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Die rote Sonne über dem goldenen Tor.

Pfu – u – ut heulte draußen die Dampfpfeife eines großen Steamers und erschütterte dröhnend die dicken Nebelschwaden, die in der Morgenfrühe des 7. Mai die weite Bucht von San Franzisco deckten. Durchs goldene Tor hereinziehend kroch der weiche, graue Dunst zwischen den Masten und Schornsteinen der Schiffe am Staden empor, umhüllte das gelbe Licht der Laternen im Vortopp mit trüben Schleiern, wogte wieder aus dem Takelwerk hernieder und drohte die lange Reihe der Laternen an den endlosen Kais zu ersticken. Die flimmernden Lichtbänder an der Uferlinie von Oakland gaben sich alle Mühe, die Nebel zu durchglühen, verdämmerten aber in dem feuchtkalten Geschiebe der wallenden und brodelnden Dunstmassen. Auch das leuchtende Auge auf Angel Island schloß sich. Pfu – u – ut … brummte draußen von Golden Gate her wieder der mürrische Warnungston des Dampfheulers … Pfu – u – ut. Und dann schrie drüben in Tiburon jäh emporlodernd der hell aufkreischende Lokomotivpfiff des Ferrybootes für die Passagiere des Frühzuges von S. Rafael sein Abfahrtssignal in den Nebel hinein. Wie ein riesiges nach allen Seiten endloses Aquarium erschien die von flimmerigem Dunst erfüllte Atmosphäre, wie ein Aquarium, in dem seltsam geheimnisvolle ins riesenhafte verzerrte urweltliche Fabelwesen ihre Glieder reckten und sich mit feurigen Augen gegenseitig anglotzten. Und von den schwankenden Lichtpunkten auf und zwischen den Schiffen streckten sich zitternde Lichtbalken, die sich wie durchsichtige Schlagbäume hoben und senkten, wenn die fröstelnden Wachtposten an Deck ihre Laternen bewegten, die plötzlich weit ausholten und tropfnasse Stücke des Tauwerkes in gelbem Lichte aufleuchten ließen und dann die schwarze Silhouette eines Deckshauses in silberner Umrandung erstrahlen ließen, wenn der Mann mit seiner Lampe nach unten in die Kombüse flüchtete, um dort durch einen herzhaften Schluck die erstarrten Lebensgeister wieder zu erfrischen.

Der kalte Wind stopfte den feuchten Nebel hinein in die Marketstreet, schob ihn bergauf und ließ ihn dann wieder herunterfließen, bis er alle Straßen mit seinen grauen Massen anfüllte.

Pfu – u – ut brummte die Dampfpfeife vom Goldenen Tore her und weiter hinaus erwachte noch eine. Drüben in Tiburon hatte das Ferryboot sich wieder beruhigt, der Nebel ließ es nicht fahren. Halb fünf Uhr morgens schlugen weithin hallend nacheinander die Turmuhren, im Nebel klangen diese hellen Schläge seltsam laut und unwirklich. Vom Telegraphenhügel am Nordende San Franziscos konnte man dies wallende Nebelmeer weithin überblicken. Wie Inseln schwammen einzelne Häuser der höchst gelegenen Stadtteile auf dem hin- und herflutenden seidengrauen Gewoge. Wie schwarze ernste Steinklippen ragten hier und da die höchsten Stockwerke einiger Wolkenkratzer daraus empor. Im Osten ließ ein fahler Dämmerschein den kommenden Tag ahnen. Pfu – u – ut brüllte noch einmal die Dampfpfeife des einkommenden Dampfers; dann schlug ihr die Stimme über und sie schloß mit einem mißtönigen Schluchzen, worauf hastig und nervös die Schiffsglocke zu läuten begann: bam – bam – bam. Der Dampfer hatte Anker geworfen, des Nebels wegen. Pfu – u – ut machte draußen nur noch der andere Dampfer. Das ganze Leben in der Bai stockte, man mußte warten, bis die Sonne kam und mit ihr die Wärme.

»Verdammter Nebel,« sagte der Telegraphenbote Tom Hullack zu seinem Kollegen Jonny Kirkby, als er um ½5 Uhr vor dem Post Office von seinem Fahrrade sprang, »verdammter Nebel, man könnte daran ersticken.«

Jonny brummte nur, er hatte noch nicht ausgeschlafen, die achtzehn Drinks von gestern abend rumorten noch in seinem Kopfe. »Nicht bis zur nächsten Laterne kann man sehen,« antwortete er nach einer Weile, »wäre eben fast mit meinem Rade mit einer Infanterie-Kompagnie kollidiert, die plötzlich vor mir aus dem Nebel auftauchte. Was ist denn heute morgen los, daß die nach Golden Gate ausrücken?«

»Schafskopf,« sagte Tom, »Flottenmanöver, Du lebst auch in den Tag hinein wie ein blindes Kalb. Hast den »Evening Standard« nicht gelesen? Heute morgen Flottenmanöver, Admiral Sperry soll San Franzisco angreifen.«

»Blödsinnige Kriegsspielerei,« schalt Jonny.

