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Die Schlacht an den blauen Bergen.

Einige Milizregimenter hatte man noch im Mai an die Front entsenden können, wo sie sich zusammen mit den Resten unserer regulären Armee tapfer mit den japanischen Vortruppen im Gebirge herumschlugen. Mangelhaft ausgebildet und schlecht verpflegt, wiesen diese Regimenter unter der Führung tüchtiger Offiziere, worunter sich viele deutsche befanden, bald vorzügliche Leistungen auf, aber in den unaufhörlichen Kämpfen verbrauchten sie sich rasch. Diese Regimenter wußten, was es heißt, mit knapp 50 000 Mann mehr als einer halben Million Soldaten eines kriegsgeübten tapferen Feindes gegenüberzustehen, sie wußten, was es heißt, stets auf dem Gefechtsfelde in der Minderzahl zu sein, diese eisernen Brigaden, von denen jeder Mann in heißen Kampfestagen zu einem vollendeten Feldsoldaten erzogen wurde. Vor allem die aus den Reitern der Prärie und des Gebirges sich rekrutierenden Kavallerieregimenter, darunter die sehr brauchbaren indianischen und halbindianischen Scouts, die alle Schliche und Kniffe vergangener Zeiten instinktiv von neuem wieder anwandten, machten den japanischen Vorposten viel zu schaffen. Mit ihren Maschinengewehren, die auf dem Rücken der Pferde transportiert wurden, stellten sie eine vorzügliche, schnell verwendbare Waffe dar. Doch ihre Zahl war klein, und der Kleinkrieg konnte den Feind wohl ermüden, ihm aber in seinen festen Positionen keinen ernstlichen Abbruch tun.

Stets dem Feinde auf der Spur, nachts seine Feldwachen und Biwaks überfallend, wie Gottes Sturmwind plötzlich zwischen die überraschten Japaner hineinfahrend, dann wieder über sonnendurchglühte Berghalden und durch die dunklen Schluchten des Felsengebirges den Gegner verfolgend, größeren Abteilungen stets ausweichend, hinter ihrer Front Proviant- und Munitionskolonnen abfangend, auf unermüdlichen Pferden überall auftauchend und blitzschnell wieder verschwindend, so führten sie den Krieg, so hielten sie treue Wacht, diese wetterharten Rauhreiter in ihren zerrissenen Uniformen, diese wackeren Burschen, die nie müde waren und die stets unerbittlich vorwärts drangen, wenn auch das Blut ihrer wunden Füße das Felsgeröll rot färbte, und die den Teufel aus der Hölle hinausmarschiert hätten, wenn das schmetternde Angriffssignal neue Energie durch ihre ermatteten Glieder jagte. Stets nur Auge und Ohr, war es eigentlich ein Wunder, daß sie nicht mit der Zeit Augen wie Teleskopfische bekamen, und daß ihnen nicht Luchsohren wuchsen.

Und auf diesen endlosen Märschen, auf diesen tollkühnen Ritten durch Felswüsten und schweigende Wälder woben sich aus dem Trappeln der Rosse, aus dem Janken der Sättel und dem Knirschen und Rappeln des Steinschuttes auf einsamen Gebirgspfaden seltsame Rhythmen zu Strophen, und beim Feuerschein nächtlicher Biwaks unterm Sternenzelt entstanden jene wundersamen wilden Reiterlieder, die der Kampfeszorn ersonnen, und die in aller Munde weiterlebten.

Ende Juli war es endlich so weit, daß die Nordarmee unter General Mac Arthur in der Stärke von etwa 110 000 Mann in der Richtung auf die Blauen Berge im Osten des Staates Oregon und die fast ebenso starke Pacificarmee gegen Granger an der Union Pacific Bahn in Marsch gesetzt werden konnten. Im Süden sollten die Truppen aus Kuba und Florida gemeinsam mit den drei in New Mexiko stehenden Brigaden gegen die äußerste rechte japanische Flanke vorgehen, bis der Tag von Corpus Christi diesem Plane ein jähes Ende bereitete.

Die deutschen und irischen Freiwilligen-Regimenter hatte man in besonderen Brigaden bei der Nordarmee und der Pacificarmee zusammengefaßt, im übrigen aber die Milizregimenter und Freiwilligen-Regimenter ohne Unterschied in die Divisionen eingereiht. Das Korps des Generals Mac Arthur umfaßte die drei Divisionen Fowler, Longworth und Wood, jede ungefähr 30 000 Mann stark. Dazu eine deutsche und eine irische Brigade von je drei Regimentern, zusammen etwa 16 000 Mann, so daß die gesamte Nordarmee etwa 110 000 Mann und 140 Geschütze zählte.

In der letzten Juliwoche begann die Verladung der Division Wood im Truppenlager bei Omaha. Dann gings mit der Bahn nach Monida, wo die Oregon Short Linie die Grenze von Montana und Idaho überschreitet. Auf allen Haltepunkten und auf allen Bahnhöfen bot sich stets dasselbe Bild. Ein schier unentwirrbares Durcheinander von Soldaten aller Waffengattungen, dazwischen schimpfende Stabsoffiziere, ratlose Stationsbeamte, Geschütze, die auf ihre Pferde warteten, und Gespanne, die auf ihre Geschütze warteten, Kavalleristen, deren Pferde mit einem falschen Zug vorausgeschickt waren, Güterwagen voll Munition, von denen kein Mensch wußte, zu welcher Division sie gehörten; Wagen voll Lagermaterial, wenn man Lebensmittel brauchte, und Wagen voll Konservenbüchsen, wenn Pferdefutter verlangt wurde, lange Militärzüge, die auf offner Strecke haltend die Schienen blockierten, und Lokomotiven, die zwecklos hin und her fuhren; vor allem gaben die überall zu kurzen Verladerampen auf den Bahnhöfen Anlaß zu endlosen Verzögerungen. Und wenn nicht der amerikanische Humor über all den Ärger hinweggeholfen hätte, so hätte dieser schlecht ausgeglichene Heeresapparat einfach überhaupt versagt. So aber fügte man sich mit knurrendem Magen in das Unvermeidliche und war nur froh, daß jede Umdrehung der Räder die Truppen dem Feinde näherbrachte. Aber immer wieder blieben die Züge auf den Stationen liegen, stundenlang mußte man Halt machen, um von der Front leer zurückkommende Züge passieren zu lassen.

Das 28. Milizregiment (Wisconsin) unter Oberst Katterfeld hatte nach einer endlosen Eisenbahnfahrt auf der Northern Pacific Railway am 22. Juli die Vorberge der Rocky Mountains erreicht. Auf einer kleinen Station war für das Regiment warmes Essen bereit gestellt worden. Dann wurde noch einmal Appell gehalten, und die drei dicht hintereinander fahrenden langen Züge, die das Regiment beförderten, setzten sich wieder in Bewegung.

Oberst Katterfeld war bei seinen Leuten schnell beliebt geworden. Es war ein kleiner hagerer Mann mit eisgrauem Haar und Bart, ein Deutscher von Geburt, der ein ruheloses Leben hinter sich hatte und schon in drei Erdteilen gekämpft hatte. Doch sprach er nie davon. Seine Befehle waren kurz und bestimmt. Jeder fühlte instinktiv, der Mann konnte etwas. Als er sich zu Beginn des Krieges – er war zuletzt als Arzt in Milwaukee ansässig gewesen – dem Gouverneur von Wisconsin zur Verfügung stellte, faßte dieser sogleich Vertrauen zu ihm, und Oberst Katterfeld rechtfertigte es schon in den ersten Wochen. Er hatte den Erfolg, daß sein Regiment als erstes in Wisconsin vollzählig war und zuerst ausrücken konnte. Der Andrang zu den Offiziersstellen war einfach erdrückend, und das Offizierskorps war deshalb vorzüglich. Eines Tages hatte sich im Bureau des Regimentes ein Deutscher Walter Lange einschreiben lassen. Als der Oberst den Namen hörte, sah er einen Moment von seinem Schreibwerke auf und blickte den Ankömmling fragend an.

Dann sagte er ganz obenhin: »Wollen Sie als Hauptmann die siebente Kompagnie des Regimentes übernehmen?«

»Herr Oberst?«

»Ja, Sie waren doch bei Elandslaagte mit dabei und nachher bei Kroonstadt?«

»Ja, Herr Oberst.«

»Wer so seine Leute im Feuer zusammenhält, den können wir brauchen. Na, wollen Sie oder nicht?«

»Gewiß aber …«

»Kein Aber.«

So wurden die beiden zum zweiten Male Kriegskameraden. Hauptmann Lange übernahm die siebente Kompagnie.

