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Eine Nacht in New York.

Der »New York Daily Telegraph« hatte bereits sieben Ausgaben und unzählige Extrablätter veröffentlicht, doch war der wirkliche Inhalt aller Nachrichten außerordentlich gering, es waren in der Hauptsache nur Gerüchte, die wie fernes Wetterleuchten am westlichen Horizont aufflammten. Nachrichten, von denen man nicht einmal genau sagen konnte, woher sie stammten. Über den Pacificstaaten lagerte eine dunkle Wolkenbank, die alles jenseits der Unterbrechungsstellen der Bahnlinien verhüllte. An jenen Punkten mußte man die Spitzen der japanischen Vorpostenlinie vermuten, und diese schien sich, je mehr sich durch die Arbeit des Telegraphen die Situation aufhellte, immer weiter nach Osten vorzuschieben. Zu einem ernsten Kampfe war es fast nirgends gekommen. Das überraschende Erscheinen der japanischen Truppen, die wie aus dem Boden gewachsen plötzlich dastanden, hatte jeden Versuch zu einem erfolgreichen Widerstand schon im Entstehen gelähmt.

Nach den ersten vagen Gerüchten über Kämpfe bei San Franzisco, Port Townsend und Seattle verstummten diese Nachrichtenquellen vollständig. Woher diese Massen des Feindes gekommen waren, blieb nach wie vor rätselhaft. Das war ja auch schließlich gleichgiltig, es galt schleunigst Verteidigungsmaßregeln zu treffen.

Aber der Heeresapparat in Washington arbeitete langsam, und die von dort eintreffenden Nachrichten beschränkten sich auf die Erklärung, daß die regulären Truppen sofort nach dem Westen in Marsch gesetzt werden sollten, daß der Präsident die Reserven bereits einberufen habe, daß der Kongreß am 11. Mai sich versammeln werde, und daß er weitere Maßregeln treffen solle, um die Miliz auf den Kriegsfuß zu bringen und eine Freiwilligenarmee zu schaffen. Die reguläre Armee! Drei Staaten und mehr schieden mit ihren Cadres, mit ihrer Besatzung der Küstenbefestigungen schon aus. Was war aus ihnen geworden? Hatten sie sich hinter der Front des Feindes noch halten können? Was war aus den Philippinen, was war aus Hawai geworden? Wo war die Flotte? Auf alle diese Fragen gab es keine Antwort, da der Telegraph schwieg. Weil man die Stärke des Feindes nicht kannte und nicht kennen konnte, wenn man sich nicht auf die unzuverlässigen, vielleicht gefälschten, Angaben der landläufigen militärischen Statistiken über die japanische Heeresmacht beschränken wollte, – war das überhaupt das japanische Heer? Eine Invasionsarmee? Konnte sie nach der Landung schon soweit nach Osten vorgedrungen sein? – so rechnete die Presse wenigstens die noch zur Verfügung stehenden amerikanischen Streitkräfte außerhalb des Invasionsgebietes auf und machte ziemlich ungeschickte Berechnungen, wann und in welcher Weise die Truppen an den Feind herangebracht werden konnten. Ach, dieser Optimismus hielt nicht lange vor und überzeugte auch schließlich niemanden.

Eine andere Frage war es, wie sich die Bevölkerung zu dieser plötzlich hereinbrechenden Gefahr stellte und welche Haltung vor allem die großen Massen der fremden Volksteile in der Union einnehmen würden. Jetzt, wo man an sie zur Verteidigung ihrer neuen Heimat appellierte, war es von Wert, zu wissen, wie sich die Deutschen, die Iren, die Skandinavier, die Italiener und die verschiedenen slavischen Völker auf dem Boden Nordamerikas mit dem Kriege abfinden würden. Daß die beiden großen politischen Parteien, die Republikaner und Demokraten, einmütig zusammenstehen würden unter dem Drucke der gemeinsamen Gefahr, war natürlich sicher.

Francis Robertson, der bekannte Reporter des »New York Daily Telegraph« – wegen der stets unruhig flatternden Flügel seines Mantels hatte er den Beinamen Flying fish erhalten – war den ganzen Tag über weidlich herumgehetzt worden. Kaum hatte er die Eindrücke von seiner letzten Erkundigungsfahrt aus seinem Stenogramm in die Schreibmaschine diktiert, so wurde ihm um 7 Uhr abends der Auftrag, eine neue Exkursion durch die Straßen und die Zentren der verschiedenen nationalen und politischen Vereinigungen anzutreten. Binnen fünf Minuten bewältigte er in dem Grill-room eines ein paar Häuser entfernt liegenden Restaurants ein Beefsteak, das anscheinend aus einem Stück Nilpferdhaut angefertigt worden war, und bestieg dann sein Automobil. An der Ecke der neunundzwanzigsten Straße gab er dem Chauffeur die Anweisung, sich möglichst schnell den Broadway hinunter durch die dichtgestauten Menschenmassen durchzuarbeiten. Aber vergebens versuchte dieser sich durch das Gedränge durchzututen, Schritt für Schritt nur konnte das Automobil vorrücken und strandete schließlich auf dem Madison Square an einer dichten Menschenpackung, die den Platz vollständig ausstopfte. Mit einem kräftigen Segenswunsch verließ Robertson das Fahrzeug und stürzte sich kühnen Schwunges in die Menschenwogen, aber » Flying fish« wurde wie mit Zangen festgehalten und blieb in der zähen Masse nach ein paar Schritten hilflos stecken. Es blieb ihm nichts übrig, als sich mechanisch im Gedränge forttreiben zu lassen, wobei er alsbald fest eingekeilt wie ein Paket langsam mit fortgetragen wurde. An der Ecke der zweiundzwanzigsten Straße gelang es ihm, sich aus der Flut zu retten, und verhältnismäßig rasch durcheilte er die Straße, um sich an ihrem Ende wieder in den dichten Menschenstrom auf der vierten Avenue hineinzuzwängen. Sein Ziel war Tammany Hall, dort im Hauptquartier der Demokraten hoffte er neue Informationen zu erhalten.

