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Unter der Erde.

Man hatte nach dem Erdbeben geglaubt, den Termitenbau des Chinesenviertels für immer beseitigt zu haben, diese tausend Pferche lichtscheuen Gesindels, diese Maulwurfsgänge einer unterirdischen Wühlarbeit, deren geheimnisvolles System dem Auge des weißen Mannes stets verborgen geblieben ist. Wann war das alte Chinesenviertel entstanden, wann waren diese verborgenen Warenlager, diese Opiumhöhlen und die Schlupflöcher des mongolischen Proletariats angelegt worden, in denen unsagbare Laster ihre Orgien feierten und alles Gesindel stets vor dem zugreifenden Arme der Polizei lautlos im Erdboden verschwand. Wann war das neue Chinesenviertel entstanden? Wann waren auch hier wieder von verborgenen Kellern aus heimliche Minengänge gegraben worden, so daß bald alles war wie einst? Kein Mensch hatte darauf geachtet. Die geheimen Gesellschaften der Mongolen, die unsichtbare und doch überall gegenwärtige Verschwörung der Asiaten gegen das weiße Herrenvolk arbeiteten weiter und schufen unter der Erde eine neue Welt, über die der Straßenverkehr achtlos dahinrollte.

Ein schmaler Kellereingang und schmierige, glitschige Stufen einer Treppe führten zu Hung Wapus Kramladen, an den sich weiter hinten eine Garküche anschloß, aus der der gelbe Mann in eine Opiumhöhle gelangen konnte, und in den Räumen dahinter, vom Tageslicht nie erreicht, spielte sich gewöhnlich noch Schlimmeres ab. Nie wäre es einem Polizisten gelungen, dieses Nest auszuheben. Er hätte nur leere Räume gefunden oder Kellergewölbe, die mit schnarchenden Chinesen gefüllt waren. Der scheußliche Gestank hätte ihn alsbald umkehren heißen; aber wenn er etwa versucht hätte, weiter vorzudringen und die Wände nach weiteren verborgenen Öffnungen zu untersuchen, so hätte das höchstens den Erfolg gehabt, daß die Unfallsliste des nächsten Tages einen Polizisten als »verschwunden« hätte verzeichnen müssen.

Hung Wapu, dessen feistes Gesicht mit seiner großen Brille fast dem einer alten, fetten Institutsvorsteherin ähnelte, stand am späten Abend des 6. Mai in dem Eingange zu seiner Kellerwirtschaft, aus der stinkender Dunst, das bekannte Chinesenparfüm, und surrendes Stimmengemurmel auf die Straße drang. Eben war die polizeiliche Runde vorüber, und mit listigem Grinsen schaute Hung Wapu dem Policeman nach, der sich mit dröhnenden Schritten entfernte.

Auf zwei Stunden war die Luft rein. Hung Wapu zog sich zurück und schloß die Tür, über der eine grüne Papierlaterne im lauen Nachtwind hin- und herbaumelte. Hung Wapu ging durch sein Warenlager und verschwand dann katzengleich in der Garküche, wo ein paar Dutzend Chinesen am Boden hockten, eifrigst den unnennbaren Delikatessen der chinesischen Küche zusprechend, die schlechterdings alles zu Nahrungsmitteln verarbeitet, was überhaupt weich genug ist, um gekaut zu werden. Niemand hätte den gleichgiltigen Masken der Leute auch nur das geringste angemerkt, niemand hätte unter diesen harmlos schwatzenden und durcheinanderschreienden Söhnen des himmlischen Reiches auf den Gedanken kommen können, daß sich irgend etwas Bedeutendes vorbereite. Sie stopften sich die Backentaschen voll und schauten nicht einmal auf, als nacheinander ein paar Japaner zwischen ihnen hindurchschlüpften und durch die hintere Tür verschwanden.

Es war ganz unauffällig, wie diese Leute einzeln die Garküche passierten, und wem hätte es auch auffallen sollen, daß Hung Wapu ebensoviele kleine Sakeschalen hinten auf seinem niedrigen Tische aufeinanderstellte, als japanische Besucher vorübergegangen waren. Sie alle zogen sich durch eine Seitentür der Opiumhöhle in einen Raum zurück, wo sie sich ihrer Oberkleider entledigten und dafür alte amerikanische Soldatenröcke anzogen. Dann streckten sie sich zum Schlafen auf den Matten des Fußbodens oder auf den Kleiderballen aus, die rings an den Wänden aufgeschichtet waren.

