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Jenseits des Strudels.

Auf dem Hinterdeck des Ferrybootes, das in der Morgenfrühe des 12. Mai nach Hoboken hinüberfuhr, stand Randolph Taney, die Hände in den Taschen, und sah nachdenklich in das von den Schrauben aufgewühlte gelbe Wasser des Hudson. Aus war es, er hatte verspielt, er hatte in Wall Street auf Harriman gesetzt und hatte verloren. Was Harriman mit einer Milliarde konnte, das konnte Randolph Taney mit einer halben Million nicht. Deshalb hatte er verspielt. Glücklicherweise nur sein eigenes Geld. Jetzt war der ganze Haufen Papiere nicht mehr wert als die Nummer der »Tribune«, die dort unten im wirbelnden Kielwasser des Ferrybootes dahintrieb.

Randolph Taney dachte nach. Was er eigentlich in Hoboken wollte, wußte er nicht; es war ja auch ganz gleichgiltig.

»Hallo, Taney,« rief ihn ein Bekannter an, »wohin?«

»Weiß ich nicht.«

»Weißt Du nicht? Warum nicht?«

»Ich habe verspielt!«

»Verspielt haben viele, Wall Street ist ein gefährlicher Strudel.«

»Ich habe nichts mehr zu strudeln, ich bin schon raus.«

»Raus, wieso?«

»Weißt Du, James Hubert, was ich tun werde?« sagte er dann mit unheimlicher Ironie sich selbst verspottend: »Ich gehe zu einem Buchbinder in die Lehre, da kann ich wenigstens lernen, wie ich mit meinen Eisenbahnaktien jetzt meine Zimmer tapezieren kann. Das bißchen Kleistern wird man ja wohl noch lernen können.«

»Aha, kommt der Wind von der Seite!« pfiff der andere leise durch die Zähne.

»Ja, was sonst?«

»Es war wohl toll?«

»Toll? Es war die Hölle …!«

»Warst Du am Montag in Wall Street?«

»Ja, am Dienstag auch.«

»Und jetzt willst Du tapezieren lernen?«

»Ja.«

»Sag mal, kaprizierst Du Dich darauf, zu tapezieren?«

»Weißt Du etwas anderes?«

»Ja.«

»Nun?«

Hubert tippte auf das oberste Knopfloch an seinem Rock: »Das!«

»Was soll das heißen?«

»Freiwilliger!«

Taney sah den kleinen weißen Knopf mit dem Sternenbanner interessiert an. »Also schon so weit? Letzte Hilfe!« sagte er dann nach einer Pause.

»Letzte Hilfe nicht. Erste Hilfe!«

»Wieso?«

»Lohnt sich jedenfalls besser, als das Tapezieren. Höre mal, Taney, Du spinnst Dich jetzt in Deinen Ärger ein. Viel vernünftiger wäre es, Du nimmst den Springfield über die Schulter und trittst bei uns ein. Da kannst Du wenigstens versuchen, Dein Vermögen zurückzuerobern.«

Der Ferrydampfer schob sich jetzt zwischen die Kaimauern des Landungsplatzes in Hoboken. Beide verließen das Boot.

»Nun, Taney, tapezieren … oder?« und James Hubert deutete auf den Knopf.

»Ich komme mit,« sagte Taney gleichgiltig.

Sie gingen ein paar Schritte am Hafenkai entlang und betraten das Ferryboot nach Governors Island.

»Weißt Du,« sagte Hubert, »drüben habe ich einen Freund, Major beim 8. regulären Regiment, der wird uns schon unterbringen. In vier Wochen kann es an die Front gehen.«

Taney stopfte sich seine Shagpfeife. »In vier Wochen? Gut, ich habe nichts mehr zu ordnen.«

Stumm schauten die beiden hinüber nach Manhattan, wo sich das Häusermeer New Yorks in wuchtigen Terrassen aufbaute. In der Morgenfrische erschienen alle Farbentöne kräftiger und lebhafter. Die himmelanstrebenden Turmpaläste der Empire City, die Wolkenkratzer, die mit ihren massigen Silhouetten das Stadtbild beherrschen. Die vergoldete Kuppel des World Building glitzerte und gleißte im Strahl der Sonne, eine funkelnde Bürgerkrone über der Stätte rastloser Arbeit. Davor die Strombreite des Hudson mit seinem Gewimmel von Ferrybooten, und drüben zwischen den Hafenkais und den niedrigen Warenschuppen die lange Reihe ernster Ozeandampfer, deren eiserne Lungen weiße Dampfwölkchen ausstießen, wenn die Ladekrähne die riesigen Schiffsleiber mit kleinen netten Bissen fütterten.