In tausend Kleinigkeiten bewies der Oberst seine praktische Erfahrung; vor allem verstand er die richtigen Leute auf den rechten Posten zu stellen und wußte den Ehrgeiz der Offiziere und Mannschaften durch Lob und nachsichtigen Tadel so zu wecken, daß das 28. Milizregiment bald durch seine vorzüglichen Leistungen auffiel. Menschlich näher trat dem Obersten aber niemand, auch der Kriegskamerad von Elandslaagte nicht. Rudolf Katterfeld war ein verschlossener Mann, dem niemand mit Fragen lästig zu fallen wagte.

Da der Raum in den Eisenbahnwagen aufs Äußerste ausgenutzt werden mußte, hatte der Oberst zweistündige Wachen eingerichtet. Die Hälfte der Mannschaften durfte auf den Bänken und den auf dem Fußboden aus Mänteln, Decken und Tornistern hergerichteten Lagern schlafen, während die andere Hälfte der Leute stehen mußte, bis nach zwei Stunden der Ruf: Umwechseln! erscholl.

Hauptmann Lange stand am Waggonfenster und blickte in die mondbeglänzte Landschaft hinaus, durch die der Zug dahinlärmte. Weite Talgründe, jäh aufragende Bergzacken und schroffe Felsbastionen flogen vorüber. Ein Pfiff, ein leises Donnern in der Ferne, ein stärker werdendes Rollen, ein huschender Lichtschein über den Schienen, heiß streifte der Gluthauch der vorbeirasenden Lokomotive das Gesicht des Hauptmannes am Fenster und vorüber knatterte eine lange Reihe schwarzer Wagen, ein leer vom Gebirge zurückkommender Zug, der den Truppenlagern wieder zueilte.

Und dann über Brücken und Viadukte, in denen die rollenden Räder ein hallendes Echo weckten, hinein in die enge Schlucht, über deren Waldrändern das stille Licht der Sterne am blauen Nachthimmel funkelte und blitzte.

Der Hauptmann dachte an den Oberst. Von den Schlachtfeldern Südafrikas wußte er sich seiner nicht zu entsinnen. Nie hatte er den Namen Katterfeld dort unten gehört. Und doch diese leuchtenden blauen Augen unter den buschigen Brauen mußte er schon einmal gesehen haben. Den Blick vergaß man nicht. Aber vergebens grübelte der Hauptmann nach. Er sah auf die Uhr, noch eine volle Stunde, bis zum Ende der Wache. Schläfrig lehnten die Soldaten an den Wänden. Auf den Bänken und am Boden schnarchte es laut. Da geriet ein Gewehr in Bewegung, schurrte an der Wand herunter und fiel rappelnd zu Boden. Einige erwachten und brummten unwillig. Weiter raste der Zug, und die eintönige Melodie der taktmäßig stoßenden Räder schläferte die müden Gedanken ein.

Der Hauptmann dachte wieder an Elandslaagte und an Oberst Schiel und an Dinizulu, den Kaffernhäuptling, und an die Geschichte von dessen Königssalbung mit einer Flasche Rizinusöl, wie Oberst Schiel sie damals beim Biwakfeuer zum besten gegeben hatte. Mit alten Kistendeckeln hatten sie das Feuer geschichtet, »Mellins Food« stand darauf … Mellins Food … doch ein tüchtiger Kerl der Mellin … Mellin? … Hieß nicht so auch der Kapitän, mit dem er damals nach Baltimore fuhr? … Da war auch Daisy Wilford an Bord gewesen mit ihren beiden Katzen … Katzen … Wie er damals als Junge immer hinter Katzen hergewesen war … ein förmliches Kesseltreiben … Nein, er war nicht Schuld daran, Anton Schreiber hatte es getan … Er aber wurde dafür eingesperrt oben in der Bodenkammer, wo ihn sein Vater darüber nachdenken ließ, daß man Tiere nicht quälen darf … Aber der Anton war's doch gewesen, trotzdem verriet er ihn nicht … Als er dann allein war, rannte er in blinder Wut über die Ungerechtigkeit der Welt immer mit dem Kopf gegen die Wand … immer … mit … dem … Kopf … gegen … die … Wand … immer … mit …

Bautz! schlug der Hauptmann mit dem Kopf gegen den Fensterrahmen. Er fuhr erschreckt zusammen und faßte nach seiner schmerzenden Stirn. Herrgott, wo war er denn nur? Ach so … ringsum schnarchten die Soldaten und warfen sich im Schlaf unruhig hin und her. Der Hauptmann war todmüde. Hatte er geschlafen? Er sah nach der Uhr, noch 55 Minuten bis zur nächsten Wache.

Von draußen drang mit der frischen Nachtluft das klappernde Sausen und Tosen der Räder herein. Hauptmann Lange blickte wieder zum Fenster hinaus. Der Zug hatte eine Kurve genommen. Von hinten kamen die beiden anderen Züge heran. Jetzt ging's wieder durch eine Schlucht zwischen Berghalden, deren helles Gestein im Mondlicht wie frisch gefallener Schnee glänzte. Rauschende schäumende Wässer stürzten von der Bergwand. Tief unten unter den Schienen brauste ein schwarzer Flußlauf. Dann hinein in den dunklen hallenden Tunnelbau eines Schneedaches, der den rasselnden Taktschlag der Räder und Schienen schmetternd im harten Widerhall zurückgab, der sich in sinnlosen Rhythmen in die Gedanken eingrub. Katter … feld Kat … ter … feld Kat … ter … feld hallte es von dem schwarzen Balkenwerk des Schneedaches zurück. Katter … feld Kat … ter … feld, Kat … ter … feld echote es von der anderen Seite, hell klangen die Schienen und das dahintosende Eisenwerk: Katter … feld, Kat … ter … feld, Kat … ter … feld. Dann ward das ratternde Gelärm breiter und flacher, ein letztes nachhallendes Klappern, die Balken des Schneedaches versanken nach hinten, und weiter ging es in die schweigende Nacht hinein, bis der mit der Kontrolle betraute Sergeant die Uhr zog, der den Schläfern unwillkommene Ruf »Umwechseln« alle aufschreckte, und sich in ein paar Minuten das Bild in dem vom trüben Licht flackernder Gaslampen erhellten Wagen schnell veränderte. Die Schläfer von vorhin reckten sich gähnend an den Wänden, und die anderen wühlten sich in ihr warmes Lager ein. Nach zwei Tagen erreichte das Regiment die Station Monida, wo die Züge verlassen wurden. Die von dort in der Richtung auf Baker City gebaute Feldbahn sollte nur dem Materialtransport dienen. Die Truppen mußten die ca. 400 Kilometer betragende Strecke marschieren.

Während in der Nähe von Monida zum erstenmal die Feldküchenwagen zur Verwendung kamen, wurden an das Regiment neue Stiefel ausgegeben, denn die im Lager gelieferten zwei Paar Schuhe für jeden Mann hatten sich als solche Wunder der amerikanischen Schuhindustrie erwiesen, daß sie schon vollständig verbraucht waren. Bei den bevorstehenden langen Märschen hatte man geglaubt, von Schuhen absehen und auf kräftige Stiefel zurückgreifen zu müssen. Die Soldaten hatten viel Mühe mit dem harten Leder, das sich den Füßen nicht anschmiegen wollte, und die ungewohnte Fußbekleidung brachte viele Unzuträglichkeiten.

Hier war nun die Erfahrung der alten Troupiers von Wert. Die alten Soldatenkniffe aus früheren Feldzügen wurden wieder aufgefrischt. Da gab ein alter, graubärtiger Sergeant, ein Livländer, der schon den mandschurischen Feldzug gegen die Japaner mitgemacht hatte, seinen Kameraden den Rat, unten im Stiefel einen Bogen Papier anzubrennen, worauf der Fuß in den mit heißer Luft gefüllten Schaft leicht hineingelangte. Hauptmann Lange wählte ein drastischeres Mittel. Er ließ seine Kompagnie einfach eine Zeitlang durch einen Bach marschieren, und da das im Wasser erweichte Leder sich leichter dem Fuße anpaßte, hatte die Kompagnie Lange auch die wenigsten Fußkranken auf dem Marsche.