Hung Wapu begleitete jetzt einen seiner chinesischen Gäste die Kellertreppe hinauf bis auf die Straße, setzte sich auf die oberste Treppenstufe und schwatzte leise mit seinem anscheinend nicht mehr ganz nüchternen Landsmann, dabei etwa zwei Dutzend kleiner Sakeschalen mit einem schmutzigen Lappen reinigend, worauf er sie neben sich in einer langen Reihe auf das Pflaster stellte.

In der engen Gasse begann der lebhafte Verkehr einzuschlafen. Allmählich schlossen die meisten der Gaslampen ihre müden Augen und nur die grüne Papierlaterne über Hung Wapus Keller schaukelte weiter im Nachtwinde. Und an manchen der Nachbarhäuser glühten ähnliche farbige Pünktchen. In der Ferne kündete eine Uhr mit hastigen Schlägen die Mitternachtsstunde, worauf irgendwo hoch in der Luft eine Glocke mit blechernem Klange auch zwölf Schläge machte. Vom Hafen her strich ein kühler Luftzug durch die von eklem heißen Dunst erfüllte Gasse.

Hung Wapu flüsterte noch immer mit seinem Gaste und putzte dabei seine Sakeschalen. Allmählich schlief der andere gegen den Türpfosten gelehnt ein und schnarchte aus allen Lungenkräften. Langsam begannen dünne Nebelschatten zu fallen, das Licht der Straßenlaternen bekam einen rötlichen Schein. Da erschien in einiger Entfernung die Gestalt eines Betrunkenen, der schwerfällig sich an den Häusern entlang tastete und nun in scheinbar wieder erwachendem Bewußtsein direkt auf Hung Wapus Keller zukreuzte. »Sake!« lallte der Betrunkene, sich vor Hung Wapu aufpflanzend, worauf dieser eine abwehrende Bewegung machte. Mit blödem Ausdruck stierte der Betrunkene – es war ein Japaner –, dessen Gesicht in dem grünen Lichtschein der schwankenden Laterne geisterhaft bleich erschien, auf die Sakeschalen vor Hung Wapu, der vor dem Schwankenden seine Schalen mit dem Arm zu schützen suchte.

»Achtundzwanzig Sakeschalen,« lallte er vor sich hin, »achtundzwanzig Sakeschalen …«

In diesem Moment erwachte der schlafende Chinese und schaute den Betrunkenen mit dummem Lachen an.

»Ja, achtundzwanzig Sakeschalen, es ist alles in Ordnung … achtundzwanzig Sakeschalen,« wiederholte der betrunkene Japaner und taumelte weiter an den Häusern hin.

Hung Wapu schien sein Tagewerk mit der Reinigung der achtundzwanzig Sakeschalen beendet zu haben, er stapelte sie aufeinander und verschwand wieder in seinem Keller, wohin ihm der Schläfer von vorhin mit auffallender Gelenkigkeit folgte. Er durcheilte schnellen Schrittes jetzt die Garküche, wo nun auch alles auf den Strohmatten schlief, ging durch die Opiumhöhle und warf in dem dritten Raume seinen chinesischen Rock ab. Die seidene Kappe mit dem daranhängenden Zopf flog in die Ecke, und jetzt mit einem amerikanischen Uniformrock bekleidet, saß der geheimnisvolle Fremde kurz darauf an einem Tisch, wo er beim Scheine einer qualmenden Petroleumlampe eifrig einen Stadtplan von San Franzisco studierte und sich in einem Buche Notizen machte.

Der betrunkene Japaner, der anscheinend Bedenken gehabt hatte, Hung Wapus Garküche zu betreten, schwankte weiter durch die stille Straße und steuerte nun auf eine andere Papierlaterne zu, die ungefähr zehn Häuser weiter über einem ähnlichen Kellereingang schaukelte.