Hundertmal hatten die beiden Männer das Bild schon gesehen und doch waren sie wieder davon ergriffen.

»Taney,« sagte Hubert, »Randolph Taney, ist das nicht die schönste Stadt der ganzen Welt? Ich habe zweimal die Runde um unseren Erdball gemacht und nie habe ich etwas Größeres gesehen. Das ist unsere Heimat, die zu schützen wir jetzt den Springfield schultern wollen. Alter Junge, laß alles dahinten! Komm mit!«

»Ja, ich komme, sicher, ich komme!« sagte dieser lebhaft. Und sie fuhren nach Governors Island hinaus. Taney trug sich in die Liste ein. Es wurde ihm versprochen, daß er beim Ausmarsch ins Feld schon Leutnant werden sollte.

Zwei Stunden später kehrten sie zurück. Randolph Taney trug jetzt auch den Knopf mit dem Sternenbanner, Freiwilliger der Armee der Vereinigten Staaten.

Auf der Rückfahrt wurde Taney gesprächiger. Er erzählte vom 8. Mai, dem fürchterlichen Tage in Wall Street, wo Milliarden zerflatterten, wo Tausende im Strudel der Börse willenlos umhergeschleudert wurden, wo jeder feste Untergrund des Wirtschaftslebens zu schwinden schien. Er erzählte von den wilden Sturmszenen, wo verzweifelte Finanzleute wie Tollhäusler sich gebärdeten, wo viele bei dem Zusammenbruch den Verstand verloren, wo ein unerbittlicher Kampf um die nackte Existenz ausgefochten wurde, wo um jeden Fußbreit Bodens keuchend gerungen wurde. Wie vor den Wogen der hereinbrechenden Sintflut kämpfte man um jede Klippe, um jede Scholle, um jeden Strohhalm und doch versanken immer neue Opfer in den Fluten. In dem tobenden Handgemenge inmitten des Börsensaales hatte der Generaldirektor einer Eisenbahngesellschaft, ein kleiner hastiger Mann mit zerzaustem Haar und schwitzendem Gesicht, – ein Rockärmel war ihm heruntergerissen und sein Kragen lag ihm wie ein nasser Lappen um den Hals – sich plötzlich auf eine Estrade geschwungen und mit den Gesten eines Predigers wirre Gebete zu sprechen begonnen; andere, zerrüttet von dieser entsetzlichen Nervenanspannung, hatten rohe Gassenhauer gebrüllt.

Hubert, der alles das aus den Zeitungen schon kannte, dem aber die Erzählung des Freundes noch einmal diese grausigen Szenen drastisch vor Augen führte, schauderte. Er sah alle diese vernichteten Existenzen, die der Maalstrom in Wall Street mit sich in die Tiefe gerissen hatte. Er dachte an sein einfaches, schlichtes Leben gegenüber dem gehetzten Dasein dieser Börsenmenschen, die in vollständiger Apathie jetzt die Dinge gehen lassen mußten, wie sie eben gingen. Der reiche, von ihm im Stillen oft beneidete Mann, ärmer als der Schiffsjunge dort neben ihm an der Reeling.

Das Ferryboot wich jetzt scheu zur Seite vor dem brummenden Warnungssignal des Lloyddampfers »Kaiser Wilhelm der Große«, der in majestätischer Fahrt vom Hafenkai in Hoboken hinauslenkte in den breiten Hudsonstrom.

Eben waren die schmetternden Klänge des » star spangled banner« verklungen. Über den dicht mit Passagieren gefüllten Decks fegte ein Wirbel von flatternden Taschentüchern hin, mit denen man den am Lande zurückgebliebenen noch die letzten Grüße zuwinkte. Da setzte die Schiffskapelle von neuem ein, und unter den Klängen: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus …«, dem alten Scheidegruß eines Volkes, das sich noch kein Seemannslied zum Abschied ersonnen hat, und an Bord seiner Ozeanriesen immer noch mit Ränzel und Stab vom Heimatstädtchen Abschied nimmt, rauschte der riesenhoch aufragende Dampfer durch die Wellen dahin, dem Meere entgegen.

»Das sind die Ratten, die das sinkende Schiff verlassen,« sagte Randolph Taney bitter, »von unserer Hochfinanz sind geradezu märchenhafte Preise für einfache Kajütsplätze nach Bremen geboten worden.«

Die Flucht der Heimatlosen hatte begonnen.


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