster hinaufblickend.

»Mann, lassen Sie Ihren Wagen stehen, laufen Sie,« schrie der Präsident hinunter, »rufen Sie es aus, wir haben gesiegt! Die Japaner ziehen sich zurück! Unser Land wird wieder frei werden.«

Rufe tönten in der Ferne, man hörte donnernde Schläge gegen Haustüren fallen.

Der Präsident schloß das Fenster. Der Kriegssekretär wollte ihm noch die weiteren Meldungen vorlesen: »Lassen Sie mich, Harry,« wehrte er ab, »lassen Sie mich. Ich kann jetzt nichts mehr hören, lassen Sie mich allein. Aber wecken Sie die Herren.«

Dann lärmten Klingeln auf den Korridoren, und in den Zimmern ward es lebendig. Die stille Bundeshauptstadt erwachte zum 9. Februar, zu dem Tage, der Tag und Nacht für unser Volk schied.

Und nun ging es rasch vorwärts.

*

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