Auch hier traf er merkwürdigerweise den chinesischen Wirt oben auf der Treppenstufe sitzend. Er wollte ihn beiseite drängen und die Treppe hinabstolpern, der Chinese hielt ihn aber auf.

»Wieviel Geld?« lallte der Betrunkene.

»Wieviel Geld?« gab der Chinese zurück. »Wieviel Geld wird der große Fremde in des niedrigen Si Wafangs jammervoller Hütte für seines erhabenen Leibes Nahrung bezahlen? Vierzig Käsch, vierzig Käsch wird der erleuchtete Sohn des Sonnenaufgangs für eine dürftige Mahlzeit in Si Wafangs armseligem Hause bezahlen.«

»Vierzig Käsch? Erhabener Si Wafang, ich werde die vierzig Käsch holen. I wo'nt go home till morning till the daylight does appear …« gröhlte der Trunkene dann und schwankte die Straße entlang, worauf auch hier der Wirt in seinen Keller verschwand, nachdem er die Papierlaterne über dem Eingange gelöscht hatte.

Totenstill lag die Straße und niemand ahnte, daß die Wanderratten sich gesammelt, daß unter der Erde die Minengänge gefüllt waren, daß es nur eines Winkes bedurfte, um die wimmelnden Massen hervorzuzaubern.

Von der See her strich ein kalter Hauch durch die stillen Gassen und die Nebelschleier legten sich dichter um das gelbe Licht der Gaslaternen. Vor den chinesischen Kellern erloschen die Lampen und alles ging zur Ruhe. Dichter wurde der Nebel und überzog das Straßenpflaster mit einem schmierigen Schlamm.

Da knarrte leise die Tür zu Hung Wapus Keller, sie wurde vorsichtig geöffnet, ein leises Klirren erscholl von unten. Dreißig dunkle Gestalten schlichen langsam, einer hinter dem anderen hertappend, die Treppe empor. Lautlos traten sie ihren Marsch an. Zehn Häuser weiter quoll aus dem anderen Chinesenkeller eine gleiche Abteilung und schloß sich ihnen an.

Gelbrot glühte das trübe Licht der Gaslaternen auf den matt glänzenden Gewehrläufen der japanischen Kompagnie, die jetzt ihren Weg zum Hafenkai hinunter nahm.

Zweitausend Schritte weiter war es ein Bataillon, das jetzt im flotten Marsch die Richtung auf die Kasernen des fünften regulären Regiments zum alten Presidio nahm. An der nächsten Straßenecke griff der Führer der Abteilung unmerklich salutierend an die Mütze vor einem Mann in Uniform, der plötzlich aus einem Hauseingang hervortrat. Ein paar leise Worte in den Zwitscherlauten der japanischen Sprache.

»Das ist ein unvermuteter Bundesgenosse,« sagte der japanische Oberst, indem er mit der Hand durch die immer dicker werdende Luft fuhr.

Vom Turme des Union Ferry Depots schlug die vierte Stunde, dumpf dröhnte von draußen von der See her, vom Goldenen Tor der brummende Ton der Dampfpfeife eines Steamers. Die beiden Offiziere sahen sich an und lächelten, dann setzte die Abteilung ihren Marsch fort.

»Hallo!« rief jemand den führenden Offizier an. Es war ein Polizist, der an einen Laternenpfahl lehnend anscheinend von dem Marschtritt der Soldaten erwacht war. »Hallo, wo geht die Reise hin?«

»Nach dem Presidio,« rief ihm der Offizier zu, »Flottenmanöver! Wissen Sie nicht, daß Admiral Sperry heute mit der Flotte San Franzisco angreifen soll?«

»Flottenmanöver,« knurrte der Polizist vor sich hin, »Flottenmanöver?« Und dann sah er die lange Kolonne des Regimentes vorüberziehen und im Nebel verschwinden.

»Doch tüchtige Jungens, unsere Kerls von der Armee, tüchtige Jungens! Um 4 Uhr schon auf, tüchtige Jungens.« Dann wandte er sich, um seine unterbrochene Runde wieder aufzunehmen.