Wenn er aber geglaubt hatte, die vierte Avenue kreuzen und durch eine Querstraße nach der dritten Avenue und bis Tammany Hall vordringen zu können, so erwiesen sich alle seine Bemühungen als vergeblich. Er wurde einfach die vierte Avenue mit hinuntergespült bis zum Union Square. Hier stockte der Menschenstrom vollständig und kam erst allmählich wieder in Zug. Robertson befand sich mitten auf dem Platze. Er wurde mit gewaltigem Druck gegen den Unterbau des Brunnens geschoben und erkletterte diesen, um dort einen Moment zu verschnaufen und Umschau zu halten, ob es nicht möglich sei, nach Tammany Hall durchzukommen. Vergebens, ein unabsehbares Meer von Köpfen und Hüten, das nirgends einen Raum zum Durchschlüpfen ließ. Die Bäume, die Statuen und der Brunnen auf dem Platze erschienen bis zur Höhe von zwei Yards in einer schwarzen Flut versunken zu sein. Umsonst sah Robertson durch die ihm gegenüber sich öffnende 16. Straße hinüber nach der dritten Avenue, nirgends eine Möglichkeit.

Robertson kam sich vor wie ein Schiffbrüchiger, der sich auf eine Felsenklippe gerettet hat, er hörte um sich das Brausen und Tosen der Menschenmassen, das wie der dumpfe Ton der Brandung von den riesigen Steinwänden der Häuser zurückgeworfen wurde. Quer über die dunkle Öffnung der Sechzehnten strichen ganz hinten in der dritten Avenue unablässig in regelmäßigen Pausen die gelben Lichterreihen der Züge der Hochbahn vorüber, wie im Hintergrunde der Szenerie einer Jahrmarktsbude, wo ein mechanisches Uhrwerk zwischen zwei Tunnelöffnungen im Gebirge immer denselben Zug rastlos kreisen läßt. Robertson suchte sein Notizbuch und fixierte im Schein der elektrischen Bogenlampe diese Bemerkung für seinen Bericht.

Dann verließ er seine Klippe und sprang wieder hinein in die Menschenflut. Diese trieb wie von einem Willen beseelt nach der unteren Stadt, und wenn Robertsons Nachbarn wirklich Bescheid wußten, so ging es nach dem Chinesenviertel. Offenbar hatte man vor, sich an diesen Bundesgenossen der Japaner vorläufig schadlos zu halten. Dieser Drang nach Rache, dieser elementare Haß gegen die Gelben hielt die Massen auf dem Union Square in Bewegung und drängte alles unterschiedslos durch die engen Ausgänge in den Broadway und die vierte Avenue hinein. Der Platz glich in dieser Stunde einer ungeheuren Wurststopfmaschine, die mit geheimnisvoller automatischer Kraft Zehntausende von willenlosen Körpern durch die engen Kanäle hindurchtrieb. Unaufhörlich wälzte sich die Masse weiter. Hier und da flog ein Hut in die Luft, fiel wieder herunter, hüpfte noch ein paar Mal auf und ab und trieb dann an einer anderen Stelle auf der Oberfläche weiter. Ein Glück nur, daß diejenigen, denen bei dem entsetzlichen Gebrüll und in der staubigen, dunstigen Luft die Sinne schwanden, unmöglich niedersinken konnten; sie wurden durch den von ihren Nachbarn ausgehenden Druck einfach aufrecht gehalten und wurden so mit fortgerissen, bis sie mehrere Häuserblocks weiter wieder zum Bewußtsein kamen. Und dennoch versanken einzelne und tauchten spurlos in dem Strom unter. Schrecklich, sich ihr Schicksal auszudenken; wie Steinschotter auf dem Felsboden eines Gletschers wurden sie mitleidlos zerrieben.

Über den rauschenden Strom von Menschen fegte unablässig in kurzen Stößen wie ein rasender Sturmwind der heisere Schrei der Volksleidenschaft: »Nieder mit den Gelben! Nieder mit den Japanern! Hoch das Sternenbanner!« So schlug der glutheiße Atem dieser von jähem Rachedurst erfaßten Massen wie aus einer keuchenden Riesenlunge immer von neuem empor. Bis das » cheers«- und » down«-Gebrüll zu einem wilden, betäubenden, unartikulierten Geheul wurde, das in tausendfachem Hall und Widerhall bis zu den höchsten Lichterreihen der riesenhohen Steinpaläste zu beiden Seiten der Avenue emporbrandete. Wie ein gestrandetes Wrack ragte aus diesem Gewoge von Köpfen und Hüten zuweilen ein Wagen der Straßenbahn empor, auf dem Hunderte von Leuten saßen, standen und hingen, wie ein Schwarm Bienen, der sich auf einer Straßenlaterne niedergelassen hat und sie im Nu mit einer wimmelnden, summenden und krabbelnden Decke dicht zusammenhängender Einzelwesen überzieht.