In den zehn Marschtagen bis Baker City lebten sich Offiziere und Mannschaften schnell miteinander ein. Die gemeinsam überstandenen Mühen waren ein fester Kitt, der die Regimenter zu lebendigen organischen Formationen machte. Und als sich die Heeressäulen am 10. August Baker City näherten, hatte die Nordarmee bereits beweisen können, daß sie auf dem Marsche durchaus leistungsfähig war. Auch der Transportdienst war aus den schlimmsten Kinderkrankheiten heraus. Von der Front, wo sich kleinere Abteilungen ständig mit dem Feinde herumschlugen, kam die Nachricht, daß die Japaner Baker City nach Zerstörung der Bahnlinie geräumt hatten.

Am Abend des 11. August bezog das 28. Milizregiment ein Biwak wenige Meilen östlich Baker City. Die Vorposten nach dem Feinde zu wurden jenseits der Stadt von einem regulären Bataillon gestellt.

Die glühende Hitze des Tages lebte noch in jedem Stein und lag in zitternden Wogen über dem heißen Erdboden. Der von den marschierenden Kolonnen aufgewirbelte Staub füllte wie ein brauner Rauch die Luft.

Der letzte Schein des Augusttages erstarb in einem brandroten Aufleuchten am westlichen Himmel, ein blasser Lichtschimmer umsäumte noch die dunklen Silhouetten der Berge und warf satte graublaue Schatten über deren Abhänge. Dann verblichen die Farben, und vom mattblauen Himmel strahlten nur die glitzernden Sterne herunter. Drüben in den Bergen glühten hin und wieder die weißen Lichtfunken einzelner Signallampen auf. Man war am Feinde.

Oberst Katterfeld hatte die Offiziere des Regimentes in seinem Quartier, einem einzelnen Farmhause an der Straße, um sich versammelt und ließ sich von einem Hauptmann des regulären Bataillons über die Kämpfe der letzten Tage und über die Stellungen des Feindes instruieren. Baker City war also geräumt und Marschall Nogi hatte seine Truppen in die Blauen Berge zurückgezogen mit einer zentralen Frontstellung um den Paß, wo die Eisenbahn ihn überschreitet. Wie weit die Flanken der japanischen Positionen nach Süden und Norden ausgriffen, war noch nicht zu erkunden gewesen. Sicher war nur, daß der Feind starke Verbindungen nach beiden Seiten aufrecht erhielt. Nur wie weit diese nach vorn vorgeschoben waren auf den bewaldeten Bergrücken und in den Tälern, war noch zweifelhaft.

Die meisten Offiziere waren bereits aufgebrochen, als draußen der Anruf eines Postens ertönte. Kurz darauf trat Generalmajor Reichmann, der Generalstabschef der Nordarmee, ein, der persönlich die Vorposten inspiziert hatte. Die Offiziere erhoben sich.

Der Generalmajor begrüßte den Oberst Katterfeld: »Ich habe schon viel Gutes von Ihnen gehört.«

Der Oberst verbeugte sich stumm und stellte dann die noch anwesenden Offiziere vor.

»Hauptmann Berisch vom 8. regulären Infanterieregiment.«

»Das Achte hat drüben die Vorposten?«

»Jawohl, Herr Generalmajor.«

»Sind Sie der Hauptmann Berisch, der neulich bei Union den Umgehungsmarsch machte?«

»Jawohl, Herr Generalmajor.«

»Sie sind schon lange in unserer Armee?«

»Seit dem 1. Juni.«

»Sie waren vorher in den Staaten?«

»Nein, ich komme aus Deutschland.«

»Und waren dort …?«

»Offizier, Leutnant im …«

»Leutnant, und nahmen den Abschied?«

»Ja, Herr Generalmajor.«

»Warum?«

»Weil ich hier kämpfen wollte, weil ich nach acht Jahren Kasernendienst einmal in meinem Leben die Kugeln pfeifen hören wollte, einmal den Krieg sehen, ihn anders als aus Büchern kennen lernen wollte. Und weil ich gegen Japan fechten wollte.«

Generalmajor Reichmann schüttelte dem andern herzhaft die Hand. »Denken viele drüben so wie Sie«, fragte er dann, »daß sie alle Brücken hinter sich abbrechen?«

»O ja, sehr viele, wenigstens sehr viele Offiziere. Es sind ja auch viele meiner Kameraden hier.«

»Wie denkt man denn in Deutschland so im allgemeinen über diesen Krieg? Wir hören das alles ja nur aus Zeitungen, aber Sie haben es doch noch drüben erlebt. Steht das deutsche Volk auf unserer Seite?«

»Sicher, so im allgemeinen ganz sicher, aber Sie wissen, wie wenig das deutsche Volk inneren Anteil nimmt an den Fragen der auswärtigen Politik. Sehen Sie doch unseren Reichstag an. Höchstens eine Woche lang im ganzen Jahre wird von dem geredet, was jenseits unserer Grenzen liegt, zwanzig Wochen von Finanznöten, Wahlrechtsfragen, Parteifragen und von Sozialpolitik. Und das sind die besten der Nation, die so denken, wo soll da im Volke das Interesse für die großen Probleme der Politik herkommen? Unsere Landsleute drüben streiten sich immer nur um soziale Doktrinen, als ob die Geschichte der Völker jetzt zu Ende sei, als ob unsere Welt schon auf ihren Lebensabend zusteuerte und sich nur noch um ihre Altersversorgung und um ihr Pensionsverhältnis kümmern darf, als ob der Staat nur noch eine Versicherungsanstalt im großen Stil sei. Auch damals, als der mandschurische Krieg kam, waren die japanischen und russischen Armeen nichts weiter, als lebende Beispiele für die Lehrsätze der Doktrinäre, die an ihnen ihre Ideen von Absolutismus und Kulturfortschritt demonstrieren wollten. Der japanische Götzendienst bei uns daheim hatte ja vollständig alle Geister verwirrt. Keine Ahnung, daß dort drüben in Ostasien eine Welt aus den Nieten und Fugen zu gehen begann, die Jahrtausende in die Quadermassive des chinesischen Volkes und seiner japanischen Vormacht getrieben haben. Li Hung Tschangs ernste Mahnung: »Es ist töricht von Euch Weißen, daß Ihr uns aus unsrem Schlummer aufwecken wollt. Ihr werdet das bereuen, wenn wir einmal erwacht sind, und werdet dann den früheren Schlummer zurückwünschen,« war für das alte Europa nichts weiter als ein Dinerwitz. Aber der Riese war längst erwacht, war durch Europa geweckt worden und reckte die Glieder, bevor man in der westlichen Halbinsel des asiatischen Kontinentes, den unsere Eigenliebe einen Erdteil nennt, noch davon eine Ahnung hatte. Was die gelbe Gefahr bedeutet, das ist ihnen drüben nun endlich aufgegangen, und hoffentlich hält diese Erkenntnis vor, bis die asiatische Gefahr einmal von der anderen Seite zu uns kommt. Nein, im allgemeinen interessiert sich das deutsche Volk nur für die Anekdotenschnitzel, die abfallen, wenn draußen um das Schicksal von Weltreichen gekämpft wird. Nur einmal war es anders.«

»Wann?«

»Damals, als der alte Krüger hilfesuchend und weinend durch Europa irrte. Damals waren die Deutschen mit dem Herzen dabei, weil es gegen England ging, und der seit Jahrzehnten angesammelte Haß plötzlich einen Ausweg suchte. Damals war die Sache auch gefährlich.«

»Gefährlich, warum?«

»Gefährlich, weil das Volk Hochachtung verlangt für seine Vivats wie für seine Pereats. Und weil damals die Spiele der Kinder auf den Straßen zeigten, wie tief das alles ging.«

»Der Kinder auf den Straßen? Sie scherzen, Herr Hauptmann!«

»Nein, Herr Generalmajor. Denken Sie stets daran: Wenn die Kinder auf den Straßen Krieg spielen, dann wird's bedenklich, dann geht die Leidenschaft tief, so tief, daß sie das Herz des Volkes berührt. Damals spielten sie Buren und Engländer und dann spielten sie Deutsche und Engländer. Russen und Japaner haben sie nie gespielt.«

»Sie mögen recht haben. Aber es wurde nicht gefährlich.«

»Deshalb nicht, weil, als England mit dem Kriege fertig war und die Hände frei hatte, sich jene ganze Begeisterung, über die wir heute rückblickend vielleicht nachsichtig lächeln, bis zum letzten Rest ausgetobt hatte. Jene leidenschaftliche Episode in unserm politischen Leben hat uns aber vor einem Kriege mit England bewahrt.«

»Und was spielen die deutschen Kinder jetzt?«

»Ich weiß es nicht, ich bin am 15. Mai abgereist. Vielleicht Deutsche und Japaner …«

*

Als um 5 Uhr morgens die Posten abgelöst wurden, fiel einem Unteroffizier eine handgroße seltsam geformte helle Wolke auf, die wie ein Punkt über den vom ersten fahlen Morgendämmern erhellten Bergen im Westen hing.