»Das ist wohl schon Sperry,« sagte er, als noch einmal von der See her das unwirsche Gebrüll der Dampfpfeife herüberschallte, »wird aber wohl nicht viel werden mit dem Manöver bei solchem Nebel.«

Eine kleine Abteilung war vorausgeeilt, ein paar Mann. Sie fanden den Posten am Tor der Kaserne in seinem Schilderhause im festen Morgenschlummer. Als der Soldat erwachte, sah er sich von einem Dutzend Leute umgeben. Schlaftrunken starrte er sie an, mechanisch griff er neben sich nach dem Gewehre, es war fort. Er wollte sich aufrappeln, fühlte etwas kaltes an seiner rechten Schläfe und sah den Lauf einer Browningpistole in der Hand des Mannes vor ihm.

»Hände hoch!« klang es leise. Und ein paar Sekunden später fühlte er sich gebunden, und ein Knebel in seinem Munde hinderte ihn am Schreien. Er sah, am Boden liegend, wie ein ganzes Bataillon fremder Soldaten in amerikanischen Uniformen auf dem Hofe vor den Baracken Halt gemacht hatte und die Eingangstore bereits besetzte, und unklare Ideen von Flottenmanövern und Überrumpelung, Admiral Sperry und den Japanern zogen durch seine Gedanken, bis sie an dem Begriff Japaner – waren das nicht wirkliche Japaner in amerikanischen Uniformen? – hängen blieben. Was sollte das alles bedeuten?

Drinnen hatten inzwischen Doppelposten jede Mannschaftsstube besetzt, in der Uncle Sams Soldaten allmählich zum Bewußtsein erwachten. Längst waren Gewehre und Munition in den Händen der Japaner, und als dann die Reveille aus einem japanischen Signalhorn die Schläfer vollends ermunterte, blieb nichts weiter übrig, als sich zähneknirschend allem zu fügen, im Kasernenhofe anzutreten und dann um 8 Uhr morgens, von japanischen Truppen eskortiert, waffenlos auf den Ferrybooten die Fahrt nach Angel Island anzutreten, während der Geschützdonner von Fort Point (Winfield Scott) Kunde von dem letzten Widerstand der Amerikaner bei San Franzisco gab.

*

Als kurz nach Mitternacht die letzten Posten in den Küstenbatterien von San Franzisco und in den Kasernen abgelöst wurden und nur ein paar schläfrige Soldaten in den Wachtstuben zurückblieben, stand hinter der Seefront der Feind, bis auf den letzten Mann bereit, auf das gegebene Signal zuzupacken und die ahnungslosen amerikanischen Truppen im Schlafe abzuwürgen. Und bevor die Posten noch wußten, um was es sich handelte, waren sie entwaffnet und geknebelt. Nirgends warnte ein Schrei, nirgends ein Schuß die schlafenden Soldaten. Als sie erwachten, starrten ihnen die japanischen Bajonette und Gewehrläufe entgegen und es gab keine Möglichkeit sich zu verteidigen, denn der Feind, der über die Örtlichkeiten ganz genau Bescheid wußte, war längst im Besitz aller Munition und aller Waffen.

Und wo war Admiral Sperry mit seiner Flotte? Nirgends. Der Feind hatte richtig gerechnet. Er hatte mit der Sensationslust der amerikanischen Presse gerechnet. Die Depesche, die am Nachmittag des 6. Mai in Los Angeles an den »Evening Standard« nach San Franzisco aufgegeben wurde, war eine japanische Finte. Als man diese Nachricht dem Blatte aufhängte, Admiral Sperry werde im Verlauf eines – in den nächsten beiden Wochen allerdings zu erwartenden Flottenmanövers – am Morgen des 7. Mai die Einfahrt durch das Goldene Tor zu forcieren suchen, verließ man sich darauf, daß die Redaktion im letzten Augenblicke nicht in der Lage und auch nicht gewohnt sei, sich über die Richtigkeit dieser alle bisherigen Dispositionen umstürzenden Meldung zu informieren, zumal sie mit dem Signum des gewohnten Korrespondenten unterzeichnet war.