Robertson beschloß, Tammany Hall aufzugeben und sich bis zum Chinesenviertel mit forttreiben zu lassen; doch in der Bowery geriet er an die Außenseite dieses Menschenstromes und machte nun eine sehr schmerzhafte Bekanntschaft mit verschiedenen Häuserfronten, an denen er in der äußersten Menschenreihe hart entlang geschrammt wurde. Er ließ sich noch eine Blocklänge weiter schieben und rettete sich dann an der nächsten Ecke in eine Seitenstraße. Bevor er jedoch diese erreicht hatte, wurde er mit ungeheurer Kraft gegen die Hauswand gepreßt und von der Gewalt der plötzlich rascher vorwärtsstrebenden Masse ein paar Mal wie zwischen mahlenden Mühlsteinen herumgedreht, wobei er deutlich fühlte, wie der rechte Flügel seines Rockes an irgend etwas einen Widerstand fand und sich dann von ihm trennte. Dann war die Ecke erreicht, er hielt sich mit der rechten Hand an einem Gesimsvorsprung fest und flog dann wie der Pfropfen aus einer Bierflasche in das Nichts, in das stille Dunkel der fünften Straße. Hier tauchte er rettungslos in dem stagnierenden Wasser einer ruhigen Uferbucht unter, in das der reißende Menschenkatarakt in der Bowery ein paar wirbelnde Wellen mit zentrifugaler Kraft hinausjagte. Der Reporter flog rückwärts gegen einen Haufen Männer, die ihn unwirsch zur Seite stießen.

Robertson raste innerlich vor Wut, hatte er doch wenige Augenblicke bevor er in die Fünfte hineinflog, in der Entfernung von ein paar Armlängen das grinsende Gesicht Bob Traddles, seines schlimmsten Konkurrenten von der »Tribüne« gesehen. Er las es förmlich in dessen höhnischer Grimasse, wie er innerlich triumphierte über das unfreiwillige Ausscheiden seines Nebenbuhlers aus diesem Rennen um die neuesten Sensationsmeldungen. Robertson versuchte zunächst auf eigene Hand zum Chinesenviertel vorzudringen, stieß aber überall auf eine unüberwindliche Barre von Menschenleibern. Während dieser ergebnislosen Vorstöße suchte er wenigstens zu erfahren, was eigentlich im Werke sei und konnte sich trotz der widersprechenden Angaben doch ungefähr ein Bild davon machen, daß es tatsächlich einen Angriff auf die Bewohner des Chinesenviertels gelte. Von Tammany Hall durch den ihm immer noch entgegenflutenden Menschenstrom hoffnungslos getrennt, gelang es ihm doch, sich über die zweite Avenue zur neunten Straße durchzukämpfen und dort die Haltestelle der Hochbahn zu erreichen. Mit ihr fuhr er ein paar Stationen nach der oberen Stadt und erzwang sich dann einen Platz in einem bis zur Unmöglichkeit vollgestopften Zuge, den er an der Station der Grand Street wieder verließ, um so von der Rückseite her das chinesische Straßenviertel zu erreichen. Inzwischen waren aber zwei volle Stunden verflossen. An der Kreuzung der Grand Street und der Mottstreet fand er eine dreifache Postenkette von Polizisten, die den Eingang der Straße sperrte. Bei einem Polizeisergeanten legitimierte er sich und durfte die Sperre passieren.

Die Totenstille in der dunklen Mottstreet war fast unheimlich nach dem brausenden Lärm des Volksgewühls, dessen Summen in den Ohren noch nachklang. Die Erdgeschosse der Häuser waren überall mit Läden oder mit Brettern verrammelt, die Haustüren geschlossen, und in den Fenstern der oberen Stockwerke war fast nirgends ein Licht zu erblicken. Wenn man diesen sonst so geschäftig durcheinanderwimmelnden Ameisenhaufen nicht von früher her kannte und der eigenartige penetrante Menageriegeruch des gelben Volkes die Nase nicht mit gewissen fatalen Reminiszenzen erfüllt hätte, man hätte nicht geglaubt, daß man sich in dem berüchtigten Chinesenviertel von New York befinde.

Der Robertson geleitende Polizist erzählte ihm, daß, als die tobenden Menschenmassen das Hauptquartier der Polizei von der Bowery und der Elm Street aus erreicht hatten und gleichzeitig durch die Kanäle der von der Bowery abzweigenden Seitenstraßen in das Chinesenviertel einzudringen begannen, die Polizei natürlich längst von dem Vorhaben der Leute unterrichtet war. Sie hatte, in der Sorge um etwaige Brandstiftungen, durch Sperrung der Straßen unter Aufbietung der gesamten zur Verfügung stehenden Mannschaften versucht, das Chinesenviertel zu schützen. Das war jedoch nur teilweise möglich gewesen. Mit 600 Mann einem Menschenstrom von Zehntausenden entgegenzuarbeiten, war eine unlösbare Aufgabe, zumal der Druck von hinten die vorderen Reihen aus der Bowery widerstandslos wie Treibholz gegen die dünne Postenkette der Polizei vorpreßte und diese denn auch nach wenigen Minuten an mehreren Stellen einfach durchstieß.