Beide schoben ihre Fahrräder in den Raum unten im Post Office und stiegen zu ihrem Dienstraum im ersten Stock empor.

»Flottenmanöver?« fing Jonny dort wieder an, »davon weiß ich wirklich nichts.«

»Ja, gestern abend stand's im »Evening Standard«. Ganz unvermutet seien die Dispositionen geändert und die Flottenmanöver hätten heute vor der Bai stattzufinden.«

»Das kann noch stundenlang dauern, wenn's überhaupt heute noch Tag wird,« meinte Tom ärgerlich und wies durch das Fenster nach draußen, während sich Jonny hinter ihm mit der defekten Teemaschine herumschlug, um sich einen Morgentrank zu brauen. Tom wanderte stampfend im Zimmer auf und ab, um sich zu erwärmen. »Gott sei Dank, ist wenigstens heute am Sonntag nichts los, sonst kann man sich die Schwindsucht noch holen, wenn man mit den Depeschen fortwährend in den Nebel hinaus muß.«

Bum! – erschütterte von draußen ein lauter Donnerschlag die Fensterscheiben und Bum! noch einmal. Das konnte vom Fort kommen. »Da hast Du das Flottenmanöver,« sagte Tom, »der Sperry läßt sich nicht lumpen. Der Nebel schreckt ihn nicht, ist ja auch eine gute Chance zum Angriff.«

Jonny antwortete nicht, er war schon wieder in einer anderen Welt. Nachdem er seine Teemaschine mit Mühe instandgesetzt, war er eingeschlafen und schnarchte, mit seiner gewichtigen Nase auf der Tischplatte, als ob er deren Holz noch durchsägen wollte, bevor sein Tee fertig wäre.

Tom zuckte verächtlich die Achseln. »Ja, die Drinks,« sagte er.

Bum! machte es draußen wieder.

Hinter Tom öffnete sich die Tür, ein Telegraphenbeamter blickte hinein. »Zwei,« zählte er, »zwei sind schon da,« und schloß die Tür wieder.

Unten auf der Straße raste jetzt ein Motorrad knatternd und pustend vorbei. Im Nebel erschien die Gestalt des Fahrers wie ein riesiger huschender Schatten.

Tom begab sich wieder auf die Wanderschaft. Auf dem Korridor schlug es ¾5 Uhr. Im Nebenraume schrillte eine Glocke. Die Treppe herauf kamen stampfende Schritte, ein anderer Kollege der beiden trat ein, schimpfte über den Nebel, ging an Jonny vorbei, goß sich dessen Tee ein und trank. Er deutete fragend mit dem Kopfe zu Jonny hin.

»Die Drinks,« grinste Tom.

»Hm,« knurrte der andere. Unten fuhr wieder ein Motorrad vorbei und dann noch eins.

Später kam eine Gruppe von zehn Radfahrern.

»Sahst Du es, Harry?« fragte Tom am Fenster.

»Was denn?«

»Hatten die nicht Gewehre?«

»Wahrscheinlich das Flottenmanöver.«

Da kam wieder eine Gruppe von zehn Mann. Ja, sie hatten Gewehre.

»Doch wohl das Flottenmanöver,« bestätigte Tom.

Bum – machte draußen wieder ein Schuß.

»Merkwürdig,« sagte Tom. »Was ist denn das?« Er öffnete das Fenster und horchte hinaus. »Hörst Du es?« fragte er Harry. Der vernahm jetzt ebenfalls ein kratzendes, knarrendes Geräusch wie ferner Trommelwirbel oder wie wenn man eine Handvoll Erbsen gegen eine Fensterscheibe wirft.

Tom beugte sich zum Fenster hinaus. Unten stoppte vor dem Post Office ein Motorfahrer, nahm ein großes Stück Papier, bestrich es mit einem dicken Pinsel und klebte es neben den Eingang an die Wand, dann fuhr er davon. Tom schloß das Fenster, der Nebel schien sich noch dichter zusammenzuballen. Kaum konnte man auf der Straße noch in dem fahlen Dämmerschein des anbrechenden Tages die gelben Flecken einiger Laternen erkennen. Jonny war jetzt erwacht und alle drei tranken ihren Tee.

