Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Es hatte ganz harmlos und unauffällig angefangen, wie immer. Wie das alles gekommen ist, und wie es sich vorbereitet hat, wie die Strömungen in Fluß kamen, das zu erzählen, ist nicht meine Sache. Das mag den Garnspinnern und Quellensuchern der Geschichtsschreibung überlassen bleiben. Sie mögen feststellen, wann drüben in Asien der Gedanke, daß der Zusammenprall kommen müsse, und daß man die Frucht nicht erst reifen lassen dürfe, die Massen des japanischen Volkes zu erfassen begonnen hat.

Daß wir aber hier in Amerika jahrelang in einem Zustande gelebt haben wie einer, der die dumpfe Ahnung hat, daß irgend etwas Schreckliches plötzlich hereinbrechen werde, und der dieses innere Angstgefühl immer wieder mit schlechtem Gewissen durch den Trubel und die Unruhe des Alltagslebens ersticken und übertäuben läßt, das fühlen wir heute alle, da wir jetzt wissen, welcher Punkt unsern Blick damals hätte fesseln sollen, welcher Aufgabe unsere Kräfte hätten dienen müssen. Aber wir gingen wie Schlafwandler umher und wollten das nicht sehen, was Tausende wußten, was Tausende sahen, erstaunt und besorgt wegen unserer Sorglosigkeit.

Und wir hätten durch den Vorhang blicken können, der uns die Zukunft barg. Denn dieser Vorhang hat Löcher, wir beachten sie nur nicht. Aber viele haben doch hindurchgesehen. Der eine, wenn er die Zeitung las und sie dann langsam auf den Schoß sinken ließ und sinnend vor sich hinstarrte und die Gedanken in weite Fernen wandern ließ, aus denen zu seiner Seele der leise Klang von Waffenlärm und Kriegsgetümmel drang wie das geheimnisvolle Summen und Rauschen der Meeresbrandung. Der andere, als er im Gewoge des Straßenlebens ein zufälliges Wort auffing und es eine Zeit lang mit sich herumtrug, bis es wieder versank im harten Wellenschlag des Werktages. Aber das Wort war nicht gestorben, es lebte weiter im Grunde des Bewußtseins, da wo unsere wühlenden Gedanken nicht mehr hindringen, und es erwachte wieder zu neuem Leben und ward nachts zu wilden Reitergeschwadern, die mit lautlosen Hufen über das kurze Steppengras dahinrasten. Es war Kanonendonner in der Luft, lange bevor die Geschütze geladen wurden.

Ich habe nicht mehr gesehen als andere. Als der Zukunft grauser Schrecken mich zuerst mit kaltem Hauch streifte, da habe auch ich es wieder vergessen. Es war in San Franzisco im Frühjahr 1907. Wir standen in einer Bar. Da entstand draußen auf der Straße wüstes Geschrei. Zwei Leute wurden drüben aus einem japanischen Speisehaus hinausgeworfen. In der Tür der Wirtschaft stand der japanische Wirt und stieß den Hut des einen mit dem Fuße über das Pflaster, daß er wie ein Fußball über die Straße kollerte.

»Hallo,« rief mein Freund Arthur Wilcox, »der Jap greift die Gentlemen an.«

Ich hielt ihn am Arme zurück, denn schon ergriff ein baumlanger irischer Polizist den Japaner, der laut Protest erhob und sich sträubte. Der Policeman faßte kräftig zu. Im nächsten Augenblick lag der Ire wie eine gefällte Fichte auf dem Pflaster. Mit einem Kunstgriff hatte der japanische Zwerg ihn scheinbar mühelos geworfen. Der Rest war eine wüste Rauferei.

Eine halbe Stunde später gingen in der völlig demolierten japanischen Wirtschaft nur noch ein paar Polizisten mit ihren Notizbüchern spazieren, unsre Leute hatten reinliche Arbeit gemacht. Wir standen noch lange in der Bar. »Das,« meinte Arthur Wilcox, »haben unsere Enkel einmal auszukämpfen.«

»Unsere Enkel nicht,« sagte ich, »aber wir.« Warum ich das sagte, wußte ich damals nicht.

»Wir?« lachte Wilcox mich aus, »nein, sieh mich an, sieh Dich an, sieh unser Volk an und sieh diese Zwerge an.«

»Das haben die Russen auch gesagt: Sieh die Zwerge an.«

Sie lachten mich aus, und ich lachte schließlich mit, aber ich konnte den Iren, wie er so unter dem Griff des Japaners zusammenknickte, nicht vergessen. Und plötzlich dämmerte in mir eine längst vergessene Erinnerung auf. Es war damals in Heidelberg, als ich in Deutschland studierte. Der Professor erzählte, wie der junge Goethe nach dem unrühmlichen Rückzug der preußischen Armee von Valmy mit den Offizieren am Wachtfeuer saß und man den Gründen der Niederlage nachsann. Als sie dann Goethe fragten, was er denke, sagte er wie von Sehergeist erfüllt: »Von hier und jetzt an beginnt eine neue Epoche der Weltgeschichte und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen.« Und ich sah die rote Glut des Biwakfeuers und sah die Offiziere der ruhmreichen Armee Friedrichs des Großen, die es nicht fassen konnten, daß man vor den abgerissenen Rekruten der Revolution davongelaufen sei. Und ich sah neben ihnen einen Menschen höherer Art, wie er sich auf den Zehenspitzen reckte und durch den dunklen Vorhang hindurch einen Blick in die Zukunft erhaschte.

Damals vergaß ich das alles bald wieder, ich vergaß die gleichgiltige Straßenprügelei und vergaß, daß mich hier der eisige Hauch des Kommenden angeweht hatte. Erst dann, als das Unheil da war, fiel es mir wieder ein. Als die Schwerter zusammenklirrten, da wußte ich erst, daß mit dem allen, was wir an der staubigen Heerstraße der Geschichte gleichgiltig übersehen hatten, sich die kommende Katastrophe angekündigt hatte.

Parabellum.


 << zurück weiter >>