Es war zu einem Handgemenge gekommen, und sehr bald fielen auf beiden Seiten Schüsse, so daß die Polizei nur imstande war, hier und da den ärgsten Ausschreitungen zu steuern. Andrerseits flammten natürlich in den Herzen der Polizisten genau dieselben nationalen Leidenschaften wie in denen der anstürmenden Menge. Da der hinterlistige Angreifer selber nicht zu fassen war, so wollte man wenigstens seinem natürlichen Bundesgenossen einen kräftigen Denkzettel zukommen lassen. Selbstverständlich waren die Chinesen auf solche Angriffe vorbereitet. Die heulende und tobende Menge traf überall auf verrammelte Türen und Fenster, und wenn man nach langer Arbeit diese Hindernisse beseitigt hatte, so machte man häufig die überraschende Entdeckung, daß das Nest leer war und daß die Chinesen sich anscheinend rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatten. Umso wüster wurden die Auftritte, sobald man wirklich auf chinesischen Widerstand stieß. »Einige Hundert,« sagte der Polizist, »mögen getötet sein, und was im Innern der Häuser vorgegangen ist, darüber würde die Presse wohl am besten schweigen.« Robertson war mit seinem Begleiter unter einer Straßenlaterne stehen geblieben und brachte diese Notizen schleunigst stenographisch zu Papier.

»Sehen Sie,« sagte der Polizist, »Richter Lynch hat gut gearbeitet,« und wies mit seinem Knüttel nach einer Laterne auf der anderen Seite der Straße, von der man zwei dunkle Körper herabhängen sah. »Einfach aufgehängt!« ergänzte er lakonisch.

Da der Polizist ihm nicht erlauben wollte, eines der Häuser zu betreten, weil ihm dabei der Tod so gut wie sicher sei, beschloß Robertson, mit seinem gesammelten Material zunächst die Redaktion aufzusuchen, um sich später von neuem in den Strudel zu stürzen. Der Polizist ging mit ihm bis zum Hauptquartier der Polizei. Bei dem unsicheren Licht der Straßenlaternen mehrfach über die zahllosen Kehrichthaufen und ganze Gebirgszüge von stinkendem Unrat auf dem fast unter dieser asiatischen Kulturschicht verschwundenen Straßenpflaster stolpernd, konnten sie noch an mehreren Laternenpfeilern baumelnde Leiber bemerken. Vor vielen Häusern war das Pflaster von Blut gerötet und die schwarzen Fensterhöhlen mit ihren zerbrochenen Fensterkreuzen und eingeschlagenen Scheiben waren Beweis genug, in welcher Weise man sich hier an den Söhnen des himmlischen Reiches schadlos zu halten gesucht hatte. Sanitätsleute mit Tragbahren schafften die Verwundeten von der Straße, und nachdem sich Robertson noch kurz auf dem polizeilichen Hauptquartier über die bisher festgestellte Zahl der Opfer dieser Exzesse vergewissert hatte, schlug er, da die Haltestelle der New York Subway hier gesperrt war, die Richtung zum Broadway ein.

Als er dort die Polizeikette wieder erreichte, teilte ihm ein Polizist mit, daß man Militär herbeigeholt habe und daß ein Bataillon von Governors Island bereits an der Batterie gelandet sei und den Broadway langsam heraufrücke.

Wieder tauchte Robertson in den vor der polizeilichen Sperre aufgestauten, wild tosenden Strudel der Volksmenge ein. Eine Viertelstunde stand er bereits, ohne sich rühren zu können, neben einem heftig erregten Manne, der, ein blutiges Taschentuch um den Kopf geschlungen, mit wilden Gesten seine Erlebnisse bei der Erstürmung eines chinesischen Hauses zum Besten gab. Das war sein Mann. Als das Gebrüll um ihn einen Moment nachließ, benutzte Robertson die Gelegenheit, um seinem Nachbar ins Ohr zu schreien: »Zwei Dollars, wenn Sie mit mir fünf Minuten ins nächste Haus kommen und mir die Geschichte noch einmal erzählen!«

Der sah ihn verwundert an, begriff aber sofort, um was es sich handelte, als Robertson hinzusetzte: »New York Daily Telegraph!« Mit schwerer Mühe kämpften sich die beiden bis zum Rande der Straße durch und drängelten sich in einen breiten Hauseingang hinein, in dem sich eine Masse Menschen befand, die ihre Aufmerksamkeit aber nicht nach dem Broadway, sondern nach dem Hofraum des Hauses wandten. Hinten auf dem Hofe schien sich in einem hohen Quergebäude ein Saal zu befinden, in dem eine Versammlung abgehalten wurde. In einem Nebenraum dieses Saales, der freilich auch bis auf den letzten Platz gefüllt war, gelang es Robertson, einen Stuhl zu erwischen. Er schwang sich rittlings über den Sitz und stenographierte, die Stuhllehne als Schreibpult benutzend, die etwas verworrene Erzählung seines Begleiters, der sich fortwährend mit asthmatischen Flüchen unterbrach, wenn der Druck der in dem Raume dicht zusammengepackten Menschen Robertsons Stuhl gar zu arg gegen den Bauch des zwischen Stuhl und Wand Eingezwängten preßte.