»Das nenne ich aber eine famose Idee von Admiral Sperry. Mit seinem Manöver scheint er Glück gehabt zu haben bei diesem Nebel. Denkt nur, er hat San Franzisco überfallen. Unten am Eingange klebt eine Bekanntmachung, daß die Japaner San Franzisco besetzt haben und daß der japanische Militärgouverneur von San Franzisco die Bürger auffordere, sich ruhig zu verhalten, widrigenfalls die Stadt vom Hafen aus durch die japanische Flotte bombardiert würde.« Mit diesen Worten trat ein vierter Telegraphenbote in das Zimmer.

»Ja, unser Sperry ist wirklich ein famoser Kerl, mit dem ist nicht zu spaßen,« sagte Tom. »Die Japaner San Franzisco überfallen, das ist eine vorzügliche Kriegsidee.«

Draußen raste jemand die Treppen empor, Türen knallten und verschiedene Glocken schrillten.

»Na, da hat's aber jemand eilig,« meinte Harry, »da wird es für uns gleich zu tun geben.«

Ein Telegraphenunterbeamter riß die Tür auf und brüllte völlig fassungslos, während ihm die dicken Schweißtropfen auf der Stirn standen: »Jungens, die Japaner haben San Franzisco überfallen.«

Ein dröhnendes Gelächter scholl ihm als Antwort entgegen.

»Reingefallen!« rief ihm Harry zu. »Reingefallen! Der Sperry ist der Japaner.«

»Sperry?!« Der Neuangekommene sah die vier betroffen an. »Wer ist Mr. Sperry?«

»Aber Mr. Allan, wissen Sie denn nicht, daß wir heute Flottenmanöver haben, daß Admiral Sperry heute mit der Flotte San Franzisco überfallen soll?«

»Aber an allen Straßenecken kleben doch Bekanntmachungen, daß der japanische Gouverneur von San Franzisco die Bürger auffordert …«

»Aber das ist ja gerade Mr. Sperrys Witz, der überfällt als Japaner unsere Stadt, das ist doch die Idee von den Flottenmanövern.«

»Sie haben wohl nicht ausgeschlafen,« rief Tom, »wenn alle Japaner so aussehen, wie Admiral Sperry, dann …«

Tom ließ sein Teeglas fallen und starrte wie von einer Gespenstererscheinung gebannt auf die Tür. Hinter Mr. Allan stand freundlich lächelnd ein Japaner, ganz sicher ein Japaner, ganz ohne Zweifel. Er schaute sich in dem kahlen Dienstzimmer um und sagte im schönsten Englisch: »Meine Herren, ich muß Sie bitten, vorläufig in diesem Zimmer zu bleiben.« Damit nahm er sein Gewehr hoch und behielt die fünf Leute scharf im Auge.

Jonny sprang auf, griff instinktiv nach der hinteren Hosentasche, um seinen Revolver zu holen, aber schon sah er die Mündung des Gewehrs des Japaners auf sich gerichtet, und mechanisch folgte er dessen Aufforderung »Hände hoch!«

»Geben Sie das Ding her,« sagte der Japaner, »Sie könnten damit schießen,« nahm Jonny den Revolver ab und steckte ihn in die Tasche. Draußen gingen verschiedene japanische Soldaten vorüber. Mr. Allan sank völlig überwältigt auf seinen Stuhl. Begreiflich, verständlich war keinem der vier anderen diese Situation.

Eine halbe Stunde hatten sie so zu warten. Von unten, von der Straße her, wo allmählich der Wagenverkehr begann, tönte ab und zu der feste, dröhnende Taktschritt marschierender Abteilungen herauf. Dazwischen ratterten die Motorräder, es war kein Zweifel, das war Ernst.

Jetzt machte, während die Lampen erloschen und das graue Licht des beginnenden Tages die Räume füllte, der höchste diensthabende Beamte im Post Office, gefolgt von einem japanischen Offizier, die Runde durch alle Diensträume.

Der Mann schwitzte vor lauter Erregung. Er forderte die Beamten auf, sich ruhig zu verhalten, es wäre kein Scherz, es wäre blutiger Ernst, San Franzisco befände sich in den Händen der Japaner. Es sei Pflicht aller Beamten, aller Bürger, sich jeder Feindseligkeit zu enthalten, um nicht ein unabsehbares Unglück – eine Beschießung, fügte er leise hinzu – durch die japanische Flotte über die Stadt heraufzubeschwören.