»Sicher ein Luftschiff!« meinte einer.

»Ja, sicher! Es bewegt sich,« sagte der Unteroffizier und befahl Hauptmann Lange zu wecken.

Der Hauptmann, der sich mit dem Ohr am Telephon zum Schlafen niedergelegt hatte, fuhr auf und besann sich einen Moment, woher die Stimme aus der Erde käme: »Ein japanisches Luftschiff ist über dem Gebirge sichtbar.« Dann auf! Durchs Glas gesehen! Richtig, ein Luftschiff!

Der helle Körper des Fahrzeuges schwebte ganz oben, wie eine kleine silbergraue Röhre über den Bergen am mattblauen Himmel.

»Geben Sie schnell die Nachricht weiter!« rief der Hauptmann dem Telephonisten zu. Rings umher wurde es lebendig.

»Was werden wir tun?« sagte ein Leutnant. »Schießen hat keinen Sinn; wenn das Ding erst heran ist, schießen wir auf unsere eigenen Leute.«

Langsam kam das Luftschiff näher. Jetzt stand es über der amerikanischen Vorpostenlinie.

»Es sieht unsere ganzen Vorpostenstellungen!« sagte der Hauptmann, »es sieht von oben unseren ganzen Aufmarsch.«

Bums! ging rechts da vorne ein Schuß in die Luft.

Ja, schießt nur.

Ein paar hundert Yards unterhalb des Luftschiffes blitzte ein helles Flämmchen in der Luft auf. Die Dampfwolke eines Schrapnellschusses hing einen Moment wie ein weißer Wattebausch in der Luft und zerstob dann.

Bums! schoß es noch einmal.

»Mit Schrapnells kriegen sie ihn nicht,« sagte der Leutnant, »wenn mir nicht mit derselben Waffe gegen ihn fechten, ist es umsonst.«

»Wir haben neukonstruierte Schrapnells,« sagte der Hauptmann, »deren Bleikugeln mit Spiraldrähten verbunden sind. Wenn sie treffen, reißen sie die Ballonhülle auf.«

Jetzt knallten zwei Schüsse auf einmal.

»Das scheinen die Ballongeschütze zu sein,« sagte der Leutnant.

Weit unterhalb des Luftschiffes schwebten die Traubenwolken zweier Schrapnellschüsse.

»Wahrhaftig sie bringen dahinten unser Motorluftschiff hoch,« rief der Hauptmann, »das einzig vernünftige, was wir tun können.« Er wies weit nach hinten, wo gelb und groß ein Motorballon wie eine Luftblase emporschwebte.

Er stieg sehr rasch in schräger Richtung auf und steuerte dann, mehrere unsichere Kurven beschreibend, in der Richtung des feindlichen Fahrzeuges. Das begann ebenfalls zu steigen.

Hunderttausende von Augen verfolgten die beiden kleinen gelben Punkte dort oben in der klaren Luft des Frühmorgens, während die Gebirgsränder drüben rosafarben aufzuleuchten begannen. Das japanische Fahrzeug befand sich jetzt seitwärts der Stellung des 28. Regiments. Da löste sich von ihm ein winziger schwarzer Punkt los, der mit zunehmender Geschwindigkeit sank und im Fallen immer größer wurde. Jetzt war deutlich ein dunkler Gegenstand erkennbar, der in sausender Geschwindigkeit herabkam. Als er die Erde erreichte, schoß ein roter Feuerstrahl empor. Gewaltige Dampfwolken folgten, die dunkle Gegenstände mit emporwirbelten, und die fernen Berge gaben einen langhallenden Donner zurück, der langsam in den Schluchten nachgrollend erstarb.

»Eine Wurfmine,« sagte der Hauptmann, »sie scheint Schaden angerichtet zu haben.«

Jetzt stieß das amerikanische Luftschiff eine kleine weiße puffende Rauchwolke aus. Zehn Sekunden später platzte irgendwo an einer Felswand ein Sprengkörper.

»Wenn das so weiter geht,« sagte der Leutnant, »beschießen wir unsere eigenen Stellungen von oben, ohne etwas zu erreichen.«

»Der Japaner steigt,« rief jemand, und wieder verfolgten alle mit ihren Gläsern den Weg beider Fahrzeuge.

Der Japaner stieg und der Amerikaner stieg.

»Jetzt gibt er alles von Bord, was er an Sprengkörpern hat,« rief der Hauptmann. Eine Reihe schwebender Punkte kam von oben, und wieder krachte der Donner mehrerer schnell auf einander folgender Explosionen.

Der Japaner stieg rapid, jetzt kreuzte er den Weg des Amerikaners etwa zweihundert Yards über ihm.

Da lohte die gelbe Ballonhülle des Amerikaners in heller Flamme auf, verlor ihre Gestalt, schrumpfte ein und was herunter kam, glich dem vom Sturme zerzausten Gerippe eines Regenschirmes, das rasch links zwischen den Bergtälern versank.

»Aus,« sagte der Leutnant mit einem Seufzer, »schade, das hätten wir auch machen können.«

Hoch oben im hellen Äther schwebte das japanische Luftschiff, beschrieb eine Kurve nach links, ging gerade aus, schien plötzlich vom steigenden Lichte des Morgens aufgesogen zu sein, erschien wieder als ein grauer Punkt auf dem hellblauen Himmel, ging nach rechts hinüber, wurde wieder größer, kam näher und steuerte dann zurück nach den Blauen Bergen. Dann begann dort drüben rechts der Geschützkampf.

*

Der Sturm auf Hilgard, das Zentrum der japanischen Stellung im weiten Talkessel der Blauen Berge, war mißglückt, zwei Regimenter waren an den Drahtverhauen vor dem Städtchen verblutet, dann war alles aus. Bevor man den Sturm von neuem wagte, galt es durch Umgehungsbewegungen auf beiden Flanken die feindlichen Positionen zu erschüttern. Zwei Tage lang tobte der Artilleriekampf, dann gewann die Division Longworth auf unserem rechten Flügel langsam an Boden. Und als die Sonne des 14. August hinter den Blauen Bergen versank, konnte man mit dem Erfolge des Tages zufrieden sein. Es war gelungen, nach schwerer Blutarbeit dem Feinde mehrere wichtige Stellungen an den Gebirgsabhängen zu entreißen.

Gegen Abend wurden sechs weitere Batterien in die eroberten Positionen vorgeschoben, von denen aus sie versuchen sollten, sich am andern Morgen gegen den linken Flügel des japanischen Zentrums vorzuarbeiten. Die telephonischen Meldungen von der Front ins Hauptquartier ließen erkennen, daß die auf die Paßhöhe in der Richtung nach Walla Walla führende Straße vom Feinde frei sei, so daß man auf ihr am Abend die Munitionstransporte heranführen konnte, um die arg zusammengeschmolzenen Vorräte der Artillerie für den Entscheidungskampf am nächsten Tage zu ergänzen.

Zu derselben Stunde, da die Zeitungen im ganzen Osten der Bevölkerung diesen ersten Erfolg der amerikanischen Waffen verkündeten, erhielt Leutnant Esher von General Longworth den Auftrag, dem Kommandierenden der zehnten Brigade, die hier auf dem rechten Flügel vor der Paßhöhe des Gebirges stand, die Befehle für den folgenden Tag zu überbringen. Um ganz sicher zu gehen, wählte General Longworth die mündliche Befehlsübermittelung und gab nur die Anweisung, daß die Empfangsbestätigung von jedem Truppenteil durch den Feldtelegraphen oder das Telephon ins Hauptquartier zu melden sei.