»Zum Teufel,« sagte Robertson, »fluchen Sie nicht, machen Sie hinter sich ein Loch in die Wand und erzählen Sie weiter!«

»Mindestens eine Spalte »Daily Telegraph«,« überschlug Robertson in Gedanken, als sein Mann allmählich mit seinem Bericht zu Ende kam. Aber schon horchte Robertson mit halbem Ohr auf die Stimmen aus dem Saale. Aus dem Versammlungsraume drangen die scharf markierten Worte eines Redners durch die von Tabaksrauch und Menschendunst bis zum Ersticken gefüllte Luft, in der über den Köpfen einer atemlos lauschenden Menge wie ein paar Apfelsinen die Glasglocken der Gaslampen schwammen. Robertson stopfte seinem Helden aus der Mottstreet eine Zweidollarnote in die Hand und drängte sich nach dem Saale durch. An der Tür konnte Robertson die Worte des Redners verstehen; es handelte sich offenbar um einen Protest der Arbeiter eines großen Fabrikunternehmens gegen die heute mittag verkündete Entlassung von 3000 Arbeitern.

Der Mann, der dort im Hintergrunde des Saales auf einem Tische stand, erschien Robertson durch den Rauch und Dunst nur wie ein schwankender Nebelschatten, aber seine laute Rede erfüllte den ganzen Raum und ließ mit der packenden Schilderung des Elendes der Arbeiter, die durch das Machtwort eines millionenreichen Unternehmers einfach auf die Straße gesetzt waren, die Wangen der Hörer vor Erregung sich röten.

»… und deshalb,« so schloß der Redner, »werden wir uns dem rücksichtslosen Egoismus Mr. Hanburys nicht beugen. Als Führer unserer Gewerkschaft fordere ich Sie alle auf, morgen früh zur gewohnten Stunde zur Arbeit in die Fabrik zu kommen und unser Recht auf Arbeit dadurch geltend zu machen, daß wir sie einfach fortsetzen und uns an keine Kündigung und keine Entlassung kehren. Es ist natürlich für Mr. Hanbury das einfachste und bequemste, seinen ganzen Betrieb ruhen zu lassen und mit seinen Millionen sich über das große Wasser zu retten. Wir aber verlangen, daß die Fabrik weiter arbeitet, und wenn uns der Lohn nicht ausgezahlt wird, so werden wir ihn zu holen wissen. Mit tausend Millionären können die Vereinigten Staaten den Feind nicht bekämpfen. Wenn das amerikanische Volk ins Feld zieht, so verlangt es, daß für die Familien derer, die mit ihrem Leben und ihrem Blute das Bestehen der amerikanischen Gesellschaft und des amerikanischen Staates verteidigen, zu Hause wenigstens ausreichend gesorgt wird. Noch einmal: Mr. Hanburys Fabrik arbeitet weiter!«

Donnernder Beifall erschütterte die Luft. Aus all diesen Hunderten zerarbeiteter und von Lebenskampf zerfurchter Gesichter leuchtete ein entschlossener Wille, und wer hätte dem Willen dieser Männer zu widerstehen gewagt, wenn ein Gedanke sie alle durchglühte! Noch immer brausten die begeisterten Rufe durch den Saal, immer wieder wurde dem Redner versichert, daß man einig sei und daß kein Mensch daran denken würde, morgen früh zu fehlen.

An den Türpfosten geklemmt, stenographierte Robertson auch diesen Vorfall und blickte sich dann nach einer Möglichkeit um, aus dieser dunstigen Gluthölle zu entkommen, als sein Blick wieder auf die Stelle fiel, wo vorher das Schattenbild des Redners hin- und hergeschwankt hatte. Da stand schon wieder einer und versuchte vergeblich mit eifrigen Armbewegungen sich Gehör zu verschaffen. Mit seinen emporgehobenen Armen bot er in der rauchigen Atmosphäre von hier aus ungefähr das Bild einer sich schnell drehenden Windmühle.

Allmählich flaute das Beifallstosen ab. Plötzlich zuckte Robertson wie unter einem Peitschenhieb zusammen und gleich ihm viele Umstehende, als der Mann dort oben durch den Saal brüllte: »Hier bleiben! Mr. Hanbury will reden!« Ein grenzenloses Erstaunen malte sich auf allen Gesichtern. »Mr. Hanbury will reden? … Nicht der alte! … Der junge! … Der Mann ist verrückt, was will er hier? … Mr. Hanbury hoch! … Runter mit dem Kerl! Wir brauchen ihn nicht, wir kommen allein zu unserem Recht! … Reden lassen! … Hoch Mr. Hanbury! … Ruhe, zum Donnerwetter, halten Sie doch endlich den Mund!« So tosten Rufe und Gegenrufe um Robertson herum.

Der suchte seinen letzten intakten Bleistift aus der Westentasche und sah jetzt eine schlanke elegante Erscheinung hinten in der Rauchwolke austauchen.

»Wir wollen weiter arbeiten! Sorgt für unsere Frauen!« tönte es von neuem und es dauerte lange Zeit, bis überhaupt eine Möglichkeit war, sich vernehmlich zu machen.