So durften die Japaner hoffen, daß das Erscheinen von Kriegsschiffen in der Bai von San Franzisco zunächst keinen Verdacht erregen werde. Und in der Tat fuhren die fünf japanischen Panzerkreuzer und die Torpedodivision, die bestimmt waren, die Flottenstation und die Werften zu überrumpeln und unschädlich zu machen, unter dem Schutze des Nebels unbehelligt und unerkannt, durch die ganze Bai und besetzten die Werft und die Artilleriedepots. Vier Mörserboote bedrohten Bonita Point und Lime Point, bis beide Werke überrumpelt waren.

Was wollten auch die beiden an der Werft in Reparatur liegenden Kreuzer »New York« und »Brooklyn« noch ausrichten, da sie nicht einen einzigen scharfen Schuß an Bord hatten. Was nützte es, daß die Deckswache ihre paar Patronen verschoß, bevor auf den beiden Schiffen über dem Sternenbanner die rote Flagge Nippons gehißt wurde.

An einer Stelle war es allerdings zum Kampfe gekommen. Draußen bei Winfield Scott. Denn wenn der Nebel den Japanern auch in hundert Fällen zuhilfe kam und, wie wir wissen, das als Angriffssignal verabredete Zeichen mit der Dampfpfeife des japanischen Hilfskreuzers »Pelung Maru« am Hafen als eine Nebelwarnung aufgefaßt wurde, so erlebte der Feind doch andererseits eine fatale Überraschung.

Der zweite Dampfer, der nach der »Pelung Maru« das Goldene Tor ansteuerte, warf draußen, als das Gebrüll der Seelöwen auf der Klippe deren Nähe verriet, Anker, um das Tageslicht abzuwarten, und markierte diesen Moment dadurch, daß er an Stelle der Dampfpfeife die Schiffsglocke schlagen ließ. Die dicht vor ihm fahrende »Pelung Maru« vermutete infolgedessen eine Störung des Angriffsplanes und ließ eine Dampfbarkasse zu Wasser, um das vor Anker gegangene Schiff aufzusuchen.

Auf diesem, dem deutschen Dampfer »Siegismund«, befand sich der Kapitän auf der Kommandobrücke und sah plötzlich eine kleine triefende Barkasse mit im Wasser nachschleppender Flagge heranrauschen. Und wie bei einem noch so klug ausgesonnenen Plan immer eine Dummheit gemacht werden muß, so auch hier. Die Barkasse führte die japanische Kriegsflagge und der Leutnant am Ruder rief den »Siegismund« japanisch an. Dieser Vorgang unter den Kanonen amerikanischer Batterien machte den deutschen Kapitän stutzig. Er konnte sich nicht vorstellen, was eine japanische Kriegsschiffsbarkasse beim Morgengrauen vor den Batterien von Golden Gate zu suchen habe, und in der Meinung, daß diese Tatsache dem Kommandanten des Forts interessant sein müßte, gab er durch Funkspruch nach dem Fort die Nachricht hinüber: »Treffe hier unweit der Seelöwenklippe die Barkasse eines japanischen Kriegsschiffes, was heißt das?«

Diese Meldung alarmierte in Winfield Scott die Besatzung, die sofort an die Geschütze kommandiert wurde, worauf man dort gespannt den weiteren Verlauf der Dinge abwartete.

Eine Funkspruchfrage nach anderen Stationen blieb unbeantwortet, weil diese sich bereits im Besitz der Japaner befanden, deren Telegraphisten nicht schlagfertig genug waren, um beruhigend zu antworten. Weil nun der Kommandant von Winfield Scott ohne Antwort blieb, schöpfte er Verdacht, der kurz darauf seine Bestätigung fand, als eine Infanterieabteilung versuchte, von der Kehle des Forts aus in die Batterie einzudringen. Ein paar scharfe Schüsse während des ersten Sturmlaufes mit dem Bajonett und die im Innern des Forts einschlagenden Gewehrkugeln ließen sofort erkennen, daß es ernst sei. Gleichzeitig zerteilte ein Windstoß auf ein paar Sekunden den Nebel auf der See und zeigte draußen die schattenhaften Umrisse mehrerer großer Schiffe. Ohne weiteres ließ nun der Kommandant von Winfield Scott mit den schweren Geschützen das Feuer dorthin eröffnen.