Die Beamten mußten, soweit sie solche besaßen, ihre Schußwaffen abgeben, sie wurden eingesammelt und von den Japanern verwahrt. Um 7 Uhr, als alle diese Dinge erledigt waren und die Plätze an den wenigen Telegraphenapparaten, die in Betrieb gelassen wurden, von japanischen Telegraphisten besetzt waren – alle weiteren wurden durch Entfernung einiger Teile des Mechanismus unbrauchbar gemacht –, bat einer der Telegraphisten, den Direktor sprechen zu dürfen. Mit gedämpfter Stimme verständigte er ihn, daß er in dem Moment, als die japanischen Posten das Telegraphenzimmer besetzt hätten, noch eine Depesche nach Sacramento aufgegeben und gemeldet habe, daß San Franzisco von der japanischen Flotte überfallen und daß die ganze Stadt von japanischen Truppen besetzt sei.

»Ich danke Ihnen im Namen unseres armen Vaterlandes,« sagte der Direktor, indem er die Hand des Telegraphisten ergriff, »ich danke Ihnen, das war eine mannhafte Tat.«

Um dieselbe Zeit, da jener Telegraphist die Depesche nach Sacramento aufgab, las viele, viele Meilen im Lande weit östlich von San Franzisco in einem Straßengraben ein kleiner gelber, schlitzäugiger Kerl von seinem Morseapparat, den er an die Telegraphenlinie San Franzisco-Sacramento angeschlossen hatte, die Depesche ab: »An das Polizei-Direktorium in Sacramento. San Franzisko ist heute morgen von der japanischen Flotte überfallen worden und die ganze Stadt befindet sich im Besitz der japanischen Armee. Widerstand war unmöglich, da der Überfall in früher Morgenstunde im Nebel erfolgte. Hilfe dringend notwendig. Die Japaner besetzen soeben das Post Office.«

Der kleine gelbe Mann lächelte stillvergnügt, riß den Streifen ab und gab ihn dem neben ihm stehenden Offizier, der tief aufatmend sagte: »Das also wäre erreicht.«

Denn zu der Stunde, als die Japaner das Postamt in San Franzisco besetzten, hatten längst weit im Lande japanische Vorposten alle Telegraphenlinien mit fast unsichtbaren feinen Silberfäden umsponnen und jede telegraphische Meldung nach Osten hin unmöglich gemacht. Jene Depesche diente demnach zu nichts weiterem, als die japanischen Vortruppen von dem durchschlagenden Erfolge zu verständigen, den die japanischen Waffen am Goldenen Tor errungen hatten.

Aber wie hatte das alles geschehen können? Mit dem Nebel, diesem so außerordentlich seltenen Gast an den glücklichen Gestaden des Pacific, hatte der Feind natürlich nicht rechnen dürfen. Eine ungewöhnliche barometrische Depression brachte jedoch tagelang häßliches stürmisches Wetter. Die Japaner waren auf einen Kampf mit den Forts von San Franzisco und auf einen Kampf mit den wenigen auf der Flottenstation liegenden Kriegsschiffen vorbereitet. Daß ihnen in dem Nebel des Frühmorgens ein Bundesgenosse erwachen würde, das ging über alle Hoffnungen und strategischen Berechnungen weit hinaus.

Ganz verstehen hat man es nie können, wie das alles möglich gewesen war. Das eine aber war sicher, daß unsere Fehler und unsere Gedankenlosigkeit dem Feinde gefährliche Waffen in die Hand gedrückt hatten. Warum sorgten wir nicht besser für unsere Soldaten, warum gab man ihnen, wenn sie den Waffenrock auszogen, nicht soviel Geld, daß sie wenigstens nicht darauf angewiesen waren, ihre Uniformen verkaufen zu müssen, um ein paar Dollar in die Hand zu bekommen? Haben wir es denn nie bemerkt, daß alle diese Uniformen immer sofort spurlos verschwanden, daß sie, an chinesische Händler verkauft, im Chinesenviertel von San Franzisco aufgespeichert wurden, um, auf die Soldaten des Tenno zugeschnitten, dessen Invasionsarmee auf amerikanischem Boden mit amerikanischen Uniformen zu versehen, sodaß hierdurch die erste Überraschung erleichtert wurde?

Als die Sonne des 6. Mai in den Fluten des Pacific versank, hatte jeder Japaner seine Ordre für die nächsten Stunden in der Hand, und die fünftausend Mann, die bestimmt waren, in der Morgenfrühe des 7. Mai am Lande die Arbeit in San Franzisco zu besorgen, verschwanden unbemerkt in den Höhlen und Kellern des Chinesenviertels unter der Erde, um dort ihre Uniformen und Waffen zu holen und bald nach Mitternacht bereit zu sein.


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