Leutnant Esher überholte mit seinem Motorrad unterwegs eine endlose Munitionskolonne. Er konnte nur langsam vorwärts kommen, da Krankenwagen und die zahllosen Fuhrwerke, die schon die provisorischen Feldlazarette nach rückwärts zu entleeren begannen, ständig die Straße verstopften. Dann war der Weg wieder frei.

Laut ratterte der Motor durch die nächtliche Stille ringsum, die nur selten durch das lang hinhallende Echo eines Schusses unterbrochen wurde. Hier und da wurde der einsame Fahrer von Posten an der Straße angerufen, er gab die Parole und töfferte weiter.

Der Leutnant hatte durch Fragen festgestellt, daß er den General Lawrence am schnellsten auf einem schmalen Gebirgspfade erreichen würde, der jetzt links von der wieder durch Transporte völlig unpassierbar gewordenen Straße abbog. Es war eine gefährliche Fahrt, jeden Augenblick konnte das Motorrad auf ein unvorhergesehenes Hindernis stoßen, und der dunkle Abgrund zur Rechten, in den die von den Radreifen beiseite geschleuderten Gesteinstrümmer polternd hinabrollten, konnte bei jeder Biegung des Weges verderblich werden.

Leutnant Esher stieg deshalb ab und führte sein Rad. An einer Waldecke studierte er beim Schein seiner elektrischen Taschenlampe die Karte, da erfolgte dicht über ihm ein Anruf, er verstand ihn nicht, gab die Parole, ein paar Schüsse blitzten in nächster Nähe auf – und als Leutnant Esher wieder zu sich kam, sah er über sich gebeugt das Gesicht eines japanischen Militärarztes.

Er hatte das unbestimmte Gefühl, durch eine Felswüste transportiert worden zu sein, und als er sich mühsam die Vorgänge der letzten Stunden ins Gedächtnis rief, konnte er nicht mehr zweifeln, daß er, wahrscheinlich vom Wege abgeraten, dem Feinde in die Arme gelaufen sein mußte.

Er versuchte den Kopf zu heben, um sich über seine Umgebung zu vergewissern, doch er vermochte es nicht. Ein durchdringender Schmerz in der Schulter zwang ihn wieder auf das Lager. An den Geräuschen rings umher konnte er jedoch erkennen, daß er sich jedenfalls in einer japanischen Vorpostenstellung befand. Der Militärarzt wechselte einige Worte mit einem Offizier, der an das Lager des Verwundeten herangetreten war. Sie sprachen japanisch und Esher konnte nichts verstehen.

»Bin ich verwundet?« fragte er dann den Sanitätssoldaten, der neben seinem Lager hockte.

Der wies mit einer Gebärde auf den Militärarzt. »Es wird wieder gut werden, Herr Leutnant.« sagte dieser.

»Wo bin ich verwundet?«

»Das rechte Schlüsselbein getroffen,« antwortete der Arzt und blieb dann in der Nähe Eshers auf einem Steine sitzen. Viel Arbeit schien der Arzt bei diesem Truppenteil nicht zu haben.

Der stechende Schmerz in der rechten Schulter übertäubte einige Minuten die Gedanken des Verwundeten, dann kehrten sie wieder zurück zu der Ordre für die Brigade Lawrence. Gott sei Dank, daß er nichts Schriftliches mit sich führte, dem Feind war nur ein demoliertes Motorrad und der zerschossene Körper eines gleichgültigen Offiziers in die Hände gefallen. Sicher würde man beim Divisionsstabe bald durch telephonische Nachfrage erfahren, daß der Befehl bei General Lawrence nicht eingetroffen sei, und konnte ihn dann wiederholen.

Esher drehte mühsam den Kopf zur Seite und sah den japanischen Offizier die soeben von einem Meldereiter überbrachte Ordre beim Scheine einer Radfahrerlaterne für sich kopieren. Wie in Erz gehauen saß der Reiter auf seinem kleinen Pferde, das sehr ermattet schien und keuchend atmete.

Da plötzlich wuchsen dem japanischen Kavalleristen riesenhafte Fledermausflügel, die sich immer weiter ausspannten und den ganzen Nachthimmel überwölbten. Wie ein wüstes Fabelwesen aus der unheimlichen Phantasie eines Dora geboren, erschien diese gespenstische Gestalt wie ein Racheengel der Apokalypse.

Dann schrumpfte der Reiter wieder zusammen und hüpfte wie ein gaukelndes Äffchen auf dem Rücken seines Pferdes.

Der Verwundete wischte sich mit der rechten Hand über die Augen. Was war denn das? Wachte er oder träumte er?

»Wasser«, bat er den Sanitätssoldaten, der gab ihm einen Blechbecher. Jetzt saß da oben wieder ein richtiger japanischer Kavallerist, und der Offizier schrieb weiter. Da wurde der Arm des Offiziers immer länger und länger und schrieb mit einem feurigen Griffel an die Himmelswölbung:

»Die zehnte Brigade des Generals Lawrence hat am 15. August, wenn kein japanischer Angriff erfolgt, nur die bisherigen Stellungen zu halten, bis erst der Angriff unseres Zentrums …«

Herrgott, was war denn das? Ja richtig, so hatte es auf dem Papier gestanden, seine Meldung, der Befehl für die zehnte Brigade. Genau mit denselben Schriftzügen. Mit glühenden Lettern hatte er sich Zeile für Zeile, Wort für Wort ins Gedächtnis geprägt.

Der Verwundete versuchte sich aufzurichten, vergebens. Der Leutnant drüben schrieb weiter, und der japanische Reiter hielt daneben. Das Pferd schlug sich mit dem Schweif die Flanken.

Mit würgender Angst überkam es den Leutnant: Das war der Beginn des Wundfiebers. Wenn das so weiter ging, wenn er anfing zu phantasieren, dann konnten seine Worte den Befehl für die Brigade Lawrence dem Feinde verraten.

Und er sah Tausende von Japanern um sich mit hochgereckten Hälsen seinen Worten lauschen, und über den Kamm des Gebirges kamen neue Scharen heran, wie ein wimmelnder Ameisenzug, und alle wollten von ihm hören, was in seinem schmerzenden Kopfe für Geheimnisse wohnten, und der Offizier schwang sein Taschenbuch wie eine wallende Fahne über seinem Kopf. Dann faßte der Militärarzt den Leutnant, und Arm in Arm hüpften sie auf und ab … auf und ab.

Um Gottes willen, das war schon das Wundfieber.

Leutnant Esher dachte an daheim. Er sah sein Häuschen in der 48. Straße. Er kam vom Dienste nach Hause, er schritt durch den Garten, er hängte seinen Mantel an den Haken, öffnete die Tür, seine junge Gattin begrüßte ihn, sie nickte ihm zu … Eveline … stöhnte der Leutnant, dann dachte er an Gott.

Dann wieder der schreibende Offizier, der Kavallerist auf seinem Pferde und der schwarze Nachthimmel, auf dem die Sterne wie silberne Mücken tanzten. Mit aller Willenskraft erhob sich der Verwundete. Erschreckt fuhr der japanische Sanitätssoldat aus dem Halbschlummer, er sah seine Mehrladepistole in den Händen des Amerikaners.

Aber schon war es zu spät, ein Schuß krachte, und mit zerschmettertem Schädel sank Leutnant Esher zurück auf den harten Felsboden.

Es war ein Held, der so starb, und es war eine harte Zeit, die Männer mit eisernen Herzen brauchte.

*

Gegenüber Hilgard, dem Zentrum der feindlichen Stellung in den Blauen Bergen, hatte man Schützengräben ausgehoben. Das 28. Milizregiment hatte sie in der Nacht zum 14. August schon besetzt. Der Feind schien nichts davon gemerkt zu haben, da das Regiment am 14. in den Kampf nicht eingriff. Am 14. abends wurde auch das 32. Regiment in diese Stellung vorgeschoben, während von drüben her das bleiche Licht der Scheinwerfer suchend über das Gelände glitt und an den Abhängen der Berge hinstrich, die Posten, die in gedeckter Stellung nach dem Feinde auslugten, mit seinen blinkenden Strahlen blendend. Und traf die gleitende Lichtbahn irgendwo auf dunkle Schatten, die hastig davon sprangen, dann lohten drüben gelbrote Flammen auf, der Feuerblitz platzender Schrapnells zog flimmernde Streifen über den Nachthimmel und erhellte mit flackerndem Lichtschein die nächste Umgebung.