Das waren die Schüsse, die im Postamt von San Franzisco gehört wurden, und Tom hatte auch ganz recht, als er kurz darauf das Knattern des Infanteriefeuers zu vernehmen glaubte.

Bei der geringen Munitionsdotierung der Friedensausrüstung der Küstenbefestigungen – Salutkartuschen hatte man im Überfluß – war Winfield Scott trotzdem unhaltbar. Das Fort ballerte die paar Dutzend Granaten ziemlich ziellos in den Nebel hinaus, ohne in der Tat auch etwas zu treffen. Dann begann der aussichtslose Kampf der Besatzung gegen die Maschinengewehre der Japaner, deren Geschosse zwar an den Wällen und Stahlpanzern der Geschütze unschädlich wie Hagelschlag abprallten, aber doch die Besatzung rasch zusammenschmelzen ließen. Noch schneller schwand freilich die Munition der Amerikaner dahin, und als gegen 10 Uhr zwei japanische Regimenter den Sturm auf das Fort unternahmen, fiel mit der letzten Patrone auch der letzte Verteidiger, und an Stelle des Sternenbanners stieg die aufgehende Sonne Dai Nippons am Flaggenmast von Winfield Scott empor.

In der Stadt bekamen der Bahnhof, die Post- und Telegraphenämter, das Rathaus und die meisten öffentlichen Gebäude eine kleine japanische Besatzung und auf den Molen von Oakland begann jetzt schon, vormittags am 7. Mai, die Verladung der japanischen Truppen nach Osten hin. In San Franzisco verblieb nur eine ständige Garnison von knapp 5000 Mann, die die Küstenwerke besetzten und sofort für die Verteidigung herrichteten. Dasselbe geschah natürlich mit den Werften und der Flottenstation, mit Oakland und den übrigen Städten an der Bai.

Das plötzliche Erscheinen des Feindes hatte überall die Energie vollständig gelähmt. Das herzbeklemmende Gefühl: das ist das Ende, die niederdrückende Massensuggestion, daß nun alles aus sei, daß es doch nichts mehr nütze, gegen einen Feind sich zu erheben, dessen Soldaten gleichsam aus allen Löchern und Ritzen hervorquollen, beherrschte so sehr die Bevölkerung der Pacificstaaten, daß selbst da, wo ein paar beherzte Männer sich zusammentaten, ihnen niemand folgte. Hätte man wenigstens nur soviel Entschlossenheit besessen wie jene Frau des mexikanischen Fischers, der am Montag Morgen mit reichem Fang im Hafen von San Franzisco ankam und am Kai dicht neben einem japanischen Zerstörer festmachte. Als sogleich ein japanischer Unteroffizier an Bord kam und die Ladung für die japanische Armee in Anspruch nahm, pflanzte sich die Frau des Fischers, eine derbe Schönheit mit flottem Schnurrbart, vor dem Japaner auf und schrie ihn an: »Was, Du Knirps, Du willst unsere Fische haben,« und griff aus einem Haufen an Deck einen handlichen Silberfisch heraus und schlug ihn dem verdutzten Krieger so nachdrücklich links und rechts um die Ohren, daß der Japaner hinterrücks ins Wasser flog und wie ein prustender Seehund unter dem Gelächter der Zuschauer eiligst nach dem Zerstörer hinüberschwamm.

Lag nun nicht die Gefahr vor, daß ein so entschlossenes und in tausend Fährlichkeiten erprobtes Volk wie das amerikanische sich wie ein Mann erhob, um mit dem Revolver und dem Browning und schließlich mit den primitivsten Waffen, zu dem jedes Messer und jede Radspeiche werden konnte, die kleinen Garnisonen des Feindes in den einzelnen Städten zu Paaren zu treiben und das Vaterland von der Überschwemmung mit diesen wimmelnden gelben Ameisen zu befreien? Die weißen Zettel, die an allen Straßenecken klebten, gaben darauf die Antwort.

Die Stadtverwaltungen standen hinfort unter dem Befehl eines japanischen Militär-Gouverneurs, der den gesamten amerikanischen Verwaltungsapparat bis auf das letzte Rädchen unberührt ließ. Sogar die städtische Polizei blieb im Amte. Das gesamte bürgerliche Leben konnte seinen gewohnten Gang weitergehen und nur die Maschinengewehre vor den japanischen Wachthäusern an den Zentren des Verkehrs ließen erkennen, wer jetzt Herr im Lande war. Alle Beamten und die ganze Stadtverwaltung waren aber durch ein außerordentlich sinnreiches und wirksames System gefesselt.