Robertson fragte einen seiner Nachbarn: »Ist das wirklich Mr. Hanbury?«

»Ja, der Sohn.«

»Unglaublich! Was will der hier?«

Die ersten Worte Gerald Hanburys gingen noch in dem Lärm verloren, dann hörte man ihm allmählich zu. Es waren nur wenige Sätze, die er sprach und Robertson notierte:

»… Dieselbe Forderung, die Ihr Redner soeben erhoben hat und der Sie zugestimmt haben, daß das Fabrikunternehmen meines Vaters in dieser furchtbaren Zeit weiterarbeite, hat ein anderer vor Ihnen schon erhoben und zwar heute Morgen, als die ersten Nachrichten vom Überfall unseres Vaterlandes eintrafen. Ich will mir kein Verdienst daraus machen, daß ich diese Forderung meinem Vater in nachdrücklichster Weise vorgetragen habe; vorläufig umsonst. Aber dieselben Gründe, die Sie von Mr. Bright eben gehört haben, sind auch für mich maßgebend. Auch ich würde es geradezu für ein Verbrechen am freien amerikanischen Volke halten, wenn wir Unternehmer es in dieser Stunde der nationalen Gefahr verlassen wollten. Ich will nicht viele Worte machen, ich sage Ihnen nur, daß ich von hier aus sofort meinen Vater noch einmal aufsuchen werde und ihm als Teilhaber an unserm Unternehmen mein gesamtes, mir einst zufließendes Erbteil zur Verfügung stelle, um daraus Ihnen, unsern Arbeitern, solange der Krieg dauert, die Löhne weiter auszubezahlen und zwar den in der Fabrik tätigen Arbeitern wie den Familien derjenigen, die in die Armee eintreten.«

Einen derartigen Ausbruch von leidenschaftlicher Begeisterung, derartig tolle Äußerungen von Enthusiasmus hatte Robertson noch niemals gesehen. In die dröhnenden cheers-Rufe mischte sich unartikuliertes Geheul, man brüllte und schwenkte die Hüte. Mr. Hanbury wurde, als er von dem Rednerpodium herunterstieg, von Dutzenden kräftiger Arme ergriffen und über den Köpfen der Menge durch den Saal getragen. Nachdem er mehrmals die Runde gemacht hatte und Hunderte von schwieligen Arbeiterhänden hatte schütteln müssen, wandte sich die Gruppe Arbeiter, die den hoch auf den Schultern eines Vorarbeiters thronenden Gerald Hanbury umdrängte, zum Ausgange des Saales, während die Versammlung den Yankee doodle anstimmte.

Durch irgend einen Zufall geriet Robertson in die Nähe dieser Gruppe, als sie an der Saaltür plötzlich Halt machte, weil man vor lauter Begeisterung fast Gefahr gelaufen wäre, Mr. Hanbury an dem oberen Querbalken des Türrahmens den Schädel einzurennen. So ließ man ihn wieder zur Erde, und die ganze Volksmasse drängte jetzt über den engen Hof nach der Toreinfahrt zum Broadway. Hier staute sich die Menge aber derartig, daß hier wieder eine neue Versammlung entstand, die sich allerdings nur in cheers-Rufen auf Mr. Hanbury erschöpfte.

Dann aber erschollen plötzlich Rufe: »Wir gehen mit Mr. Hanbury zu seinem Vater!« … Zollweise nur rückte man nach dem Broadway vor. Von draußen, von der Straße her, schlug den in der Toreinfahrt dicht aneinander gepackten Menschen wüster Lärm und lautes Gebrüll entgegen.

Robertson stand dicht neben Mr. Hanbury, dessen Gesicht in froher Erregung glühte. Jetzt waren beide am Ausgang zur Straße, wo die Menge plötzlich in rasche Bewegung geraten war und in der Richtung nach der oberen Stadt in wilder Hast vorbeijagte.

Robertson rief Mr. Hanbury zu: »Das ist der stolzeste Tag, den ich als Amerikaner erlebe!« In diesem Augenblick erschütterte ein knatterndes donnerähnliches Geräusch die Luft und hallte lange in dem unendlichen, wie von ragenden Gebirgswänden eingefaßten Cañon des Broadways wieder.

»Sie schießen auf das Volk,« kam es in wilder Empörung von Tausenden von Lippen.

»Heraus mit den Revolvern!«, und wie als Antwort blitzten in der Menge hier und da rote Feuerstrahlen auf und knatternde Schüsse begrüßten die den Broadway langsam hinaufrückenden Truppen. Man hörte viel russisch sprechen.

Unmittelbar vor Robertson und Gerald Hanbury war eine junge Frau von einem Schuß getroffen zusammengebrochen und wälzte sich schreiend und mit den Händen wild um sich schlagend auf dem Pflaster.

» Three cheers for Mr. Hanbury!« klang es noch einmal dumpf hallend aus der Wölbung der Toreinfahrt heraus. Da trat ein riesiger Arbeiter, anscheinend betrunken, nur mit Hemd und Hose bekleidet und in seiner Rechten eine wuchtige Radspeiche schwingend, mitten vor die Toreinfahrt: »Wo ist Mr. Hanbury?« brüllte er hinein, und wie als Antwort schlug ihm von irgendwo das Wort entgegen: »Der Halunke hat heute 3000 Arbeiter auf die Straße gesetzt, um mit seinen Millionen auf die Reise zu gehen.«

»Wo ist Mr. Hanbury?« klang es noch einmal.

Gerald trat einen Schritt vor und faßte den Fragenden entschlossen ins Auge: »Hier,« sagte er, »was wollen Sie?«

Der Arbeiter sah ihn mit wilden, blutunterlaufenen Augen in höchster Wut an und schrie: »Das will ich,« und blitzschnell sauste die schwere Radspeiche herunter auf Hanburys Kopf. Lautlos brach Gerald unter dem tödlichen Schlage zusammen, im Fallen über die verwundete Frau zu seinen Füßen hinstürzend.