Unablässig zuckten in den metallenen Nervensträngen, die das Hauptquartier mit allen Feldwachen und Vorposten verbanden, die Gedanken und Befehle des einen Mannes, der diesen ganzen Apparat weit hinter der Front von einem kleinen Schulzimmer in Baker City lenkte, in dem er die ihm so nötige Nachtruhe nur in kurzen Pausen genießen konnte.

Das 28. Milizregiment hatte in der Nacht zum 14. August gegenüber dem Städtchen Hilgard in dem harten Boden den Schützengraben mannstief ausgehoben. Jetzt war eine Pionierkompagnie dabei, den Graben zu erweitern und splittersichere Unterstände für die Truppen zu bauen, die womöglich schon am nächsten Abend aus dieser Stellung den Sturm auf Hilgard unternehmen sollten. Die Eindeckungen dieser Unterstände wurden durch dicke Bretter und Bohlen aus einer nahegelegenen Sägemühle hergestellt. Darüber streute man die ausgehobene Erde. Der Feind schien seine Aufmerksamkeit auf andere Stellen zu richten. Fortwährend kreuzten und schnitten sich drüben rechts die Lichtkegel der Scheinwerfer. Von dort, aus den Stellungen der Division Longworth, tönte nämlich ganz deutlich Musik herüber, ein flotter Marsch, der durch die Stille der Nacht mit seinen klaren vollen Tönen weit hinschallte.

Musik? Diejenigen, die ärgerlich über die Unvorsichtigkeit schimpften, angesichts des Feindes die Regimentskapelle spielen zu lassen, wußten ja nicht, daß jene Truppen, die dort in ihre Stellungen einrückten, heute schon einen Marsch von 40 (engl.) Meilen hinter sich hatten, und daß nur noch die nervenstählende Macht der Musik aus den apathisch vorwärts stolpernden Leuten eine letzte Zusammenraffung aller Kräfte herauspressen konnte.

Gin abody, meet abody
comin' thro' the rye

klangen die lustigen vier Vierteltakte der alten schottischen Weise hell und deutlich über das schweigende Schlachtfeld. Quiekend gellten die Pfeifen und dumpf rasten die Trommeln. Und oben über den dunklen Nachthimmel zogen die Lichtstrahlen der Scheinwerfer ihre ruhige Bahn.

Gin abody, meet abody
comin' thro' the rye …

In den Schützengräben des 28. Regimentes waren Schaufel und Hacke emsig an der Arbeit. Rasselnd flog die ausgehobene Erde und rollende Steinbrocken über die Brustwehr nach vorn, diese immer mehr verstärkend. Rastlos wühlten Pioniere und Infanteristen in der dunklen Höhlung durcheinander. Ein Bataillon, das die Wache hatte, hielt Umschau nach dem Feinde zu, stets gewärtig, heranschleichende Gestalten plötzlich aus dem Dunkel auftauchen zu sehen.

»Hören Sie nichts, Herr Hauptmann?«

»Nein, wo?«

Ein seltsamer surrender Ton wie das Schnurren eines kleinen Dynamos war hörbar.

Ein leiser Pfiff, die Pioniere hielten in der Arbeit inne. Auf den Spaten gestützt, horchte man angestrengt. Seltsam, woher dieses fast unirdisch klingende Geräusch kam.

Da hörte man jemand irgendwo ganz laut sprechen, ein anderer antwortete. Oben in der Luft war's. Ein schwarzer Schatten strich über den Nachthimmel. »Ein Luftschiff!« rief einer im Schützengraben. Das surrende Schlittern der Luftschrauben eines Motorballons war deutlich vernehmbar. Baff baff … baff gingen ein paar Schüsse in die Luft.

» Stop the fire!« klang es befehlend von oben.

»Halt! Es ist unser eigener Ballon!«

»Nein, es ist ein japanischer!«

Baff … baff noch ein paar Gewehrschüsse. Hinten erwachte der grobe Baß eines Geschützes, und daneben kläffte das scharfe Bäng … Bäng … Bäng einer kleinen Ballonkanone in dem zweiten Schützengraben los. Ein heller Blitz oben in der Luft, ein rasselnder Splitterschlag von Metall kam herunter.

»Hol euch der Teufel! Ihr schießt ja auf uns!« brüllte Hauptmann Lange nach der Batterie hinüber.

»Feuer stoppen!« klang dort hastig ein Befehl. Hinten krachten noch ein paar Kanonenschüsse.

Da ein blendender heller Lichtschein von oben. Ein weißer Magnesiumstern tropfte langsam herunter, den ganzen Schützengraben in jähem Aufleuchten plötzlich erhellend. Über dem schwarzen Grabenrand sahen gespenstisch die Köpfe der Pioniere hervor. Dann erlosch das Licht. Das Auge, das vergebens die Dunkelheit wieder zu durchdringen suchte, sah nur flimmernde feuerrote Kreise. Drüben begannen die japanischen Batterien zu schießen. Das Luftschiff war verschwunden. War der unheimliche Nachtvogel Freund oder Feind gewesen?

*

Das 28. und 32. Milizregiment sollten den Sturmangriff auf Hilgard eröffnen. Eigentlich hatte General Mac Arthur den Sturm am 15. August in der Morgendämmerung beabsichtigt, doch da noch eine Brigade der Division Wood zurück war, so mußte der Angriff um 24 Stunden auf den 16. August verschoben werden. Der 15. sollte dazu benutzt werden, die anscheinend schon erschütterte Stellung des Feindes noch einmal kräftig unter Artilleriefeuer zu nehmen. Mit dem grauenden Morgen begann auf amerikanischer Seite der Geschützkampf.

Während fast 60 amerikanische Geschütze Hilgard beschossen und ein unablässiger Hagel von Geschossen das Gelände rückwärts der Stadt überschüttete, während die über den Häusern schwebenden weißen Watteflöckchen der platzenden Schrapnells die Aussicht auf die blauen Berge fast verdeckten und die schwarzen Trichterwolken einschlagender Geschosse den Boden aufwühlten und eine eiserne Saat in die Furchen streuten, lagen das 28. und 32. Milizregiment, ohne einen Schuß zu tun, in den Gräben.

Der Kommandeur der 16. Brigade, zu der die beiden Regimenter gehörten, befand sich am Vormittag im ersten Schützengraben und beobachtete neben Oberst Katterfeld den Erfolg des Artilleriefeuers in Hilgard durch sein im Graben aufgestelltes Scherenfernrohr. Eben hatte ein Schrapnell die mit Kupfer gedeckte Spitze des Kirchturmes des Städtchens zerstört, in der sich ein japanischer Beobachtungsposten befunden hatte.

Wenn auch die amerikanischen Geschosse in Hilgard bereits tüchtig aufgeräumt halten, so boten doch die Häusermauern gegen den Bleihagel der Schrapnells immerhin einen gewissen Schutz. Der Brigadier ließ daher aus dem Schützengraben nach der hinter dessen rechter Flanke stehenden Batterie durch Zuruf den Befehl weitergeben, mit Granaten die Häuser links und rechts der Straße, die nach Hilgard hineinführte, unter Feuer zu nehmen.

»Mit Granaten auf die Häuser links und rechts der Straße in Hilgard! … Mit Granaten links und rechts der Straße in Hilgard … Mit Granaten … Hilgard« so verklang der von Mann zu Mann in der Höhlung des Schützengrabens weitergegebene Befehl an die Batterie im Tosen der Schlacht.

»… Granaten … Keine Granaten … Schrapnells … Batterie hat keine Granaten, hat nur Schrapnells,« kam nach einer Weile die Antwort.

»Natürlich wieder keine Granaten, immer nur Schrapnells. Wie soll ich denn aber mit Schrapnells eine Stadt zusammenschießen!« murrte der Brigadier und ging in den splittersicheren Unterstand, wo sich das Telephon befand.