In den Bekanntmachungen des japanischen Militär-Gouverneurs wurde die Stadt, sobald nur die geringste Widersetzlichkeit vorkäme, mit förmlich strangulierenden Gewaltmaßregeln bedroht. Zwischen Oakland und San Franzisco lagen drei japanische Kreuzer, die geladenen, stets bemannten Geschütze auf die beiden Stadtfronten gerichtet. Auf das erste Alarmzeichen hatten sie den Befehl, schonungslos das Bombardement zu eröffnen. Daß die Beschießung einer Stadt wie Frisco durch ein paar Dutzend Schiffsgeschütze wohl anfangs großen moralischen Eindruck machen werde, aber unmöglich viel Schaden anrichten konnte, das machte man sich freilich nicht klar. Aber der Feind verfügte ja noch über andere Mittel. In demselben Moment, wo er genötigt sein würde, die Geschütze spielen zu lassen, erklärte der japanische Militär-Gouverneur ferner, werde er der Stadt Wasser und Licht abschneiden und zwar auf eine Dauer, die jeden Widerstand innerhalb 24 Stunden ersticken mußte. Zu diesem Zweck waren sowohl die Gas- und Elektrizitätswerke in kleine Festungen verwandelt, die mit Geschützen und Maschinengewehren gegen jeden Angriff gesichert waren. Gegen sie konnten Zehntausende nutzlos Sturm laufen, die Stadt blieb in Dunkel gehüllt und die einzige Beleuchtung würde, wie der japanische General dem Bürgermeister von San Franzisco mit verbindlichem Lächeln versicherte, der Lichtschein platzender Granaten in den Straßen sein.

In derselben Weise waren die städtischen Wasserwerke hier und in allen Städten, die von den Japanern besetzt wurden, gesichert. Keinen Tropfen Wasser würde die Stadt erhalten und was das bedeute, möge sich der Herr Bürgermeister nur daheim von seiner Frau auseinandersetzen lassen. So waren die japanischen Besatzungstruppen trotz ihrer teilweise lächerlich geringen Zahl vor Überraschungen geschützt. Denn das furchtbare Elend, was innerhalb dreier Tage über Stockton, wo eine kühne, schnell organisierte Bürgerwehr die japanische Garnison in der Stärke von nur einer Kompagnie vernichtet hatte, hereinbrach, war ein Warnungszeichen, das nicht unbeachtet blieb. Die Bevölkerung des ganzen Westens, die sich zähneknirschend zwar, aber doch ruhig der Gewalt fügen mußte, horchte hilfesuchend nach Osten hin, sehnsüchtig gespannt, von dort den Geschützdonner des amerikanischen Heeres zu hören. Aber gab es denn noch ein amerikanisches Heer, gab es noch eine Hoffnung, da Monate vergehen mußten, bis eine amerikanische Armee im Felde erscheinen konnte?

*

Die Irreführung des »Evening Standard« mit jener verhängnisvollen Depesche hatte übrigens eine lehrreiche Vorgeschichte. Was hatte denn auch in dieser schrecklichen Zeit keine Vorgeschichte. Um der Nachricht von dem Flottenmanöver im »Evening Standard« an dem kritischen Tage die nötige Beachtung zu sichern, hatte man jene Zeitung und die Einwohner von San Franzisco daran gewöhnt, daß »unser Marine-Korrespondent« im »Evening Standard« seine Leser seit Monaten schon mit verblüffend richtigen Meldungen über die amerikanische Flotte und das ganze Seewesen versorgte.