Robertson sprang dem wilden Kerl gegen die Brust, als er noch zu einem zweiten Schlage ausholte. Aber schon war ihm die Radspeiche entrissen, und wie als Antwort auf diese sinnlose Mordtat knatterte von links her, nur 100 Yards von der Toreinfahrt entfernt, eine neue Salve der Truppen, die wieder mit Dutzenden von Revolverschüssen beantwortet wurde.

Robertson fühlte einen durchdringenden Schmerz in seinem linken Ellenbogen und lehnte sich in einem Gefühl plötzlicher Schwäche gegen den einen Torpfeiler. Einen Moment entschwanden ihm die Sinne, und als er wieder zu sich kam, sah er, wie eine Infanterie-Kompagnie seinen Standort passierte und im selben Augenblick wurde er mit einem Kolbenstoß wieder in die Toreinfahrt hineinbefördert.

»Das ist ja Wahnsinn!« schrie er laut. »Man schießt auf das Volk.«

»Weil Ihr liebes Volk mordend und plündernd die Straßen der unteren Stadt durchzieht,« rief ihm ein Unteroffizier zu. Dann ward es stiller. Noch eine Kompagnie zog an Robertson, der jetzt auf einem Stein an der Toreinfahrt saß, vorüber. Er untersuchte seinen Arm, er war nicht verwundet. Irgend ein abprallender Steinsplitter mußte die Spitze seines linken Ellenbogens getroffen haben. Der jähe Schmerz ließ schnell nach. Das Getümmel verzog sich den Broadway hinauf. Der Reporter sah einige Sanitätsleute auf der anderen Seite der Straße vorübereilen. Er rief hinüber: »Hierher, man hat Mr. Hanbury ermordet! Helfen Sie!« Und schon waren die Sanitätsleute da.

Man hob Gerald Hanburys Leichnam auf die Tragbahre.

»Schauderhaft, man hat ihm ja den ganzen Schädel zerschmettert,« sagte einer der Sanitätsleute, nahm das graue Umschlagtuch der Arbeiterfrau, die sich noch im Todeskampfe wand, und deckte es über Geralds Oberkörper.

»Wohin?« fragten die Sanitätsleute.

»Zwei Blocks weiter nach oben ist Mr. Hanburys Haus,« dirigierte jetzt Robertson und trat an die Tragbahre, zu einem Sanitätsmann sagend: »Ich trete für Sie ein, machen Sie sich anderweit nützlich. Hier gilt es nur einen Toten fortzuschaffen.«

»Und die?« fragte der andere auf die Arbeiterfrau zeigend.

»Da wird nicht viel zu machen sein,« sagte jemand, »lassen wir sie einstweilen hier liegen, sie mag auch hier sterben.«

Dann faßten die Vier zu, und langsam ging der traurige Transport auf dem nunmehr von Menschen geräumten Broadway weiter. Aus der Richtung des Union Square hallten noch einmal ein Paar Schüsse. Links davon war der Himmel glutrot gefärbt und ein breiter schwarzer Rauchstreifen zog quer über die riesenhohen Häuser des Broadway, das sanfte Licht der Sterne verdunkelnd. Robertson blickte zurück. Die dunkle Straßenlänge des Broadway dehnte sich in dumpfer Stille. Da tauchten ganz hinten mitten auf der Straße zwei weiße grelle Lichter auf und über ihnen wehten und lohten die qualmenden Flammenstreifen der Petroleumfackeln. Der scharfe Dreiklang der Glocken kündete das Nahen der Feuerwehr. Und heran war's wie Gottes Donnerwetter. Der blendende Lichtschein der Acetylenlampen vor der Dampfspritze erhellte jäh das Straßenpflaster. Flutende Lichtwellen und jagende schwarze Schatten spielten an den Häuserwänden empor. Dann das rasselnde Fahrzeug mit den dunklen Silhouetten der Feuerwehrleute, auf deren Helmen die flatternden sausenden Flammenfahnen der Petroleumfackeln spiegelnde gelbrote Lichtbänder malten. Die fauchende surrende Maschine, aus deren breiten Schlot Feuerfunken und brauner Rauch stoben, das nächste Fahrzeug in eine wirbelnde Wolke von Qualm einhüllend. Vorüber, vorbei. Dann tauchten aus den wallenden Rauchschwaden die hochbeinigen Stützen und das sperrige Gitterwerk einer riesigen Leiter auf und rollte schwankend und klirrend vorüber. Der schrille Lärm der Glocken ließ nach und verklang allmählich in der zurückbleibenden Wolke von Rauch und Qualm und Feuerfunken, bis das Ganze, drei Blocks weiter, unter jähem Aufzucken der Laternen in der Dunkelheit und unter einem wütenden Gelärm der Klingeln in eine Seitenstraße einbog. Auf dem Straßenpflaster waren kleine schwelende Holzreste und glühende Kohlenstücke liegen geblieben, die mit hastig flackernder Flamme knisternd weiterbrannten.

Unterwegs erzählte der neben Robertson gehende Sanitätsmann diesem, was die Veranlassung zum Eingreifen des Militärs geboten hatte. Die aufgeregten Massen, die bei der Plünderung des Chinesenviertels gewissermaßen Blut geleckt und zu noch wilderer Wut aufgestachelt worden waren, hatten, in der Mehrzahl russisches und italienisches Gesindel, in dem dichten Straßengewirr der unteren Stadt ganz ohne Unterschied und nur dem wüsten Zerstörungsdrange folgend geplündert. Zwischen diesem Mob und irischen Arbeitern, die ihre Wohnungen verteidigten, war es dann zu einem scharfen Zusammenstoß gekommen. Unter den Russen befand sich anscheinend viel Janhagel, der zur Zeit der russischen Revolution eine leider nur zu willig gewährte Zuflucht in New York gefunden hatte. Dieses Gelichter begann jetzt mit Dynamit zu arbeiten. Und als einige Bomben unter den Iren schreckliche Verluste anrichteten und auch mehrere Polizisten ihren Pflichteifer mit dem Tode bezahlen mußten, hatte man Militär von Governors Island geholt. Damit nahm die Sache eine andere Wendung.