»Von Union aus sofort durch Transportautomobil zweihundert Granatschüsse an die achte Batterie vor Hilgard!« telephonierte der Brigadier … »Was, Union hat keine Granaten mehr? Die letzten an die Division Longworth abgegeben? … Ich brauche aber notwendig mindestens hundert Schüsse. Lassen Sie sie sofort mit dem Munitionsautomobil vom rechten Flügel zurückholen! … Auch kein Automobil mehr?«

Ein Wunder war's sicherlich, daß das Telephon bei all den kräftigen Segenswünschen, die der Brigadier hineinschrie, nicht vor Entsetzen alle und jede Geduld verlor.

Aber mit der von Union aus – dort endete die von Monida für den Transportdienst gebaute Feldbahn – gemeldeten Tatsache hatte es leider seine Richtigkeit. Genau so wie in fast allen europäischen Armeen war auch in der amerikanischen die Granatmunition für die Feldartillerie gegenüber den Schrapnells viel zu gering bemessen. Außerdem war die Mehrzahl der Munitionsautomobile schon verbraucht. Dem Vorteil größerer Schnelligkeit gegenüber wies das Automobil, sobald es in den Bereich des feindlichen Feuers geriet, einen bedenklichen Nachteil, den der allzugroßen Sichtbarkeit auf. Die hinter dem Automobil jäh aufjagenden Staubsegel ließen dessen Fahrrichtung sofort weithin erkennen, und da das Fahrzeug an die gebahnten Straßen gebunden war, so brauchte der Feind nur die Straße nach seiner Schußtafel unter energisches Feuer zu nehmen, und es war meist schnell um dieses moderne Beförderungsmittel geschehen. Die massenhaft am Wege liegenden zerstörten Kraftwagen bewiesen, daß die lebendige Zugkraft des Pferdes ihre Rolle in der modernen Schlacht durchaus noch nicht ausgespielt hatte.

Auch die Kommandostäbe und die Generäle selber verzichteten nach den ersten fatalen Erfahrungen in der feindlichen Feuerzone gern auf ihre Automobile. Nachts verrieten die glotzenden feurigen Augen das Automobil und tags das bekannte Staubdreieck. Kaum kam ein solcher Kraftwagen angetöffert, so schlugen links und rechts die feindlichen Geschosse ein. Deshalb stieg man lieber wieder zu Pferd, war damit nicht auf die gebahnten Straßen angewiesen und bot dem Feinde immerhin ein geringeres Zielobjekt.

Gegen Mittag nahmen die vor Hilgard eingegrabenen japanischen Batterien den Schützengraben des 28. Regimentes unter Schrapnellfeuer. Oberst Katterfeld ließ daher die Hälfte seiner Leute in den splittersicheren Unterständen in Deckung gehen.

Das Heulen und Krachen der platzenden Schrapnells verfehlte natürlich nicht seine Wirkung auf die Nerven der hier zum ersten Male ins Feuer kommenden Truppen. Doch unschädlich prasselte der Bleiregen der Schrapnellkugeln auf die bretternen Deckungen hernieder, ohne sie durchschlagen zu können, und das gab den Leuten in ihren Erdhöhlen nach einer halben Stunde schon ein gewisses Gefühl der Geborgenheit wieder. Bis der Feind zu einer anderen Waffe griff, das wirkungslose Massenfeuer der Feldartillerie einstellte, sich mit Aufschlagszündern unter sorgsamer Feuerbeobachtung von dem Fesselballon hinter Hilgard aus auf die Deckungsstellungen hinter den Schützengräben eingabelte und dann die Bretterdächer mit Haubitzgranaten unter Feuer nahm.

Schon die ersten Treffer richteten furchtbare Verheerungen an. Im Rauch explodierender Schimosegranaten wirbelten die langen Bretter wie Streichhölzer in die Höhe, und grauenhaft war das Blutbad, wenn ein feindliches Geschoß mitten unter die dichtgedrängten Bewohner dieser unterirdischen Maulwurfsgänge einschlug. Zurück also in die Schützengräben! Der Feind hatte jedoch diesen Stellungswechsel von oben erkundet, und unablässig ließen jetzt die Zeitzünder der Schrapnells den Hagelschlag ihrer Bleifüllungen in die Schützengräben niedergehen, und die japanische Artillerie schoß so gut, daß die lange Linie der Schützengräben sich oben in der Luft durch eine gleichlaufende Linie blitzdurchzuckter, weißer Rauchwölkchen markierte. Jetzt gab es nichts mehr zu verbergen, und Oberst Katterfeld ließ sein Regiment nunmehr das Feuer auf Hilgard und die davor eingegrabene feindliche Artillerie eröffnen.

Hauptmann Lange lag mit der Nase im Erdwall des Grabens und beobachtete durch sein Görzglas die Wirkung des Feuers. Trotzdem dies nicht sein erster Feldzug war, hatte er Mühe genug gehabt, das würgende Unbehagen und das jedem Neuling im Kriege bekannte fatale Gefühl niederzukämpfen, als seien sämtliche feindlichen Gewehre und Geschützmündungen direkt auf ihn selber gerichtet. Doch als die ersten Leute seiner Kompagnie fielen und ihm damit die Sorge erwuchs, für den Rücktransport der Verwundeten zu sorgen, hatte er seine Haltung wiedergefunden. Galt es doch auch, den Soldaten ein Beispiel der Kaltblütigkeit zu geben. Ruhig und umständlich zündete sich der Hauptmann eine Zigarette an. Doch wenn er auch scheinbar gleichmütig vor sich hinpaffte, die Zigarette wippte bedenklich zwischen seinen Lippen auf und nieder.

Da arbeitete der Freiwillige Singley, der Berichterstatter des »New York Herald« doch mit noch größerer Seelenruhe. Er hatte ja schließlich auch schon fünf Gefechte hinter sich, bevor er die Erlaubnis zum Eintritt in die 7. Kompagnie erhalten hatte, um hier mit Bleistift und Kamera die Ereignisse der Schlacht für sein Blatt aufzunehmen.

Jetzt richtete er für seinen Kodak in der Brustwehr des Schützengrabens eine förmliche Bettung her und stellte, unter den Apparat gebückt, dessen Visier auf die sechs japanischen Geschütze links vor den Häusern von Hilgard ein, deren Standpunkt nur an der bei jedem Feuerblitz eines Schusses in die Höhe geblasenen Staubwolke zu erkennen war. Denn eben hatte er den durch die Schützenlinie von Mund zu Mund nach rechts an die achte Batterie weitergegebenen Befehl gehört, jene Geschütze mit einigen Lagen Schrapnells zuzudecken. Ein paar Minuten mochten bis dahin noch vergehen. Singley zog sein Notizbuch und überblickte das Resultat der letzten Stunde:

 

No. 843 japanische Granate durchschlägt eine Bretterdeckung,
No. 844 Schützengraben wird von neuem besetzt,
No. 845 Hauptmann Lange raucht im feindlichen Feuer,
No. 846 japanische Schrapnells bezeichnen in der Luft die Linie des Schützengrabens.

 

Singley legte sein Notizbuch neben sich und kroch wieder unter seinen Kodak, sorgsam das Objektiv auf die Batterie drüben einstellend. Jetzt! Ein Feuerblitz zuckte vor dem zweiten Geschütz auf, und ein schwarzer Rauchtrichter schoß empor. Knips!

»No. 847: Japanische Batterie vor Hilgard unter Feuer genommen.«

Singley wechselte in seinem Apparat die volle Filmrolle aus, setzte eine neue ein und suchte dann nach einem weiteren Objekt für seine Kamera.

Er nahm seine Mütze ab und blickte vorsichtig über den Rand des Schützengrabens. War es eine Täuschung? Er sah einen kleinen schwarzen Punkt gerade auf sich zufliegen, »Granate« durchzuckte es seine Gedanken, und blitzschnell warf er sich platt auf den Boden des Schützengrabens.

Wwuuii–wutt fuhr das schwere Geschoß in die Rückwand des Grabens. »Aufschlagzünder!« rief Hauptmann Lange, »niederwerfen!«

Eine furchtbare Detonation erschütterte die Luft, Sand und Steine wirbelten umher, und die erstickenden Pulvergase benahmen allen den Atem, bis man sich in der Staub- und Rauchwolke allmählich wieder erkannte, froh sich unverletzt zu finden.

»Herr Hauptmann!« erklang da eine schwache Stimme unten aus dem Graben, »Herr Hauptmann Lange, ich bin verwundet.«

Der Hauptmann bückte sich und half dem Berichterstatter, der vollständig mit Erde überschüttet war, aus seinem Grabe heraus.