Mr. Alfred Stephenson schlug sich in Los Angeles als Redakteur des »Los Angeles Advertiser« recht und schlecht durchs Leben. Die Sorgen des Daseins machten ihm jedoch viel zu schaffen, und das kam daher: Mrs. Olinda Stephenson wollte eine gesellschaftliche Rolle spielen, und zwar eine Rolle, die mit dem Einkommen ihres Herrn Gemahls durchaus nicht in Einklang stand. Mr. Stephenson hatte deshalb öfters mit Anfechtungen in seinem Berufe zu kämpfen, überwand sie aber lange Zeit siegreich und wies alle Anerbieten, deren Annahme ihn selbst in seiner persönlichen Achtung herabgesetzt haben würde, zurück. Dadurch blieben aber die Finanzdebatten im Hause Stephenson eine dauernde Erscheinung, und wie ein Finanzminister gebrauchte er beträchtliche Mengen von Widerstandsenergie, um die finanziellen Ansprüche der Opposition in seinen vier Wänden herabzumindern oder durch passiven Widerstand lahm zu legen. Allmählich begannen aber diese Kümmernisse Mr. Stephenson zu erschöpfen, und sein Checkbuch, das er des Renomees halber stets bei sich führte, blieb eine zwecklose Atrappe.

Konnte man es ihm deshalb verdenken, daß er mit beiden Händen zugriff, als ihm eines Abends in einer Bar in Los Angeles ein fremder Herr das Anerbieten machte, ihm regelmäßig Nachrichten aus dem Marinedepartement für den »Evening Standard« zuzustecken? Die Sache mußte natürlich mit der größten Heimlichkeit geschehen. Der Fremde sagte Stephenson, ein Unterbeamter im Marinedepartement, sei bereit, ihn gegen die Zahlung von 200 Dollars jährlich mit solchen Nachrichten zu versorgen. Der Erfolg war überraschend. Die Meldungen »unseres Marineberichterstatters« machten bald Aufsehen, und das glänzende Honorar aus San Franzisco glich nun das Defizit in Stephensons häuslichem Etat aus, Mrs. Olinda plätscherte im Gelde und die ärgerlichen Finanzdebatten verstummten. Seitdem erhielt Stephenson regelmäßig geheimnisvolle Briefe, die in Pasadena auf der Post aufgeliefert waren und deren Herkunft er selber nicht kannte, mit denen der »Evening Standard« aber die gesamte Presse der Vereinigten Staaten stets glänzend schlug, und die niemals dementiert wurden.

Natürlich fiel die Sache in Washington auf. Man war sich sofort darüber klar, daß hier tatsächlich geheimes Nachrichtenmaterial veruntreut wurde. Man suchte den Schuldigen im Marinedepartement, ohne ihn jedoch zu finden. Dort suchte man freilich auch vergeblich. Die Sache war nämlich die: Zu der Reihe der Funkspruchstationen, durch die das Marinedepartement in Washington mit allen Kriegshäfen und Flottenstationen und mit der Flotte selber, wenn sie draußen war, in steter Verbindung war, gehörte auch die große Station auf dem Wilsons Peak neben dem Observatorium, dessen helles Zinkdach, wenn es die Sonnenstrahlen zurückwirft, von Los Angeles aus deutlich zu sehen ist. Alle dort einlaufenden und nach San Diego und Mare Island weitergegebenen Nachrichten konnten nun mit absoluter Sicherheit an der Funkspruchleitung abgelesen werden, die unauffällig an dem riesenhohen Windmotor auf einer Orangenplantage zwischen Pasadena und Los Angeles angebracht worden war. Dem Uneingeweihten mochten die Drähte als zu einem Blitzableiter gehörig erscheinen. Der japanische Besitzer jener Plantage hatte nun nichts weiteres zu tun, als das Nachrichtenmaterial vom Morseschreiber seines Apparates abzulesen und das ihm davon geeignet erscheinende an Mr. Stephenson durch die Post zu senden, und der »Evening Standard« konnte einige Stunden später mit den Depeschen seines unfehlbaren Marineberichterstatters prunken.

So wurde Stephenson, ohne es zu ahnen, ein Rad in der großen Maschine, die dem Feinde die Bahn bereitete, und da der »Evening Standard« in dieser Hinsicht als durchaus zuverlässig galt, so zweifelte auch niemand an seiner Depesche, als sie Admiral Sperrys Angriffsmanöver für den 7. Mai ankündigte, obgleich das die erste falsche Meldung war, die Stephenson seinem Blatte übermittelte.


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