Die Truppen gingen mit dem Bajonett sehr energisch gegen den slavischen und italienischen Pöbel vor. Verschiedentlich stießen sie sogar schon auf Barrikaden, doch scheute man sich immer noch, Gebrauch von der Feuerwaffe zu machen, bis schließlich beim Sturm auf eine von russischen Terroristen besetzte Barrikade wieder mehrere Dynamitbomben zwischen die Truppen geschleudert wurden. Da gab es kein Halten mehr. Mit mehreren Salven trieb das Militär das fremde Raubgesindel den Broadway hinauf, wo eine Salve unweit der Stelle, wo Gerald Hanbury erschlagen wurde, den Widerstand des letzten kompakten Haufens brach.

Man stand vor Mr. Hanburys Haus und läutete. Aber erst auf mehrmaliges energisches Pochen am Haustor erschien der Pförtner am Fenster und erklärte barsch, niemand sei zu Hause. Ein Polizist befahl dem Pförtner, das Tor zu öffnen, man bringe die Leiche Mr. Hanburys.

»Aber Mr. Hanbury ist doch zu Hause, Sie können doch unmöglich seine Leiche bringen.«

»Benachrichtigen Sie Mr. Hanbury!« versetzte der Polizist. »Es ist der junge Mr. Hanbury, den man ermordet hat. Öffnen Sie!«

Lautlos drehte sich die schwere Bronzetür in ihren Angeln, und geführt von dem Polizisten betraten die vier Männer die riesenhohe Marmorhalle des Hanburyschen Palastes. Sie trugen die Bahre mit dem erschlagenen Sohn des Hauses die breiten Stufen der Treppe empor, auf denen dicke Teppichläufer jeden Schritt unhörbar machten. Auf der matt beleuchteten Treppengalerie warteten sie. Ganz weit hinten im Treppenhaus gingen Türen auf und zu, ein heller Lichtschein fiel aus einer offenen Tür auf die glänzenden Onyxsäulen und die im trüben Scheine fremdartiger Ampeln schwarz erscheinenden Riesenflächen goldumrahmter Gemälde. Dann erlosch der Lichtschein aus der Tür wieder, irgendwo ertönte eine Klingel, man sah Gestalten huschen. Dann kam ein fantastisch aufgeputzter Inder und wies mit stummer Gebärde die Sanitätsleute mit der Tragbahre in ein Zimmer, das in märchenhafter orientalischer Pracht die Nachbildung eine der schönsten Moscheen Indiens darstellte. Die Sanitätsleute trugen, behutsam auftretend, ihre Last bis mitten in den Raum, setzten sie nieder und sahen sich dann verlegen an. Der Polizist stellte sich in Positur und räusperte sich. Da wurde der schwere, goldgestickte Seidenvorhang an einer der Türen von einer braunen Hand gelüftet und wallte in schweren Falten zurück; in der hohen Türöffnung erschien festen Schrittes ein alter weißhaariger Mann und trat auf den Polizisten zu.

Der räusperte sich noch einmal und begann trocken und geschäftsmäßig seinen Bericht über die Ermordung Gerald Hanburys vorzutragen, mit den Worten: »… und die Gentlemen hier haben ihn aufgehoben und gebracht« unvermittelnd schließend.

»Ich danke Ihnen, meine Herren,« sagte der alte Mann, zog seine Brieftasche und gab jedem, auch Robertson, eine Fünfdollarnote. Dann setzte er sich müde auf den Rand der Tragbahre und stützte den Kopf in die Hand. Er schien seine Umgebung nicht mehr zu sehen. Die Leute standen unschlüssig dieser Situation gegenüber, worauf der Polizist mit militärischem Gruß die Sanitätsleute und Robertson zur Tür führte, die sich automatisch von außen öffnete.

Als der Inder die Tür wieder hinter den fünf Männern schloß, sagte der Polizist zu Robertson: »Das ist wie der fünfte Akt in einem schlechten Stück auf einem Vorstadttheater.«

»Das Leben liebt solche schlechte Stücke,« antwortete Robertson.

Als sie Hanburys Palast verließen, schlug es von der Grace Church Mitternacht. Robertson blickte noch einmal den Broadway hinunter. Die ganze riesenlange Straße lag fast menschenleer da, auf den blanken Bajonetten der in langen Zwischenräumen auf und ab patrouillierenden Militärposten glänzte das flackernde, blauweiße Licht der im Winde schaukelnden elektrischen Bogenlampen. Da ging Robertson heim, um den Inhalt seiner Notizblätter auf der Redaktion des »New-York Daily Telegraph« in die Schreibmaschine zu diktieren, damit die Riesenballen gedruckten Papiers am anderen Morgen der Welt künden konnten, daß die ersten Opfer dieses gewaltigen Krieges auf dem Straßenpflaster in New York gefallen waren.

In der Fabrik von Horace Hanbury & Son wurde die Arbeit nicht eingestellt.


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