»Meine Beine,« stöhnte Singley. Zwei Soldaten faßten an und lehnten den Berichterstatter mit dem Rücken gegen die Erdböschung. Beide Unterschenkel waren Singley durch ein großes Sprengstück zerschmettert.

»Herr Hauptmann Lange, einen letzten Dienst, bitte!«

»Singley, was wollen Sie denn?«

»Hier, nehmen Sie meinen Apparat!«

Singley richtete an der Einstellung »Hier mit 1/20 Sekunde. Bitte, Herr Hauptmann, richten Sie den Apparat direkt auf mich und ruhig abdrücken … So, ich danke schön. Nun lassen Sie mich fortschaffen!«

Bevor die Leute kamen, schrieb Singley noch in seine Liste:

»No. 848 Berichterstatter Singley von einer feindlichen Granate tödlich verwundet. Hail Columbia!«

Dann klappte er sein Notizbuch zu, steckte es in seine Brusttasche, und fünf Minuten später wurde er von zwei Sanitätssoldaten bis zu dem nächsten Verbandsplatz geschleift, von wo er abends ins Lazarett überführt wurde.

Acht Tage darauf prangte im »New York Herald« Hauptmann Langes Aufnahme des Berichterstatters als Schlußstück der journalistischen Laufbahn Singleys. Auch ein Held auf seine Art. Im Lazarett von Salubria war er gestorben.

Er konnte sich rühmen, den Krieg nach Hause geschickt zu haben. Oder war das nicht der Krieg? Waren die schwarzen Schatten auf der photographischen Platte doch nichts weiter als das, was von einer Blume übrig bleibt, wenn sie der Botaniker als ein welkes Nichts zwischen die Blätter seiner Sammlung einreiht? Viel mehr jedenfalls nicht.

Nein, das war nicht der Krieg. Irgend ein platzendes – lautlos platzendes Artilleriegeschoß, eine auseinanderstiebende Kompagnie, das ist nicht der Krieg.

Tausend platzende Geschosse, das heulende Sausen, das nie aufhörende nervenzermarternde Brummen und Rauschen in der Luft, das helle Krachen zerreißenden Eisens überall, das ist der Krieg. Und dabei das hoffnungslose Gefühl, daß das alles nie, nie wieder aufhören wird, daß das immer so weitergeht bis dahin, wo die Gedanken in irgend etwas Gräßlichem, Grauem, Unfaßbarem, Zusammenschlagendem verdämmern. Diese hüpfenden puffenden Staubwölkchen überall auf der Erde, einschlagende Infanteriegeschosse, die zu kurz gehen, und von denen jedes, jedes … Dieses scheußliche scharfe Singen wie von Mückenschwärmen Sssst, Sssst, das unwirsche Sumsen wie von zornigen Hornissen, die mit dem Kopf gegen eine Fensterscheibe rennen. Klapp! Das traf einen Stein. Baff! Zwei Zoll näher, dann … »Ruhig zielen, langsam feuern!« ruft der Leutnant mit trockener rostiger Stimme. Man zielt ruhig, man feuert langsam, man muß wieder laden. Sssst … Und man bekommt eine Wut, eine so unbändig rasende Wut, daß man immer langsam feuern und ruhig zielen muß. Und das ganze Feld vor dem Schützengraben ist mit glitzernden Infanteriegeschossen bedeckt, auf denen das Sonnenlicht blinkert. Ob das wohl jemals aufhört? Nie hört das auf. Hundert Stunden hat so ein Tag. Zweihundert. Und wenn jeder für sich allein wäre, dann fiele es natürlich keinem ein, hier über den Rand des Grabens zu schießen. Dann säßen sicherlich alle unten im Graben. Aber, da man nicht allein ist, geht das nicht. Ob beim Feinde denn nicht einmal die Munition alle wird? Immer schießt er.

Dieser gräßliche Durst. Die Kehle glüht, der Hals glüht, die Zähne werden stumpf und knirschen mit den Sandkörnern, die einem ins Gesicht spritzen, wenn ganz dicht eine kleine freche Staubwolke aufhüpft. Sssst. Singe singe singe machen die Mücken. Unablässig brummen die Bienen. Diese Himmelhunde da drüben, diese Kerle, diese … Singe singe singe. Nie hört das auf, nie. Da rechts macht einer einen Witz, einige Soldaten lachen. »Ruhig zielen, langsam feuern!« mahnt der Leutnant. Und dabei nichts im Magen, gar nichts. Nicht das geringste. Als heute morgen der Feldküchenwagen kam, schlug hinten in den Verbindungsweg eine Granate ein, aus war's mit dem Küchenwagen. Wie lange ist das schon her! Und die Bienen summen. Batsch! Den Sergeanten hat's. Mitten in die Stirn. Hört denn das nie auf? Nie? Man kaut auf Sand, atmet Sand und glühende dörrende Hitze. Wie Feuer geht es durch die Eingeweide. Und dann dieses gemeine fade Gefühl, diese ekle Flauheit im Magen, wenn man hinter sich die Sanitätsleute herumkriechen fühlt, wie sie wieder einen wegschleppen. Wie gräßlich sieht er aus. Wie schreit er. Man ärgert sich über ihn, wie kann man nur so schreien! So ein Kerl! »Ruhig zielen, langsam feuern!« mahnt der Leutnant. Hüpfende puffende Staubwölkchen. Sand im Munde, Feuer in den Eingeweiden. Immer an Wasser denken, schönes klares eiskaltes Quellwasser, unendlich viel Wasser, Ströme von Wasser … heulendes glühendes Toben und Krachen in der Luft, rasselnder Splitterschlag von oben, bohrende Schmerzen im Hirn und wühlendes Ekelgefühl im Magen und Singe singe singe Sssst Sssst … Singe Singe Singe …

Das ist der Krieg, nicht die Bilder, die sie zu Hause beglotzen all die Menschen, die es gut haben, die Wasser haben, viel Wasser, und die hingehen können, wohin sie wollen, die nicht bleiben müssen, wo die Mücken summen Singe singe singe …

Oberst Katterfeld kniete am Boden des Schützengrabens und betrachtete die Karte von Hilgard. Er markierte mit einem Bleistift auf dem Papier ein paar Stellungen. Daneben unter dem Bretterdach der Blindage hörte er die Soldaten untereinander reden.

»Glaubst Du, daß das alles wegen der Philippinen ist?« sagte der eine.

»Wegen der Philippinen? Unsinn. Das wäre auch so gekommen. Die wollen den Pacific. Wegen der Philippinen brauchten wir hier nicht zu liegen.«

»Nein? Wohl wegen des Imperialismus?«

»Ach, red' doch nicht! Was die Japs wollen, wissen wir doch. Mit oder ohne Imperialismus.«

»Was reden denn die Zeitungen immer von Imperialismus?«

»Die schreiben, wie sie es verstehen. Imperialismus ist, daß wir herrschen wollen, wo die Sterne und Streifen wehen.«

Der Oberst sah in die Blindage hinein. Es war der Sergeant Benting, der so sprach. »Recht so, Benting,« sagte der Oberst, »Imperialismus ist der Wille zur Macht. Imperialismus ist der Höhenblick über Erdteile. Das Volk, das ihn nicht hat, wird nie der Welt Erbe zu eigen gewinnen.«

Dann gab der Oberst Befehl, das Haus rechts der Straße, in das eben ein platzendes Schrapnell Bresche gelegt hatte, und aus dem ein Zug Infanterie herausstob, unter Feuer zu nehmen.

Noch einmal bei Beginn der Dämmerung schwoll der Geschützkampf auf allen Seiten des Schlachtfeldes zu einem wilden Höllenlärm an. Das ganze Tal war in Rauch- und Staubwolken gehüllt, überall fuhren die Feuerblitze und die schwarzen Rauchwolken platzender Geschosse vom Erdboden auf. Dann kam der Abend, langsam ward es stiller. Eine Batterie nach der andern verstummte. Von der Paßhöhe des Gebirges flog der schrille Pfiff einer Lokomotive über das Tal. Und jetzt klang ganz von weit her durch die sternenhelle Nacht der abendliche japanische Hornruf, und von den Berghängen antwortete es ganz leise wie ein traumhaftes Echo, in der tiefen Stille des Schlachtfeldes nach dem wilden Kampfestosen des Tages seltsam zum Herzen sprechend:

Noten

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